Das Wasser des Lebens

Am Vorabend, als ich im Kammermusiksaal saß, das Ensemble Modern hörte und mich zu Musik von Anton Weber fragte: was ist nun die Moderne, woraus besteht sie, von wann dauert sie, ist sie nun zu Ende und wir sind in der Postmoderne angekommen, in diesem Augenblick, als die hübsche Sängerin sang: Ihr großen Städte / Steinern aufgebaut / In der Ebene, freute ich mich auf den Vormittag, der nach diesem Abend folgen und an dem ich nach Friedrichshagen fahren würde.
Das war dann der erste Frühlingstag des Jahres, die Bistroiers stellten die ersten Stühle nach draußen und die Berliner hielten ihre Nasen in die laue Luft. Vor den Blumenständen auf der Bölschestraße sahen die Blumen aus, wie hier gewachsen. Erst sah ich eine, dann mehrere Frauen, die nach etwas Besonderem aussahen: ich konnte mir vorstellen, wie ihre schönen Friedrichshagener Zimmer geschmückt wären. In der Rahnsdorfer Straße (oder ist es noch die Aßmann-, in die ich gleich hinter der Christopherus-Kirche – „spätgotisch“, 1901-03, von Jürgen Kröger erbaut – eingebogen bin?) gibt es einen Kunst- und daneben einen Jalousienladen, der unter anderem ein Faltmuster anbietet, das nach Karajan heißt, in der Mitte dick, nach oben und unten dünn; ich sah ein studienrätlich gekleidetes Paar hinein gehen, erblickte das Bücherregal vor geistigen Auge, zu dessen Sonnenschutz sie jetzt eine Jalousie bestellen würde: Bobrowski, der Friedrichshagener Nachbar von vorgestern, auf den Brettern, sicher auch Günter de Bruyn, Christa Wolf, Grass, Walser, die alten In-Leute; vorgestern ist aus der „Billigen Wissenschaftlichen Reihe“ der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft die Insel Jubiläums-Ausgabe von Goethe angekommen; ja, die Studienrätlichen – es hätte auch Wolfgang Thierse selbst sein können mit Ehefrau, den Kanon im Bewusstsein und schnell auf den politischen Lippen dessen, was „man“ lesen muss; Staatsminister Naumann (SPD) liest jeden Morgen vor der Arbeit fünf Gedichte; ich sage: das sind vier zu viel, ein Gedicht jeden Tag, das ist vielleicht ein Programm.

„An solchen Bemerkungen“, sagt meine Lebensfreundin, „erkennt man gegen den Wind: du bist auch so ein älterer Sozialdemokrat“, bildungsbeflissen, wir wissen kulturell, was sich gehört, Wissen ist Macht!
„Das wollen wir jetzt mal nicht lächerlich machen!“, sagt sie, während wir vor Nummer 23, Rahnsdorfer Straße stehen bleiben. Hier also, in diesem ungeputzten Haus, soll Otto Wels gewohnt haben; vielleicht stimmt es nicht; das Haus sieht nicht nach Parteivorsitzendem aus. Gelernt hatte Otto Wels Tapezierer; ich weiß nicht, ob er Tapeziermeister war. Mein Großvater, fast so alt wie der Reichstags-Abgeordnete, war auch Handwerksmeister; Handwerksmeister war für ihn das Höchste; gesagt hat er’s nicht, aber wir gingen alle davon aus (und ich eigentlich noch bis heute). Hierher könnte man also die Schulklassen führen: hier hat der letzte SPD-Vorsitzende der ersten deutschen Republik gewohnt, der am 23. März 1933 in der Krolloper, dem abgebrannten Reichstag gegenüber, Adolf Hitler widersprach, als einziger, die Bürger, Theodor Heuss z.B., der spätere Bundespräsident, stimmten für Hitler; die meisten kommunistischen Abgeordneten waren verhaftet, nur die SPD sagte nein … So könnte man sprechen, aber das Heldenlied passt nicht; die SPD hatte schwer versagt, Otto Wels, der Vorsitzende, hatte die Zeichen der Zeit ganz falsch gedeutet, was ist Mut wert, wenn er zu spät kommt? Eine lange Geschichte; die rechte SPD hat die Republik von Weimar auf eine andere Weise verteidigt, die sie zerstört hat; diese ordentlichen Handwerksmeister waren einfach zu ordentlich, nicht revolutionär genug, zu viel Goethe, zu viel Friedrichshagen… Ich gehe die Flakenseestraße schräg hinunter.

Das tollste Gebäude von Friedrichshagen, ein Gebäude-Ensemble, ist natürlich am Müggelseedamm das Wasserwerk. 1888 („Drei-Kaiser-Jahr“) bis 1893 gebaut, 1902 bis 1906 auf Grundwasser-Versorgung umgestellt … aussehend wie aus dem Mittelalter-Baukasten, „märkische Gotik“, aber innerlich Top-Technik, modern in der Form der Prä-Moderne, die sich jetzt, in den Zeiten der Post-Moderne, wieder als altertümlich gibt: was anderes scheinen wollen, als man ist. Ein Teil des Wasserwerks ist jetzt Wasserwerk-Museum, vorgebend, dass alles vorbei sei, der Alltag verkleidet in ein „Damals war’s“: in der Museumshalle langweilen sich die Kinder, für die die Eltern gerade keine andere Alternative wussten. Kinder gehören nicht in Museen, sage ich Euch: Kinder müssen nicht die Vergangenheit lernen, die sogenannte Geschichte, sondern die Gegenwart, ach, wir können sie nicht lehren, weil wir sie selbst schlecht begreifen. Bölsches sind wir nicht, wollen wir nicht sein.

Ich, ein alter Mann nun, habe von Wilhelm Bölsche noch eine Einigermaßen-Vorstellung: was das Volk sonst überhaupt nicht verstanden hätte, das erläuterte Bölsche ihm; seit 1887 – gerade zu Beginn der Wasserwerk-Zeit – in Berlin: „Das Liebesleben in der Natur“ 1898, „Vom Bazillus zum Affenmenschen“ 1899, solche Wissens- und Bildungs-Beiträge schrieb er, volkstümlich, in der Veranda über’m Müggelsee, Müggelseedamm 254. 1901: „Hinter der Weltstadt“, Friedrichshagen, die kulturbedrohende Weltstadt am Horizont, wir hier am glitzernden Wasser, als ob es der Lago Maggiore wäre. Dort warte ich jetzt auf die Tram Nr. 60, diese Köpenicker Schaubahn, Wasserwerk Müggelseedamm bis S-Bahnhof Adlershof; eine tollere Querschnittsbahn gibt’s ja gar nicht. Aus welchen Vergangenheiten besteht die Gegenwart? Bölsche, Wels, Richard Schultze, der Wasserwerks-Baumeister, Henry Gill, der das Alltagswasser für Berlin beschaffte: das Wasser des Lebens – wie tief ist der Brunnen der Vergangenheit, aus dem wir’s beziehen?
Ich will nicht philosophisch werden, aber eines kann man sagen: In Friedrichshagen kann man an einem glitzernden Sonnabend und in Wirklichkeit an jedem Tag in einem schwachen Stündchen lernen – ohne dass man eigentlich ein Lerngefühl hat -, dass man unter den möglichen Vergangenheiten die passende aussuchen muss, wenn man die Gegenwart bestehen will.
Fallt bloß nicht auf die Wahrheit herein!

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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