Winter 1980

Kottbusser Tor, Bahnsteig der Linie 1. Wie immer stehe ich an der Tür, um notfalls gleich wegrennen zu können. Der Notfall besteht aus zwei, drei, manchmal aber auch zehn Kontrolleuren, meist älteren Männern, die selten weiter als 20 Meter durchhalten. Aber auf dem Bahnsteig steht keine blaue Uniform, Entwarnung. Nur David sitzt auf einer Bank. Er ist etwas jünger als ich, 14 oder 15 Jahre alt, und sozusagen ein Kollege. Während er hier in Kreuzberg auf den Strich geht, stehe ich meistens am Zoo. Am Kotti anschaffen zu gehen wäre blöd, weil ich meinen Freiern im Alltag nicht begegnen möchte. Normalerweise steht David draußen, aber jetzt ist es so schweinekalt, da ist selbst der windige Bahnsteig etwas angenehmer. Oder er steht am Moritzplatz, vor den Toiletten im U-Bahnhof.
Treppe hoch, ich laufe den stinkenden Weg zum Ausgang und oben gleich in den riesigen Kaiser’s-Supermarkt. In der Gegend gibt es nur Kaiser’s am Kottbusser Tor und einen Plus-Markt am Oranienplatz. Beide haben Hausdetektive und Kameras, man muss sehr vorsichtig sein.

Im Winter habe ich meistens meine Klau-Jacke an, die ist aus Filz, schwarz und hat zwei große Taschen in den Innenseiten. Dort passt eine Menge rein, ohne das man von außen etwas sieht. Dafür sehe ich schon beim Betreten einen der Detektive. Es ist ein hässlicher Typ, vielleicht 30 Jahre, Halbglatze und Schnurrbart. Und einen ekligen Blick, der ihn schon von Weitem als schlechten Menschen verrät, jedenfalls in meinen Augen. Einmal hat er einen Freund von mir kontrolliert und weil der nichts in seinen Taschen hatte, steckte er ihm eine Dose Kaviar zu, die er dann „fand“. Als wenn man Kaviar klauen würde, wenn man Hunger hat!
Jedenfalls heftet er sich gleich an mich ran, so auffällig, dass es wohl jeder im Laden mitkriegt. An Klauen ist nicht zu denken, bis er plötzlich verschwindet. Ich sehe noch, wie er zum Ausgang rennt, wahrscheinlich hat dort einer seiner Kollegen Probleme.
Also nutze ich die Gelegenheit und gehe in die Schuh-Ecke. Meine Schuhe sind so kaputt, da fließt mehr Wasser durch als durch den Landwehrkanal. In den Regalen ist nicht viel Auswahl, aber trotzdem ein passendes Paar zu finden, ist nicht schwer. Ich bin ja nicht so anspruchsvoll. Dann noch mal umschauen – keiner zu sehen. Die alten Schuhe aus, die neuen an, vorher noch das Preisschild ab, fertig. Sie passen gut und ich gehe wie ein normaler Kunde los. Nur ein Gang weiter wartet aber Frau Zimmermann. Sie ist die Mutter meines Schulfreunds Ralphi und arbeitet hier als Verkäuferin. Ohne mich anzuschauen sagt sie: „Andi, stell die Schuhe zurück, sie beobachten dich!“ Als ich den Laden verlassen will, werde ich tatsächlich kontrolliert, aber meine Taschen sind leer und an den Füßen hängen nur meine alten Treter. Danke, Frau Zimmermann!

Die Straßen sind dreckig, ich steige über den zusammengeschobenen Schnee, der teilweise einen Meter hoch liegt, grau bis schwarz. Unter der Hochbahn hindurch gehe ich zum Anfang der Reichenberger Straße. An der Ecke zur Kottbusser Straße hat Anni ihren Imbiss. Sie ist eine resolute, aber liebe Frau, niemals würde ich sie betrügen oder beklauen. Die Curry kostet 90 Pfennig mit Brötchen und wenn ich ihr eine Mark gebe, ist der Rest Trinkgeld. Dann immer das gleiche Ritual: Sie steckt den Groschen in das Gummisparschwein, drückt es dabei und pfeift eine kurze Melodie. Anni erzählt, dass sie bald wegziehen soll von ihrem Stammplatz. Hier sollen die gleichen Hochhäuser gebaut werden, wie schon auf der anderen Seite vom Kotti, groß und unpersönlich. Eine riesige Fläche wurde schon freigemacht, im Hintergrund steht ein Abrisskran, die Kugel liegt vor ihm im Sand. Hier hat sie schon ganze Arbeit geleistet. Nach und nach werden alle Altbauten plattgemacht und bald soll es überall so aussehen wie in der Gropiusstadt. Um das zu verhindern werden seit einem Jahr Häuser besetzt, aber noch viel zu wenig. Auch ich wohne ja in einem, in der Oranienstraße.
Nochmal überquere ich den Kotti. Neben der Dönerbude am U-Bahn-Ausgang Adalbertstraße gibt es neuerdings einen Obst- und Gemüsestand. Diese Stände mit ihren Auslagen sind sehr sozial, wenn auch nicht beabsichtigt: Man kann sich schnell einen Apfel oder eine Gurke greifen und wegrennen oder mit dem Fahrrad abhauen. Besser aber ist es, vorsichtig etwas verschwinden zu lassen, damit der Verkäufer nichts merkt und einen später nicht wiedererkennt. Schnell stecke ich zwei Mandarinen ein, als der türkische Mann gerade zur Seite schaut. Dabei kommen aber die anderen ins Rutschen, ein paar rollen nach vorn und fallen runter. Beim Aufheben kann ich noch zwei weitere einstecken, fette Beute. Niemand hat etwas gemerkt.
Rechts in der Bücherei gibt es gleich am Eingang eine Toilette. Hier kann ich mich mal richtig waschen, denn bei uns im Haus gibt es nur kaltes Wasser. Quer über die Adalbertstraße spannt sich das Hochhaus „Neues Kreuzberger Zentrum – NKZ“. Schrecklicher Name, passend zum Haus. Obwohl noch ziemlich neu ist es doch schon total schmutzig. Vielleicht, weil hier alles schnell dreckig wird. An die Wand hat jemand gesprüht: „Schade daß Beton nicht brennt“.

Unter dem Haus hindurch kommt man direkt in den Kiez. In meinen Kiez. Zwar ist hier auch alles Grau in Grau, aber doch ist darin Leben, also Farbe. Es riecht nach dem Qualm aus den vielen Öfen der Altbauten. Saubere Zentralheizungen gibt es da drin ja nicht und bei manchem Wetter wird der Rauch der Braunkohle nach unten gedrückt. Er legt sich auf die Hausfassaden, die Schneehaufen und in unsere Lungen. Da kann man sich wenigstens das Rauchen sparen, Lungenkrebs gibt’s gratis. Den Fassaden macht der Dreck nichts aus. Er versiegelt sie vielleicht noch, denn viele von ihnen haben ja kaum noch Putz. Viele Menschen finden das hässlich, ich aber sehe darin etwas anderes: Es ist heimisch, vertraut und strahlt auch in der Januarkälte eine gewisse Wärme aus.
Gleich das erste Haus auf der rechten Seite kenne ich gut. Als es im vergangenen Juni besetzt wurde, war ich mit dabei. Nachts sind wir von hinten eingebrochen, haben die Transparente rausgehängt und sind wieder raus. Als die Polizei die Besetzung bemerkt, das Haus aber nicht gestürmt hat, haben wir es auch ganz real besetzt, nicht nur zum Schein. Aber ich wohne dort nicht, habe nur in den ersten Tagen geholfen.
Direkt gegenüber ist eines der wenigen Kellergeschäfte, die es noch gibt, ein Zeitungsladen. Die Verkäuferin Frau Helbig schaut da von unten aus ihrem Fenster nach oben, zum Bezahlen muss man sich nach unten bücken. Rechts und links und auch über dem Fenster sind die Wände mit Zeitungen und Illustrierten behängt. Bunte, Praline, B.Z., National-Zeitung, Hurriyet. Hier kriegt man aber auch einzelne Briefumschläge, gleich mit Marke, Anmeldeformulare für die Polizei und ganz wichtig – Eddings. Frau Helbig grüßt mich schon mit „Hallo Andi 80!“ und lacht. Woher weiß sie, welchen Namen ich überall hin schreibe? „Der Gerd hat mir das erzählt, bei dem du immer deine Sprühdosen klaust.“ Wieder mal habe ich das Gefühl, in einem Dorf zu leben.
In der Adalbertstraße habe ich sonst nicht viel zu tun. Hinter der Oranien ist noch der Jodelkeller, wo sich immer die Rocker von Phoenix treffen. Und ein Dönerimbiss, in dem nachts im Fernsehen Splattervideos laufen. Da weiß man gleich, woher das Dönerfleisch wirklich stammt. Und rechts um die Ecke wohnt Rio Reiser.

Ich gehe aber links in die Oranienstraße, unsere Kiez-Hauptstraße. Das zweite Haus fehlt, aber im Hofgebäude, einer ehemaligen Fabrik, werden die großen Etagen gerade umgebaut. Hier kommen Jugend-WGs rein, „betreutes Wohnen“, damit die Jugendlichen nicht mehr in einem Heim leben müssen. Mein süßer Freund Niko wird einer der ersten sein, die dort einziehen. Ich freue mich schon darauf, sie mit ihm in seinem Bett einzuweihen!
Gleich nebenan ist Kacza, der Farbenladen, bei dem ich meine Sprühdosen kaufe, wenn ich mal Geld habe. Und manchmal auch eine, zwei kostenlos mitgehen lasse. Sonst fahre ich zu einem Baumarkt in Charlottenburg, wo man sie auch ganz gut klauen kann. Und Sprühdosen brauche ich einfach, mit ihnen verbreite ich mein „ANDI 80“ an fast jedes Haus!
Gegenüber von Kacza ist die Freibank, das ist eine Fleischerei, in der es vor allem Pferdefleisch gibt. Das ist viel billiger als das „normale“ vom Rind oder Schwein. Ab und zu kaufe ich mit da ein paar Würste. Wenn man den Laden betritt, ist das sehr merkwürdig. Zwar werden die Viecher nicht dort geschlachtet, aber es riecht so und man sieht auch viel Blut. Irgendwie spürt man den Tod darin, es ist kein angenehmer Ort.
Ein Haus weiter dann Boenicke. Das ist eine kleine Ladenkette, die Zigarren und Waffen verkauft, allerdings interessieren mich die Zigarren weniger. Beliebt sind vor allem die Butterflymesser und natürlich auch die Springmesser: Man hält sie cool in der Hand, drückt auf einen Knopf und vorn oder von der Seite springt die Klinge heraus. Nicht wirklich zu gebrauchen im Alltag, aber super zum Angeben!

Auf der anderen Straßenseite wohnt Martha, eine typische Berliner Pflanze. Sie ist schon über 70 Jahre alt und hat einen widerlichen Sohn, der sie ständig terrorisiert. Aber sie ist trotzdem immer fröhlich und ihre gute Laune steckt mich regelmäßig an. Martha gehört zu den vielen Frauen, deren Männer im Krieg gestorben sind und die dann ihre Kinder irgendwie durch die Nachkriegsjahre gekriegt haben. Ihre Tochter ist allerdings als Kleinkind gestorben, an Tuberkulose. Ich wünschte mir, es hätte stattdessen den Sohn getroffen, dann könnte Martha jetzt wenigstens in Ruhe leben. Manchmal gehe ich sie auch mit einem Freund besuchen, mit Deniz. Der ist 17 und erst vor zwei Jahren aus der Türkei nach Deutschland gekommen. In ihn bin ich gerade ziemlich verliebt und manchmal besucht er mich in meinem kalten Zimmer. Dann liegen wir unter meinen drei Decken und wärmen uns mit viel Zärtlichkeiten. Martha ist eine der wenigen, die von unserer Beziehung wissen, sie sagt immer: „Passt bloß auf, meine Kleinen, damit euch niemand sieht. Es gibt so viele schlechte Menschen da draußen, nicht dass euch noch was passiert.“

Auf meinem Weg nach Hause muss ich noch über den Oranienplatz. Der ist ziemlich ätzend, die großen Rasenflächen tonnenweise vollgekackt, und an der Endhaltestelle vom 19er und 29er Bus stehen die BVG’ler und pöbeln Menschen wie mich an: „Wasch dir mal die Haare!“, „Geh doch rüber, scheiß Hippie“ oder auch „Vergasen sollte man euch Typen“. Wenn man allein ist und sich gegen die Sprüche wehrt, kann es auch passieren, dass sie sogar auf einen einschlagen. Heute ist es ihnen aber wohl zu kalt, sie kommen nicht aus ihren Bussen raus.
Jetzt habe ich es nicht mehr weit, auf der rechten Seite kommt gleich die Hausnummer 44. Vorher habe ich in der 45 gewohnt, ebenfalls ein besetztes Haus. Das waren hauptsächlich Studenten, vor allem aus Westdeutschland oder Zehlendorf, die sich für was Besseres halten. Morgens früh aufstehen, Arbeitsplan machen, alles durchorganisieren. Und jeder muss genauso viel in die Hauskasse tun, egal ob er Geld hat oder nicht. Dass ich meinen Anteil stattdessen in Naturalien bezahlen wollte, also z.B. Werkzeug, Kabel oder Rohre irgendwo organisiere, das haben sie nicht akzeptiert. Mir war das alles viel zu spießig, da hätte ich ja gleich wieder zu meinem Vater ziehen können.

Im Nebenhaus sind die Leute nicht so drauf, da wird nur das Nötigste gemacht und ansonsten organisiert jeder sein Leben selber. Deshalb habe ich da jetzt eine ganze Etage zusammen mit Adrian. Er ist ein etwas seltsamer Vogel, also ganz ok.
In zwei Zimmern regnet es rein und deshalb waren die Dielen dort völlig vermodert. Wir haben die rausgerissen, Erde besorgt und darin Kartoffeln und Cannabis angepflanzt. Aber jetzt, mitten im Winter, wächst da natürlich nichts.
Strom gibt es nicht, sonst könnten wir bei uns sogar Heizlüfter benutzen. Ansonsten ist das aber nicht so schlimm, nur dass wir eben kein elektrisches Licht haben. Dafür aber Baustellenlampen. Da ist unten Öl drin und oben unter einer Glashaube ein Docht. Diese Lampen sind nicht sehr hell und stinken ziemlich, aber wenigstens spenden sie etwas Licht.
Echt übel ist, dass die Hauseigentümer alle Öfen zertrümmert haben. Der Gasherd in der Küche aber funktioniert noch und so haben wir die dünne Zwischenwand rausgerissen und heizen die Bude nun mit dem Gasherd. Warm wird es damit zwar nicht, aber wenigstens ein paar Grad über Null. Es passt auch zu meinem derzeitigen Leben. Überleben ohne Luxus – es könnte natürlich besser sein, aber auch viel schlechter. Was will ich also mehr, ich bin ganz zufrieden.

Andi 80

Foto aus dem Film „Das Ende des Regenbogens“

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