Morgenlicht und langer Schatten

Ich bin zwar kein rich­ti­ger Berli­ner, aber wenn ich den Jahr­tau­send­wech­sel hier erlebe, dann werde ich vier­zig Jahre in Berlin gelebt haben. Es gibt viele Berli­ner dieser Gene­ra­tion, die den größ­ten und — wie sie glau­ben — wich­tigs­ten Teil ihres Lebens in Berlin verbracht, aber doch weite Teile der Stadt während­des­sen nicht kennen gelernt haben. Das ist zunächst — wie ein bestimm­ter Teil der Berli­ner viel­leicht sagen würde — der Mauer geschul­det. In Mauer­zei­ten gab es gewisse Stadt­kar­ten von Berlin, auf denen war West­ber­lin eine weiße Fläche wie das Innere des Kongo, als Stan­ley losfuhr, nur dass man eben damals nicht losfah­ren konnte. Darin ist Berlin ziem­lich einma­lig: im Fremd-Sein bei sich zu Hause. Aber die Metro­po­lis­ten sind über­haupt geneigt, ihren Alltag zu verklei­nern und ganze Bezirke einfach aus ihrem Alltags­in­ter­esse zu strei­chen. Hohen­schön­hau­sen ist ein solcher Streich­be­zirk.

In vielen Berlin-Büchern kommt von Hohen­schön­hau­sen gerade mal die Dorf­kir­che vor, die über­all — wer weiß ob es stimmt — als die klei­neste Berlins bezeich­net wird, und das ist es dann. Nein, demge­gen­über bleibe ich dabei: Wer Hohen­schön­hau­sen nicht kennt, der kennt Berlin nicht. Die Metro­pole ist, wie sie ist, und nicht wie die Bücher sie zusam­men­schrei­ben aus Lehr­buch-Inter­esse.
Ich weiß also, warum ich an diesem Früh­herbst­mor­gen meine Wande­run­gen durch Hohen­schön­hau­sen mit der Große-Leege-Straße beginne. Von meiner Wohnung in Halen­see brau­che ich mit S4, S1 und Tram Nummer 5 rund fünf­zig Minu­ten bis zur Sandi­no­st­raße. 1934 hat Somoza, der Dikta­tor Nica­ra­guas, Augusto Cesar Sandino ermor­den lassen. Er ist so lange tot, denke ich, wie ich gelebt habe. Früher hieß die Straße nach märki­schen Raub­rit­tern, ein Adels­ge­schlecht nannte sich die Lüde­ritz, nach denen hieß die Straße länger als 70 Jahre. Da ist mir Sandino — obwohl er doch mit der Gegend hier rein gar nichts zu tun hat — lieber.

Die Große-Leege-Straße beginnt an einem — sagen wir: — unüber­leg­ten Platz. Nord­ost­wärts führt sie zu der Wohn­sied­lung, deret­we­gen ich heute vor allem komme. Zwischen Große-Leege-Straße, Simon-Boli­var-Straße, Goeck­straße und Straus­ber­ger Platz liegen die Haus­zei­len, deren Reno­vie­rung die Gewo­bag gerade abge­schlos­sen hat. Ein denk­mal­wür­di­ges und denk­mal­ge­schütz­tes Ensem­ble: Die Fluss­pferd­hof-Sied­lung. Projek­tiert 1931/32, gebaut 1935 bis ’36. Bauträ­ger damals der Eigen­tü­mer von heute: die Gewo­bag, 1930 von der demo­kra­ti­schen Reichs­re­gie­rung als ein “Organ der staat­li­chen Wohnungs­bau-Poli­tik” gegrün­det. Die Archi­tek­ten heißen Mebes und Emme­rich. Star-Archi­tek­ten des deut­schen und vor allem des Berli­ner Wohnungs­baus. Die Reichs­for­schungs-Sied­lung in Hasel­horst — zum Beispiel sie — wenige Jahre vorher errich­tet, sieht fast genauso aus wie diese Hohen­schön­hau­ser Anlage. Als hier gebaut wurde, war Mebes von den Nazis bereits aus der Akade­mie der Künste raus­ge­ekelt worden, damit Speer für ihn rein­kam. Ich kenne ein Bild, das zeigt das nun wieder so schön herge­stellte Lauben­gang­haus mit dem Fahnen­mast inmit­ten, im Winde weht das Haken­kreuz.
Und es gibt Autoren, die die Fluss­pferd­hof-Sied­lung auf ihre nazis­ti­schen Momente unter­su­chen. Die könn­ten sie dann in den Bauten von Mebes und Emme­rich aus den 20er Jahren in Steglitz und Hasel­horst und im Wedding auch finden. “Der Zusam­men­hang zwischen hoher Bevöl­ke­rungs­dichte und linkem Wähler­po­ten­zial ist bekannt”, schrei­ben Geist und Kürvers, die Topp-Theo­re­ti­ker des Berli­ner Miets­hau­ses: Auflo­cke­rung und Glie­de­rung der Groß­stadt haben in der NS-Stadt­pla­nung zwei Gründe: Herstel­lung “kontrol­lier­ter Volks­ge­mein­schaft” und, paral­lel zur gleich­zei­tig betrie­be­nen Aufrüs­tung, “Luft­schutz”. Da muss man mit den Begrif­fen und Verglei­chen vorsich­tig sein. Es gibt auch Theo­re­ti­ker, die aus dem, was in der Weima­rer Repu­blik modern war, hier also: der “neuen Sach­lich­keit” — sagen wir — der aufge­reih­ten und ange­tre­te­nen Balkone, auf den Nazis­mus und spätere Dikta­tur­for­men schlie­ßen: Die Menschen unter Kontrolle haben, die Stadt so einrich­ten, dass man nicht in ihr verschwin­den kann; das Wich­tigste in diesen Zeiten, hat Brecht gesagt, sind Wohnun­gen mit zwei Ausgän­gen.
Das sind so Gedan­ken, die kann man nicht zu Ende denken, während man durch die Stra­ßen und über die Höfe, hier: die erneu­er­ten und gepfleg­ten Gewo­bag-Höfe, wandert. 1933: So viele unun­ter­stützte Arbeits­lose wie nie, der christ­li­che Reichs­kanz­ler Brüning hatte die Repu­blik von Weimar kaputt gespart; das war die Zeit, als Mebes und Emme­rich die Klein- und Billig­woh­nun­gen hier errich­te­ten. Archi­tek­to­nisch und bautech­nisch waren das Spit­zen­leis­tun­gen. Schön, dass man es jetzt wieder sieht.

Die Große-Leege-Straße ist ein rich­ti­ger Quer­schnitt durch die Wohn­bau­ge­schichte Berlins. Je weiter ich nach Norden komme, umso stär­ker denke ich das. Also zuerst der Namens­ge­ber, ein Jurist, Julius Große-Leege, ein Mann des [vor]vorigen Jahr­hun­derts. Zusam­men mit Henry Suer­mondt, dem Bankier, und Fedor Goecke, seinem Vertre­ter, betrieb er eine Speku­la­ti­ons-Gesell­schaft, die das Gebiet des Ritter­gu­tes Hohen­schön­hau­sen erschloss. Dann eben die 30er Jahre. Dann die DDR-Bauten. Dann die heuti­gen. Hier in der Straße des juris­ti­schen Speku­lan­ten sehen wir das Alte, Verfal­lene, dort das Erneu­erte und Neue.
Das Rathaus ist eine Plat­ten­scheibe, von dem die Farbe schwarz abblät­tert. Dort resi­diert die schöne Bürger­meis­te­rin, die hier in Kreuz­berg wohnt, und die sich viel­leicht auch jeden Tag bei der Anfahrt in ihren Bezirk durch die Schat­ten der Geschichte ihre Gedan­ken macht.
Das Lokal, in dem ich am Ende der Straße meinen Spazier­gang heute beende, nennt sich “die erste Tropf­stein­höhle Berlins”. Liba­ne­sen betrei­ben es auf italie­ni­sche Weise.
In der ersten Zeit nach der Wende sollen die Menschen bis auf die Straße ange­stan­den haben für einen Platz. Heute am frühen Mittag bin ich mit Turi ganz allein. Wir blicken hinab auf die Ecke Konrad-Wolf‑, Suermondt‑, Haupt­straße, wo Berlin so aussieht, als sei es immer zu sich unter­wegs.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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