Das Rostocker Pogrom

Bis heute habe ich vor Augen, was vor 30 Jahren, im August 1992, in Rostock geschah. Es war wie eine Zeitreise zum 9. November 1938, als der Pöbel jüdische Läden zerstörte und auf die Jagd nach dem „unwerten Leben“ ging.
Damals war ich noch in der Autonomen Antifa und entsprechend gut vernetzt. Seit Tagen erhielten wir von Freunden aus Rostock Nachrichten, dass sich im Stadtteil Lichtenhagen etwas zusammenbraute. Sie baten um Unterstützung, aber nur wenige fuhren hin. Zu oft gab es damals in Mecklenburg-Vorpommern oder der Brandenburger Provinz Übergriffe von Neonazis auf Linke und Flüchtlinge, als dass man jedes Mal hätte helfen können. In Rostock aber steigerte es sich seit Tagen, es gab organisierte Angriffe auf Asiaten, Afrikaner und Roma. Viele der Flüchtlinge mussten mitten im Wohnviertel unter freiem Himmel kampieren, weil die Heime überfüllt waren.

Dann kam der entscheidende Anruf eines befreundeten Antifaschisten: „Organisierte Neonazis aus Hamburg versuchen das Zentrale Aufnahmelager zu stürmen, mit Knüppeln, Steinen und Brandflaschen. Die Polizei tut nichts, es besteht Lebensgefahr für die Bewohner.“ Tatsächlich war die Polizei in der Nacht zuvor schon mal gegen die Angreifer vorgegangen, hat sich dann nach massiver Gegenwehr aber zurückgezogen. Dafür hat sie später eine Gruppe junger Rostocker Antifaschisten festgenommen, die sich dem Pöbel entgegengestellt haben.

Wir telefonierten herum, um genügend Leute und Fahrzeuge zu finden. Wir brauchten Knüppel, Helme und Funkgeräte, denn Handys hatten wir damals ja noch nicht. Es kam innerhalb einer Stunde ein kleiner Haufen zusammen, mehr als 20 waren wir nicht. In fünf oder sechs Autos machten wir uns Richtung Norden auf den Weg. Kurz vor Rostock gab es noch ein kurzes gemeinsames Treffen, das recht ätzend war: Die meisten freuten sich auf die kommenden Prügeleien, sie protzten mit ihren Knüppeln herum und machten entsprechende Sprüche. In meinem Auto waren wir zu fünft, wir waren alle in der gleichen Antifagruppe. Keine Schläger, wenn auch gezwungenermaßen mit Gewalterfahrung. Manchmal geht es eben nicht anders, wenn man sich den Faschisten direkt in den Weg stellen will. Ängstlich und zitternd waren wir aber jedes Mal, aber nie vorher oder danach so schlimm wie an diesem Abend. Ich war froh, dass meine Freunde nicht so großmäulig waren wie die anderen.

Um nicht aufzufallen, fuhren wir nicht im Konvoi nach Lichtenhagen, sondern jeweils mit etwas Abstand, so dass wir uns gerade noch so im Auge behalten konnten. Auf der Zufahrtstraße mussten wir einen Kreisverkehr passieren, dort standen mehrere Polizeiwagen, aber sie kontrollierten niemanden. So konnten wir ungestört in das Neubaughetto fahren, in dem auch das Lager stand: Ein 11-geschossiger Plattenbau. An der Zufahrt zum Block sahen wir Blaulicht. Aber auch hier war die Polizei nicht aktiv, sie sperrte lediglich die Zufahrt für Autos.
Wir verteilten uns auf einem großen Parkplatz ein paar hundert Meter vom Wohnheim entfernt. Ständig zogen johlende Leute an uns vorbei zum Heim, Jugendliche, aber auch viele Erwachsene. Die wenigsten sahen aus wie Nazis, es waren anscheinend ganz normale Leute aus dem Stadtteil. Um die Situation abzuchecken, gingen wir in Fünfergruppen zum Lager.

Was ich dort erlebte, war ein Schock. 500 bis 1000 Menschen standen davor und brüllten Parolen wie „Ausländer raus“ und „Deutschland den Deutschen“. Ständig flogen Steine in die Scheiben des Hauses. Und Molotow-Cocktails. Mehrere Räume brannten schon, aus einigen Fenstern schlugen Flammen. Ich hoffte nur, dass sich von dort alle rechtzeitig retten konnten. Glücklicherweise war es ein sehr hohes Gebäude, so dass die mehr als hundert Bewohner in die oberen Etagen flüchten konnten. Manchmal konnte man dort einzelne Köpfe sehen.
Draußen herrschte Pogromstimmung. Es waren nicht nur die Sprechchöre, sondern die ganze aufgeheizte Atmosphäre. Ich fühlte mich nach 1938 zurückversetzt, Reichspogromnacht, die Jagd auf die, die anders sind und viele schrien dazu Hurra. Diejenigen, die dagegen waren, die blieben still. So war es auch in Lichtenhagen. Jede zertrümmerte Fensterscheibe wurde beklatscht. Wenn wieder ein Brandsatz an der Fassade zerschellte und hell aufflammte, wurde es von hunderten Menschen bejubelt. Die Jugendlichen waren nicht allein, ganze Familien standen davor und feierten das grausame Schauspiel. Nicht auszudenken was passiert wäre, wenn sie die Flüchtlinge in die Finger gekriegt hätten. Es hätte Tote gegeben, das war völlig klar.

Und auch wir mussten aufpassen, um nicht als Antifaschisten erkannt zu werden, wir wären ebenfalls angegriffen und sicher schwer verletzt worden. Zwei Jungs aus „meiner“ Gruppe waren Punks, sie hatten sich auf der Fahrt nach Rostock ihre bunten Haare abgeschnitten, weil klar war, dass sie neutral aussehen müssen. Das war eine gute Entscheidung, auch wenn es ihnen schwer gefallen war und sie Ihre Haare zur Erinnerung aufgehoben haben. So aber konnten wir uns unerkannt bewegen.
In dieser Meute fühlten wir uns natürlich mies. Und es war klar, dass wir viel zu wenige waren, um uns vor Ort dem Pöbel entgegen zu stellen. Wir berieten uns mit den anderen und einer machte den Vorschlag, sich die Rädelsführer zu schnappen. Also teilten wir uns wieder auf und gingen so nah an die aktivsten Angreifer ran, wie möglich. Natürlich waren es vor allem die organisierten Neonazis, die mit Brandflaschen warfen. Wir merkten uns einige besonders Eifrige und als drei von ihnen weg gingen, folgten wir ihnen.

Wir hatten uns in mehrere Gruppen aufgeteilt und wie üblich in solchen Situationen unauffällige Namen gegeben. So konnte man sich gegenseitig rufen, ohne dass es auffiel. Diesmal hatten wir uns Städtenamen aus Meck-Pomm gegeben, wir fünf waren die Gruppe Doberan. Und Doberan folgte nun drei Leuten in grünen Bomberjacken, einer mit dem Aufnäher „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“ und der Reichskriegsflagge. Sie gingen genau zu „unserem“ Parkplatz, wo  sie den Kofferraum eines Autos öffneten. Das war für uns die Gelegenheit, leise gingen wir auf sie zu, rissen sie zu Boden. Wir traten mit Füßen auf sie ein, und wer sich wehrte, den schlugen wir mit Knüppeln. Alle drei wurden verletzt, wenn auch nicht schwer, aber es sollte ihnen ja auch weh tun. Nach einer Minute gaben sie auf. Wir durchsuchten sie und nahmen ihnen die Ausweise ab um ihnen klarzumachen, dass wir nun ihre Identität kennen.
Im Kofferraum des Autos standen nochmal rund zehn Molotow-Cocktails. Wir holten sie raus und zertrümmerten sie direkt hinter dem Auto auf dem Boden. Einer von uns schnappte sich den offensichtlichen Anführer der Drei und schrie ihm ins Gesicht, dass sie sich am Wohnheim nicht mehr blicken lassen sollten, sonst würden sie nicht mehr so leicht davon kommen. Wir ließen sie ziehen, vorher musste aber der eine seine rechtsradikalen Aufnäher von der Jacke reißen.

Schon damals war Gewalt für mich ätzend. Aber mir war klar, dass es in einer solchen Ausnahmesituation darauf ankam, nicht wehrlos zu sein. Zwar hatten wir in diesem Fall angegriffen, aber es war, um sie an weiteren Brandstiftungen und Angriffen zu hindern. Ich weiß noch, wie ich zitternd in der Nacht auf dem Parkplatz stand, aber nachdem, was wir kurz vorher am Wohnheim gesehen hatten, fühlte ich eine richtige Genugtuung.

Wir gingen wieder zurück und wie schon vorher mussten wir auf dem Weg an einem Polizeiwagen vorbei, dessen Besatzung außen am Auto lehnte und plauderte, als wäre es ein ganz normaler Abend. Genau in dem Moment als wir an ihm vorbei kamen, fiel einem meiner Freunde der Knüppel runter, der unter der Jacke verborgen war. Die Polizisten sahen das genau – und lachten. Einer wackelte mit dem Zeigefinger, dann wandte er sich wieder den anderen beiden zu. Natürlich waren sie davon ausgegangen, dass wir zu der brüllenden Germanenhorde gehören würden, und sie fanden es ganz offensichtlich in Ordnung, dass wir da bewaffnet hingehen. Noch deutlicher konnte uns nicht vor Augen geführt werden, dass wir selber etwas machen müssen, dass die Polizei nicht eingreifen wird, um die Angriffe zu beenden. Später haben wir dann erfahren, dass die Polizei nicht mal der Feuerwehr zur Hilfe gekommen ist, die die brennenden Wohnungen löschen wollte. Nachdem auch die Feuerwehrleute angegriffen wurden, mussten sie wieder abziehen.

Noch zweimal folgten wir in dieser Nacht einigen Rädelsführern, wenn sie das Gelände verließen und ein Angriff auf sie günstig erschien. Einer zog sofort ein Messer, mit dem er im Eifer des Gefechts aber seinen Kumpel verletzte. Drei von uns wurden leicht verletzt, unter anderem durch einen Schlagring, ansonsten aber war die Gruppe Doberan recht erfolgreich in dieser Nacht. Aber natürlich konnten wir die Angriffe nicht stoppen, doch es gab einige Leute weniger, die aktiv beteiligt waren. Und auch die anderen Gruppen bewirkten nicht wirklich viel. Eine von ihnen hatte drei PKWs der Hamburger Neonazis entdeckt und sie völlig zerstört. Eine andere legte in einem Jugendclub Feuer, der von den örtlichen Neonazis als Treffpunkt genutzt wird. Der Klub brannte aus und nachdem die Feuerwehr gelöscht hatte, lagen draußen mehrere angekokelte Reichskriegsflaggen. Es hatte nicht die Falschen getroffen.

Irgendwann in der Nacht konnten wir nicht mehr. Wir zogen uns zurück zum verabredeten Treffpunkt, wo nach und nach auch alle anderen Gruppen ankamen. Auch von denen waren mehrere verletzt, aber niemand schwer. Wir beschlossen, auf einem verlassenen Campingplatz zu übernachten und am kommenden Tag zu entscheiden, was wir weiter machen.

Als wir dann nach Lichtenhagen zurück kamen, wurde das Wohnheim evakuiert. Gleichzeitig kamen immer mehr Leute aus Berlin und Hamburg an sie wollten dort demonstrieren. Meinen Freunden und mir war das zu viel und während sich die „Doberaner“ auf den Weg nach Berlin machten, blieben die anderen noch da. Abends erfuhren wir, dass die Rostocker Polizei sehr wohl durchgreifen kann, wenn sie denn will: Die Hälfte der antifaschistischen Demonstranten war verhaftet worden.

Die Erlebnisse von Rostock, aber auch von Hoyerswerda und Mannheim, wo es damals ähnliche rassistische Ausschreitungen gab, haben mir gezeigt, dass die Gefahr neuer Pogrome nicht vorbei ist. Über die Gründe, die zum Ausbruch solcher Exzesse führen, kann man spekulieren. In Rostock waren es sicher auch Frust und Verlustängste in der Bevölkerung, die aus normalen Menschen eine solch widerliche Masse werden ließ, die wohl auch geklatscht und gegröhlt hätte, wenn denn Flüchtlinge getötet worden wären. Ich gehe seitdem davon aus, dass das immer wieder passieren kann. Im ach so weltoffenen Deutschland kann es auch wieder zu Pogromen kommen, in dieser oder ähnlicher Form. Das ist keine Befürchtung, sondern meine Überzeugung.
Ich war froh, dass wir damals wenigstens für diesen Abend nach Rostock gefahren sind und uns nicht nur empört vor den Fernseher gesetzt haben. Alles was ich damals getan habe, kann ich auch heute noch verteidigen.

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https://www.youtube.com/watch?v=3d55lApFuiU


Dieser Artikel erschien zuerst am 2. August 2012

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7 Kommentare

  1. Ich war damals defiitiv zu jung, ich war einer von denen, die sich von ihren Eltern zu Lichterketten haben mitschleifen lassen. Was damals wirklich passierte, was das bedeutete, war mir natürlich nicht wirklich bekannt.

    So „unsinnig“ und gewalttätig eure Aktionen damals auch waren – im Nachhinein komme ich nicht umher, euch zu danken.

    Wäre all das ein paar Jahre später passiert, hätten wir uns sicher in Lichtenhagen getroffen und ich würde derartige Aktionen wie Du immer noch verteidigen.

    Es ist schwer abzuschätzen, aber vielleicht habt ihr wirklich (noch) schlimmeres verhindert.

  2. mal in echt, was hast du eigentlich gegen gewalt in der auseinandersetzung mit diesem pack, und letzendlich auch diesem staat?! du kennst doch offensichtlich die regeln und den gegner; da is doch nix mit höflichkeit & ritterlichkeit.
    kannste mir ja mal als pm schicken …

  3. @ mime
    Falls Du mich meinst: Ich habe etwas gegen die Gewalt in der politischen Auseinandersetzung. Das ist einer der Gründe, bei denen ich mich von den Faschisten unterscheide. Natürlich darf man Nazipropaganda usw. nicht hinnehmen, aber sie sind für mich kein Grund, gleich zuzuschlagen. Wie ich schon geschrieben habe kenne ich das alles aus jahrelanger eigener Erfahrung. Und ich will nicht sein wie sie! Für mich sind auch Nazis trotzdem noch Menschen, egal wieviel Scheiße sie in ihrem Kopf haben.

    Dass das nicht für solche Auseinandersetzungen wie in Rostock gilt, ist klar. Da muss man eben seine Hemmungen überwinden, denn da ging es um die körperliche Unversehrtheit und sogar Menschenleben.
    Leider bin ich mit meinen Freunden damals auch bei den Autonomen Antifas auf Unverständnis gestoßen. In einigen grundlegenden Punkten unterscheiden sie sich leider nicht von den Neonazis.

  4. @aro
    Seitdem ich in deinem interessanten Blog lese freue ich mich immer wieder über deine Einstellung zur Gewalt gegenüber anders Denkenden und den Grenzen der Gewaltlosigkeit. Das ist über die Zeit auch meine Einstellung geworden und ich bin froh, das bestätigt zu sehen.

  5. @ jens
    Der Mensch an sich ist ja nicht gewaltfrei. Sonst düften wir z.B. auch kein Fleisch essen, denn die Kühe und Hühner werden ja geschlachtet und sterben nicht bei Unfällen oder so.
    In der politischen Auseinandersetzung aber hat Gewalt nichts zu suchen und darin unterscheide ich mich von meinen damaligen Freunden, Genossen, wie auch immer. Man wird niemandem seine Meinung einprügeln können, das ist doch klar. In den meisten Fällen dient die politische Gewalt doch nur der Selbstbefriedigung.

    Aber in bestimmten Situationen finde ich es auch wichtig, wehrhaft zu sein. Vor sehr vielen Jahren habe ich mit einer Überlebenden des Faschismus‘ gesprochen, die beklagt hat, dass sich die Juden praktisch nicht gegen ihre Vernichtung gewehrt haben. Wahrscheinlich hätte es keinen großen Unterschied in der Zahl der Opfer gemacht, trotzdem wurde es nur in wenigen Fälle überhaupt versucht. „Wir waren Schlachtlämmer und haben uns entsprechend verhalten“, sagte sie mehrmals.
    Aber in solchen Extremsituationen ist es eben etwas anderes, da sind andere Mittel gefragt und die tun eben weh. Manchmal auch einem selber.
    Oder man läuft einfach nur weg.

  6. Gewalt ist immer eine Alternative aus der Sicht der Handelnden. Das ist ein Fazit des
    analytisch guten (den Leser deprimierenden) Buches „Klimakriege“ von Harald Welzer.
    Unter anderem analysiert er die Entstehung und Rechtfertigung von Gewalt anhand des Kriege in Vietnam, Darfur, Ruanda, an Hitlerdeutschland und noch einigen anderen Beispielen.

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