Schwerter und Pflugscharen

Das Stadt­drei­eck, das sich auf der Hypo­te­nuse Münz­straße mit den Seiten Alte Schön­hau­ser und Almstadt­straße bis zum Rosa-Luxem­burg-Platz erhebt, Max-Beer-Straße und Schen­del­gasse kreuz­weise inmit­ten, empfehle ich zur Auf- und Abwan­de­rung an einem Sonn­abend-Vormit­tag, der in einen sonni­gen, ruhi­gen Nach­mit­tag über­geht. Und zum Nach­den­ken viel­leicht folgen­den Text:

“Sind die Menschen von der Natur abge­wi­chen; wann sind sie denn davon abge­wi­chen? Als sie Häuser oder als sie Schiffe erbau­ten; als sie die Schrift oder als sie Male­rei und Musik erfan­den?
Warum empfand der, welcher das erste Eisen schmie­dete, das einst Menschen töten sollte, nicht einen gehei­men Schau­der, der ihn warnte, dies gefähr­li­che Werk­zeug zu voll­enden?
Sobald das Eisen geschmie­det war, konnte es zum Pflug­schar oder zum Schwert gebraucht werden. Vorher fand keine Wahl statt; jetzt musste der Mensch zwischen Guten und Bösen wählen, und er bestand nicht in der Probe.”

Ich bin aus Tier­gar­ten kommend am Hacke­schen Markt ausge­stie­gen, die Dirck­sen­straße ostwärts gegan­gen, vorüber an den Eber­eschen der Roch­straße, die noch in roten Beeren stehen und der Straße etwas Heim­lich-Kunst­ge­werb­li­ches geben, das ganz fort ist, wenn man nach­her an der ande­ren Seite, von der Münz­straße her, die Roch­straße südwärts blickt und der ICE silber-rot vorüber­schnurrt.
Das schöne Haus am Beginn der Rosa-Luxem­burg-Straße, die ich nun das kleine Stück aufwärts gehe, um die Münz­straße an ihrem Anfang zu errei­chen, ist das letzte Bauwerk des U‑Bahn-Baumeis­ters Gren­an­der, einem Mann schwe­di­scher Herkunft, aber doch von A bis Z Berlin.
Wer auf diesem Wege die Münz­straße besucht, geht — wenn er unter­des­sen Hunger hat — am besten gleich in den “Tauben­schlag”. Hacke­pe­ter­stulle mit Zwie­beln, ein Berg von Hacke­pe­ter und ein Berg von Zwie­beln auf den beiden Broten und saure Gurken. Ich verzehre diese Brote und beob­achte das Auto-Hin-und-Her in der Münz­straße, die eine Durch­gangs­straße gewor­den ist, in der die Musen nicht verwei­len — wenn einer denkt: Musen brau­chen vor allem Ruhe (was ich durch­aus nicht denke): Am Plat­ten­bau gegen­über, Nr. 7, als ob man im Bezirks­amt auf Ironie aus wäre, hat man vor ein paar Tagen aus KPM-Porzel­lan eine “Berli­ner Gedenk­ta­fel” ange­bracht für Karl Phil­ipp Moritz.
Als er — noch keine vier­zig Jahre alt — nicht in diesem Haus, aber wohl an diesem geogra­fi­schen Ort starb, war er Profes­sor für irgend­was Ästhe­ti­sches an der Akade­mie der Künste. Ein Buch von ihm wird in einem Atem­zug genannt mit Goethes “Dich­tung und Wahr­heit”, aber auch das liest heute niemand, den Pädago­gen nicht dazu zwin­gen, und tun sie es über­haupt? Karl Phil­ipp Moritz: “Anton Reiser. Ein psycho­lo­gi­scher Roman. Berlin 1785–1790”. Oben ein Stück von den “Frag­men­ten aus dem Tage­buch eines Geis­ter­se­hers”. Den Autor nennt die weiße Porzel­lan-Tafel an Nr. 7 einen “Vermitt­ler zwischen Aufklä­rung und Roman­tik”. Diese Formu­lie­rung hat sich ein Lite­ra­tur­pro­fes­sor ausge­dacht, denke ich. Viel­leicht weiß er, was er genau damit sagen will. Moritz war subver­siv. Jetzt ist er einge­weckt in die Konser­ven­do­sen der Lite­ra­tur­ge­schichte.

Die Gegend, Münz­straße und drum­herum, ist jetzt ziem­lich keim­frei. Vor sech­zig Jahren haben Nazis, Deut­sche wie du und ich, jüdi­schen Geschäf­ten hier die Schei­ben einge­schmis­sen und ortho­do­xen Juden die Bärte ausge­ris­sen.
“Mein Vater wurde 1942 verschleppt”, erzählt unsere Freun­din Eva-Maria Koneffke aus der Schen­del­gasse, “1945 befreit, starb aber schon in den 50er Jahren an den Folgen der KZ-Haft.” Da konnte er noch von Glück sagen, muss Bitter­keit kommen­tie­ren, dass er nicht durch einen Schorn­stein aufge­fah­ren ist und seine Asche hinab­ge­sun­ken auf den Grund der Weich­sel, Ausch­witz.
Scheu­nen­vier­tel, arme Juden aus dem Osten, Betstu­ben, koschere Flei­sche­reien, Klein­tier­han­del, beste Back­wa­ren, Verbre­cher, Nutten, Kommu­nis­ten, Deutsch­land, Berlin. Nr. 10 war die Münze, Fried­rich der Große hatte sie bauen lassen, heute “Bier­stube Münz­straße”, stumpfe Schei­ben, geschlos­sen, zu vermie­ten.
An der Ecke Almstadt­straße ein Desi­gner-Möbel­ge­schäft mit Schi­cki-Micki-Schnick-Schnack, die nörd­li­chen Eckhäu­ser an der Max-Beer-Straße eben­falls erneu­ert, Nr. 21 steht immer noch dunkel und mäch­tig da, als hätte es noch was in sich von dem alten Zedlitz­schen Palais, das der auch verges­sene Aufklä­rer Nico­lai brüs­tend beschreibt mit seinen Flügeln, Gärten und Pracht­sä­len.

Der enge Platz, den die Alte Schönhauser‑, Wein­meis­ter- und Münz­straße bilden, für Autos, Tram, U‑Bahn und uns, ist ein Berli­ner Zentral­ort. Wer sich hier ein halbes Stünd­chen an das Stra­ßen­git­ter lehnt und einfach das Hin-und-Her beob­ach­tet, der lernt in drei­ßig Minu­ten viel von Berlin. Wenn ich nur genau sagen könnte: was!
Jetzt ist es Sonn­abend — wie gesagt -, mittags zwei Uhr vorbei, die Geschäfte haben geschlos­sen, ich gehe die Alte Schön­hau­ser Straße aufwärts, verweile an der Ecke Stein­straße, um den Verwit­te­rungs­zu­stand der Stadt zu studie­ren, ein dicker Vater schlurft vorbei, in Turn­hose und Schlapp­schu­hen, das Kind unwil­lig an der Hand, das eifrig plap­pernd eine Aufmerk­sam­keit zu erlan­gen versucht, die ihm der Alte mürrisch verwei­gert.
“Das Pflan­zen­reich gibt dem Menschen Nahrung und Klei­dung, das Tier­reich gibt dem Menschen Nahrung und Klei­dung, der Mensch zerstört das Tier­reich und das Pflan­zen­reich.” Dann zerstört der Mensch, “diese wunder­bare Verket­tung der Dinge”, sich selbst, darauf hat er wütende Lust.

Rot und gelb sind die Marki­sen des Café Döblin. Eine freund­li­che junge Frau bringt mir Milch­kaf­fee. Die Tram saust regel­mä­ßig vorüber, dann gewinnt das glatte Grün der Drau­ßen-Tische im spie­geln­den Kana­ri­en­gelb der Tram sekun­den­lang eine schil­lernde Bedeu­tung.
Die kleine wilde Birke auf dem vergrün­ten, enthaus­ten Eckgrund­stück gegen­über wird keine große Birke werden. Der Frie­den, den die Menschen jetzt noch mit ihr halten, ist rein juris­tisch: Eigen­tums­fra­gen sind nicht geklärt, Kredit­si­cher­hei­ten fehlen; sobald die gericht­li­chen Siegel gesetzt und die bank­üb­li­chen Signa­tu­ren gezeich­net sind, ist die Birke tot. Einen Augen­blick lang habe ich den irra­tio­na­len Wunsch: Könnte dieser Ort nicht so blei­ben, wie er jetzt ist?
Daran erkenne ich, dass ich alt bin: Die Zeit anhal­ten, zum Augen­bli­cke sagen: verweile doch … Das ist dann der letzte Augen­blick. Nur solange wir jeder­zeit Gegen­wart in Vergan­gen­heit verwan­deln, haben wir Zukunft.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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