Die Tonband-Piraten – Musikindustrie am Ende?

Nicht erst in diesen Tagen tun Unterhaltungskonzerne so, als ob durch die MP3-Downloads im Internet das Ende ihrer Tage gekommen sei. Das Ganze gab es auch schon vor 35 Jahren. Auszüge aus einem Spiegel-Artikel vom 1977:
Die Musikbranche feiert den 100. Geburtstag des Tonträgers und wagt sich nicht einzugestehen, dass das „Jahrhundert der Schallplatte“ zu Ende geht. Erstmals werden mehr Tonband-Kassetten als Schallplatten verkauft. Vor allem die Leerkassette stellt die Musikfirmen vor kaum lösbare Probleme. Sie verlieren durch Überspielungen pro Jahr eine Milliarde Mark.
Edisons Erfindung, die mechanische Schallaufzeichnung, hat den Musikmachern in aller Welt Milliarden eingebracht. Doch mehr als die Hälfte der Musik, die heute weltweit auf Tonträgern verkauft wird, ist nicht mehr in Edisons Rillen geritzt. Das elektromagnetische Tonband überflügelt die Schallplatte zunehmend am Markt. In handlichen Kassetten (zehn mal sechs Zentimeter groß) aufgespult, hat das Band die Platte als Top-Tonträger abgelöst.
Erstmals wurden im Jahr 1976 mehr Bandkassetten als Langspielplatten (LP) abgesetzt – teils als bereits bespielte „Musikkassetten“ (MC), teils als Leerkassetten, die den Konsument selber mit Klängen füllt. In westdeutschen Bürgerhaushalten stehen schon heute annähernd so viele Kassetten-Recorder wie Plattenspieler. Und zunehmend wird elektronisch aufgerüstet: 1976 verkaufte die Elektroindustrie in Westdeutschland noch 2,1 Millionen Plattenspieler, davon allerdings 1,5 Millionen in „Kompaktanlagen“ zusammen mit Kassettengeräten. Daneben aber wurden mehr als drei Millionen reine Kassettenmaschinen abgesetzt – sogenannte Radio-Recorder und, mit steigender Tendenz, hochwertige Hi-Fi-Tape-Decks.
Teenager von gestern, die aufgrund geringen Taschengelds bis vor kurzem Funksendungen auf Billig-Recordern mitschnitten oder ausgeliehene LPs kopierten, bleiben auch als kaufkräftige Twens dem Kassettensystem treu. Denn die von Philips vor 14 Jahren entwickelte Technik der Kompaktkassette ist längst der Platten-Technologie ebenbürtig. Die Kassette tönt knisterfrei an jedem Ort und in jeder Lage – über Schlaglöchern im Kraftfahrzeug, auf dem Campingplatz wie im Kinderzimmer. Sie ist in ihrer Kapsel vor Sonne, Staub und Stoß geschützt. Das Band kann in modernen Abspielgeräten nicht mehr gezerrt werden; es ist nahezu unbegrenzt nutzbar.
Die Tonträger-Industrie, die sich gegenüber der Kassette lange gesperrt hat, ist mittlerweile von den technischen Vorzügen des neuen Mediums überzeugt.  Sie bringt, von Ausnahmen mit geringer Umsatzerwartung abgesehen, seit kurzem so gut wie jedes neue Tonprodukt zugleich auf LP und MC heraus. Denn auch der Hauptvorbehalt des Vertriebs, die kleinformatige Kassette biete zu wenig Werbefläche, wird durch Präsentboxen – bis zu sechs MCs mit Begleittext in einer buchähnlichen Hülle – überrollt.
Die Plattenfürsten wissen, dass die Fertigung, die Lagerung und der Vertrieb der Musikkassetten billiger und damit profitabler als das Schallplatten-Business sind. Dennoch gelten die größeren Werbeanstrengungen dem alten Medium. In den letzten drei Jahren investierten nämlich allein vier westdeutsche Musikfirmen einige hundert Millionen Mark in die Plattenproduktion. Und die Millionen müssen wieder rein: Darum klebt die Branche an der Platte.
Schon einmal, bei der Umstellung von der zerbrechlichen Schellack-Scheibe mit 78 Umdrehungen pro Minute auf die unzerbrechliche 33er PVC-Longplay, leistete die notorisch konservative Musikindustrie verbissen Widerstand. Einige Jahre weigerten sich die Top-Manager von Weltfirmen wie RCA und EMI, die LP anzuerkennen, nur weil sie bangten, auf Bergen von unverkäuflichen Schellacks sitzen zu bleiben.

Jetzt, mit der in Massen gefertigten Kompaktkassette, tritt die Tonaufzeichnung ins elektronische Zeitalter ein. Die Auswirkungen für die Freizeitkultur, für Musikproduktion und Musikgeschäft, sind noch unübersehbar. Denn erstmals in der Geschichte ist der Klangkonsument von der Handelsware relativ unabhängig. Mit der Kompaktkassette bestimmt er sein eigenes Programm.
Fast unbegrenzt kann die „MusiCasette“ (so die Branchen-Schreibweise) bespielt werden – mit bis zu zwei Stunden Spieldauer pro Band. Und die Musik kommt aus der Luft. Ein Knopfdruck am Radio-Recorder, und schon ist ein Schlager aus dem Äther auf der Kassette für lange verfügbar. Ein Klang-Supermarkt zum Nulltarif: Leichter war das Mitschneiden noch nie. In westdeutschen Schulklassen ist es zur Regel geworden, nur noch eine einzige Platte zu kaufen, die sämtliche Schüler kopieren. In Tageszeitungen bieten Recorder-Amateure bereits an, jedwede Kassetten-Überspielung gegen geringes Entgelt vorzunehmen.
Branchenkenner schätzen, dass in der Bundesrepublik rund 10.000 gewerbsmäßige Schwarzkopierer den Tonträgermarkt unterlaufen. Vor allem aber Tonband-Piraten, namentlich in Italien, haben mit Billigangeboten in Millionenauflage 1976 die westdeutschen Tonträger-Firmen um ihre Rendite gebracht. Mehr als eine Milliarde Mark ging der deutschen Musikbranche im vergangenen Jahr durch Leerkassetten und Piraterie verloren.
Das hat für die Musik-Szene fatale Folgen. Solange Komponisten, Texter, Verleger und Plattenfirmen mit Schlagern, Jazz, Rock und Klassik Geld verdienen, kann neue Musik produziert werden. Versiegt der Verkauf von bespielten Kassetten und Schallplatten, weil der Konsument allen Schall aus dem Äther umsonst konservieren kann, sind keine Mittel für Neuaufnahmen mehr da.

Die Offensive der Leerkassette hat indes erst begonnen. In den Elektroniklabors werden neue Bandlegierungen und Aufnahmetechniken erprobt, die das Kassettensystem der Schallplatte nicht nur ebenbürtig, sondern weit überlegen machen werden.
In diesem Jahr noch bringen die Firmen MCA und Philips in den USA Geräte auf den Markt, in denen Bildplatten berührungsfrei durch einen Laserstrahl abgetastet werden. Eine versiegelte Schutzschicht macht diese Video-Longplay (VLP) möglich.
Auf der Kassette übertragen wird das Laser-System (LACS) die bisherige Abspieltechnik revolutionieren. Und immer mehr Leerkassetten kommen auf den Markt. Eine klanglose Zukunft ist das Menetekel. Wenn die Musikindustrie ihre wirtschaftlichen Probleme heute und morgen nicht zu lösen vermag, wird es übermorgen bei aller Super-Technik kaum mehr produzierte Musik geben, die überspielt werden kann.

 

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3 Kommentare

  1. Die von der Musikindustrie geäußerten Befürchtungen klingen wirklich sehr nach denen in der aktuellen Diskussion… Die Zeiten ändern sich, die Technik im Hintergrund ändert sich auch, aber die Menschen bleiben doch ziemlich gleich. Dabei lässt sich doch auch mit dem jeweils neuen Geld verdienen, sofern man es richtig anstellt. Ich jedenfalls habe überhaupt kein Problem mehr damit, für einen Download zu bezahlen, sofern der Kauf einfach geht, die Datei dann auch auf all meinen Geräten abspielbar ist und ich nicht zur Anmeldung den Passierschein A38 benötige. Und wenn man die Kosten für Herstellung, Vertrieb und Rücknahme unverkaufter physischer Tonträger mit einberechnet, kann ich mir auch nicht vorstellen, dass man als Anbieter an einem Lied für 99 Cent signifikant weniger verdient als an einer Single für ein paar Euro.

  2. „Die Offensive der Leerkassette…“ Der Artikel entstand vor knapp 6 Jahren. Die erwähnte Offensive kam m.W. nicht wirklich voran.
    Ich wollte neulich mal wieder eine meiner gut 20 Jahre alten MCs abspielen, da gab es nur Bandsalat weil das Trägermaterial so gealtert ist. Für Tips wie ein abhören bzw. überspielen möglich ist, bin ich dankbar.

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