1.230 Flaschen Tivolibier, 120 Flaschen Sodawasser, 30 Flaschen Bordeaux, 3 Filets, 2 Schock Eier, 1 Butterfass, 1 Zuckerhut, 1 Baumkuchen, 6 Flaschen Scharlachberger und 1 Dutzend Flaschen Champagner. Diese “durch Zahl oder Gewicht beeindruckenden Quantitäten” kamen an Bord und dazu noch über 100 Kleinigkeiten, z.B. Muskatnuss und Salbeiblätter für Aal und Schleie.
Das war in Köpenick am 7. Juli 1874, als Theodor Fontane an Bord der “Sphinx” ging, um 2 Tage über den Müggelsee und die wendische Spree zu segeln. Wer das Schreibestück, das er danach in der deutschen Literatur abgegeben hat, im letzten Band der “Wanderungen” liest, der kann schnell eine Menge über die Wirkungen von 125 Jahren Berliner Geschichte lernen, wenn er den Weg nach Köpenick, von dem Fontane lakonisch sagt “zu Wasser”, ebenfalls zu Wasser zurücklegt. Ab zum Beispiel — wie wir an diesem Mittwoch — vom Hafen am S‑Bahnhof Treptower Park (dahinter gehört bereits ein berlinisches Ausrufezeichen: Hafen am S‑Bahnhof!) zu Rübezahl; Abfahrtszeit an dieser maritimen städtischen Spitzenstelle, die in ihrer Hafen- und Nichthafenhaftigkeit ohnehin ein berlinisches Muss ist — 15 h. Die “Sachsen” sieht schon eine Viertelstunde vor der Zeit so aus, als wolle sie jeden Augenblick ablegen.
“Hoffentlich ham Sies passend!”, fragt der Bootsmann streng, denn wir haben unsere Karten nicht am Kartenhäuschen gekauft und müssen ihn nun bitten, unsere dreimal dreizehnfünfzig für “einfach” entgegenzunehmen. Wir werden akzeptiert und dürfen aufhören, uns unregelmäßig zu fühlen.
Jagusch findet die Spree ein bisschen obszön. Das Gefühl habe ich überhaupt nicht. Vor der Oberbaumbrücke finde ich sie bräsig, die Stadt hinnehmend, wie eine Mutter ihre Kinder, wenn sie sie nicht ganz versteht. Hinter der Oberbaum‑, jedenfalls hinter der Elsenbrücke kommt ein neuer Anfang des Flusses, weiße Neubauten gegenüber, auf deren Balkons Leute stehen wie du und ich, die jedes Mal aus tiefer Brust aufstöhnen können, wenn sie an Sommertagen die weiße Stern- und Kreisflotte liegen und fahren sehen. Seit einiger Zeit ist sogar das blau-gelbe schwedische Wasserflugzeug hier stationiert, das wir im Sommer so oft über dem Berliner Himmel sehen, voller Freude, dass man uns begucken will, bloß weil wir da sind. Aber dann hinter der Insel der Jugend — oder liegt das bloß an den Empfindungen, die das Wort “Jugend” bei denen auslöst, deren Jugend vorbei ist? — kommt es mir vor, als sei die Spree traurig. Es liegt so viel Gewesenes am Rand.
Dass die Geschichte — aber ist sie es wirklich? — ein solch undifferenzierter Plattmacher ist … selbst wenn es so sein müsste, glaubt man doch — wenn man sich nicht ganz streng zusammennimmt, was man auf Bootsfahrten eben naturgemäß nicht tut -, dass es auch anders hätte sein können. Die schönen weißen Neubauten, die an mehreren Stellen dicht am Wasser liegen und die uns sagen, dass die Spree jetzt bewohnt und nicht mehr bewirtschaftet wird, helfen gegen die Vergangenheitsgedanken nichts, wenn sie mal eine melancholische Richtung eingeschlagen haben, jedenfalls nicht in der kurzen Zeit, die Gefühle auf einer solche Stern- und Kreis-Fahrt nur zur Entwicklung haben. Vor Stubenrauch- und Treskowbrücke müssen wir zu Aktivitäten übergehen: “aufgrund der geringen Höhe der Brücken” reicht es nicht, dass wir uns tief bücken, wir müssen das Oberdeck überhaupt räumen.
“Das war doch früher nicht so”, sagt die junge Frau zum befehlenden Bootsmann.
“Solang ett dies Schiff hier gibt und die Spree und Berlin , könn Sie hier oben nich sitzen, sobald diese Brücken kommen!”
“Aber ich saß oben…”
“Auf’m andern Schiff vielleicht. Auf so’m kleinen Kahn. Auf der Sachsen nich!”
Die gewesene Industrielandschaft links stammt meist von der AEG, von der es heute kaum noch den Namen gibt. Mit eigenem Bootshaus für den eigenen Ruderverein. Daran fahren wir jetzt vorbei. Das Haus ist von Peter Behrens, der für die AEG alles entworfen hat, was es zu entwerfen gab, von der Turbinenhalle bis zur Büroklammer. Der erste große Designer.
Nun biegen wir schon bei Spindlersfeld um die Ecke. Aus Treptow nach Köpenick, das uns — sobald wir um die Ecke an der Gutenbergstraße mit der ganz kleinteiligen Hausgartenanlage herum sind — seine schönste Altstadt-Silhouette zeigt. Da ist man wieder leicht in Gefahr, eine alte Stadt mit ihrer Altstadt zu identifizieren. Es gibt eine Neigung, das Alte, das älter ist als unsere Großeltern (deren Geburtsdaten wir schon gar nicht mehr kennen und manchmal nicht mal den Mädchennamen unserer Großmütter) für etwas Gemütliches zu halten, bis auch die Enkelinnen glauben, im Gestern und Vorgestern liege ein Schatz verborgen und nicht die Zerstörungen, die Kriege, die Völkermorde, der Genozid und der Holocaust.
“Guck da!”, ruft in diesem Augenblick L. und zeigt hinüber zur Schlossinsel, denn dort — wo nun gar nichts ist — sehen wir unter den Schatten spendenden Zweigen einer Ulme die “Sphinx” liegen und auf Fontane warten, der für jeden einsteigt, der das Buch aufschlägt. Über dem Spreetunnel — links der Kleine Müggelpark, rechts die kleine spitze Nase der Kämmereiheide — mündet die Müggelspree in den Großen Müggelsee: Eine ziemlich schmale Stelle, die den Blick selbst in der Erwartung lange auf Friedrichshagen, also auf der Stadt, festhält; die Öffnung ist so plötzlich, dass der Große Müggelsee noch größer scheint als er ist, ein Binnenmeer, das Müggelmeer in lauter Landschaft. Wenn man weiter führe, hätte man dasselbe Erlebnis noch mal, wenn es zwischen Kelchsecke und Müggelhort — wo der Kleine Durchfluss von der Bänke zum Kleinen Müggelsee tatsächlich ein Strom heißt: Kelchstrom — wieder in die enge Müggelspree hinein geht: nach Rahnsdorf, Hessenwinkel, erst in der Mitte des Dämeritzsees ist Berlin zu Ende.
Die Pleasure-Station Rübezahl sehen wir vor uns liegen, sobald wir nur auf dem Müggelsee sind. Wir sehen sogar die Rückfahrgäste schon anstehen und ungeduldig auf unser Ankommen warten, während wir die Fahrt nun gerne noch etwas verlängert hätten, weil uns das Ende aprupt erscheint. Wir hätten “hin und zurück” nehmen können, dann hätten wir alle Gedankenketten vielleicht noch einmal in umgekehrter Folge durchlaufen können; die berliner-deutsche Geschichte wäre uns dann vielleicht als ein Born kleiner Geschichten und überhaupt als eine Erzählung erschienen, die man nicht zu verstecken und mit Schlussstrichen zu versehen versucht ist. Aber nun stehen wir schon bei Rübezahl am Ufer und die “Sachsen” hat schon wieder abgelegt. Jetzt sieht das Schiff aus wie die “Nellie”, auf der Marlow seine Geschichten erzählte, oder wie die “Otago”, Joseph Conrads erstes Schiff als Kapitän, mit der er auf der Fahrt von Singapur nach Bangkok die Schattenlinie überfuhr. Das Herz bleibt ein Kind. Sagt Fontane. Aber die Jugend kommt auch und ist dann auch zu Ende.
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