Was hier Vergessen ist

Wo liegt der Mittel­punkt des neuen Bezir­kes Pankow / Prenz­lauer Berg / Weißen­see? Die Frage nach dem Bezirks-Mittel­punkt ist am wenigs­ten eine geogra­phi­sche Frage. Von Grenz­zu­fäl­lig­kei­ten hängt sie nicht ab.
Da, wo an der stol­zen Kasta­nie Pankow, Prenz­lauer Berg und Weißen­see sich berüh­ren, ist nur ein zufäl­li­ger Ort, eine Stra­ßen­kreu­zung. Mittel­punkte von Stadt­re­gio­nen, denke ich mir, lassen sich über­haupt nicht nach Längen- und Brei­ten­gra­den vermes­sen. Wir suchen Schwer­punkte der Iden­ti­tät, Wesen- und Wesent­lich­kei­ten, die das Quar­tier, den Bezirk, die Stadt­re­gion fest­hal­ten inner­halb dessen, was ist und was nicht verges­sen werden kann: Seelen­ge­wichte der Stadt, welche ihr Masse geben gegen den Wind der Zeiten.

Es ist der 6. Mai. Ein regne­ri­scher Tag. Ich habe sogar einen Schal um, damit der kühle Wind mir nicht in den Nacken pfeift. Die Sonne müht sich aber. Sie will hervor. Der Alte Jüdi­sche Fried­hof ist schon geschlos­sen, das von rück­wärts vermau­erte Back­stein­git­ter ist erfolg­los in der Bildung von David­ster­nen; der Fried­hof, steht drau­ßen, sei eine “Mahnung”: das hilf­lose Wort quält mich; das Gedenk­ta­fel-Geklin­gel, das ein Nie-wieder beschwört, dessen Subjekt nicht gekannt werden will.
Nun sehe ich das Gelände in 134-jähri­ger Vergan­gen­heit. Ein präch­ti­ger Trau­er­zug rückt heran; mit volle­rem Toten­pomp ist nie ein deut­scher Musi­ker zu Grabe gelei­tet worden. Der tote Meyer­beer kommt; er wird heim gelei­tet zu seiner schö­nen Mutter, deren schwarz­braune Jugend­au­gen noch immer leuch­ten von Carl Kret­sch­mars Bild. Giacomo Meyer­beer, ein bedeu­ten­der italie­ni­scher Kompo­nist, ein welt­be­kann­ter fran­zö­si­scher Kompo­nist, ein großer deut­scher Kompo­nist, mit (oder nächst) Mendels­sohn der größte Kompo­nist, den Berlin je hatte; der Trau­er­zug kommt von seinem Berli­ner Haus, Pari­ser Platz 6, an der Oper hatte er verweilt, der Opern­chor hatte gesun­gen: Was Gott tut, das ist wohl­ge­tan.
Ach, über diesen Gott müssen wir uns Gedan­ken machen. Ich bleibe einen Moment stehen, wo die Fried­hofs­mauer an die Brand­mau­ern der Wörther Straße stößt, Kasta­nien ragen stolz herüber, dort in der Nähe ruhen die Beers, die berühm­ten, die schö­nen, die reichen; sie ruhten nicht die ganze Zeit in Ruhe. Und auch heute kommt mir die Ruhe bewacht vor.
Die Wörther Straße führt über den Koll­witz­platz wie durch einen Garten. Der Platz tut so, als könnte er kein Wässer­chen trüben. Es ist noch nicht mal eine Woche her, da hat sich unter Stei­nen und bren­nen­den Reifen hier manches getrübt. Wir wissen nicht warum. Wir wissen zu verges­sen. Eine deut­sche Kunst.
Mit der Tram Nr. 1 bin ich im Nu an der Drei-Bezirke-Kreu­zung an der Ostsee­straße, die im neuen Bezirk nur noch sein wird, was sie ist: ein für Fußgän­ger schwie­ri­ger Verkehrs­kno­ten­punkt.

Ich passiere hinüber in die vertraute Gegend, die jetzt noch Pankow ist; vorbei an Messels anstän­di­gen Häusern durch die Talstraße, rechts bietet sich neu eine “Euro-Küche” an, flim­mernde Sterne auf blauem Grund; in der Spie­ker­mann­straße kommen unter einer bröckeln­den Fassade die Werbe­in­schrif­ten aus verschie­de­nen Zeiten am selben Geschäft zutage: Butter, ff-Wurst­wa­ren, Schreib­ar­ti­kel, Eier. An der Kreu­zung Prenz­lauer Prome­nade / Lang­hans­straße wenig Prome­na­den­haf­tes, manche Laden­ge­schäfte leer, zu vermie­ten, keiner mietet; der brau­sende Verkehr lässt wohl wenig Begeg­nen­des zu. Die Ampel funk­tio­niert nicht; ein alter Fußgän­ger hat es so schwer, hinüber nach Weißen­see zu kommen, dass ihm der Name “Trep­pen­stu­dio” am fassa­den­präch­ti­gen Eckhaus fast ironisch erscheint.
Noch ein paar Schritte und der Stadt­cha­rak­ter ändert sich. So bauten sich um die letzte Jahr­hun­dert­wende die Tischler‑, Glaser‑, Schlosser‑, Baumeis­ter an die Haupt­städ­tisch­keit heran von ihren Rändern, wo die Grund­preise erschwing­lich waren. Ich denke an meinen Groß­va­ter, der auch ein solcher Hand­werks­meis­ter war, 1902 gebaut, auf Schul­den, die schnell abge­tra­gen waren. Später hätte er alles in Asche sinken sehen können. Er hat Glück gehabt. Wir auch.

Über die Goethe­straße, die wahr­haf­tig nichts mit Goethe am Hut hat, komme ich in die Lehder­straße, die an der Grenze entlang­läuft, die es demnächst nicht mehr geben wird. Die Straße ist ein indus­trie­ge­schicht­li­cher Lehr­pfad; links die langen, nied­ri­gen, markt­hal­li­gen Gewer­be­ge­bäude, denen die umfas­sende Inner­lich­keit fehlt, so dass sich Verschie­de­nes heimisch macht. Verfall und mittel­stän­di­sche Aufer­ste­hung. Hinter dem Stra­ßen­zug Greifs­wal­der Straße / Berli­ner Allee heißt die Straße Gürtel­straße: Ich gehe sie bis zu dem klei­nen Fast-Platz, an dem zwischen Neubau und halb­ho­her Gelb-Mauer die Meyer­be­er­straße abzweigt. “Deutsch und deutsch gehört zusam­men” ist unge­lenk ange­sprayt, viel gelen­ker darun­ter: “wie Tod und deut­sches Heer”. Es ist eine unent­schlos­sene Straße. Das Wirk­lichste ist ein Schul­junge im Bayern-Trikot, Nummer 5: Helmer, der den Fußball geschickt zurück­kickt in den Schul­hof.
Rechts biege ich nun in die Herbert-Baum-Straße ein. Die Straße steigt unter den Kasta­nien an und fällt wieder ein biss­chen ab, so dass der Weg zum Großen Jüdi­schen Fried­hof ist wie das Anstei­gen über die Terras­sen nach Sans­souci. Die Kasta­nien in stol­zer Blüte schaf­fen über dem brei­ten Bürger­steig ein lich­tes Dunkel. Das Eckhaus an der Goun­od­straße nimmt die Farbe des Fried­hofs-Eingangs auf und über­treibt sie. Das schwis­ter­li­che Haus an der ande­ren Ecke ist zurück­hal­tend wie die folgende Fassa­den­reihe; die Häuser schei­nen zu wissen, wo sie stehen. Der letzte Kompo­nist vor dem Fried­hof ist Puccini. Puccini und Meyer­beer soll­ten tauschen, denke ich. Die Esse des anleh­nen­den Indus­trie­ge­bäu­des erscheint mir vor dem Fried­hof der Juden, ach, der ganzen Berli­ner Juden­heit, fast zynisch. Oder symbo­lisch, denk­mä­le­risch; der Schorn­stein ist erlo­schen. Die Seelen fahren nicht mehr in Rauch auf.

Jetzt stehe ich wieder unter freiem Himmel. Ein klarer Eindruck von: durchs Dunkel zum Licht. Das Dunkel ist würdig, das Licht ist einfach. Die Vögel singen. Die Stadt ist fern. Am Mittel­tor vier gefasste und strenge Verbots­schil­der. Video­über­wa­chung. Graue Wolken ziehen auf. Kein Wetter für Mai. Der Markus-Reich-Platz, Stra­ßen­ende, Fried­hofs­be­ginn, liegt jetzt abends zwischen den Zeiten. Wer nichts weiß, der kann die Stim­mung märchen­haft finden. Alles, was hier Verges­sen ist, ist Verdrän­gen.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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1 Kommentar

  1. Hallo!
    Vielen Dank für diesen gelun­ge­nen Arti­kel. Tolle Impulse, ich habe wieder etwas gelernt. Ich freue mich auf weitere Arti­kel von Ihnen!

    Herz­li­che Grüße,
    Simon

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