Ich bin mir auch nicht so sicher. Aber ich glaube wohl auch nicht, dass es ein Jenseits gibt. Ich steige die Treppe vom Hochbahnhof der Untergrundbahn in der Eberswalder Straße herunter. Hinter dem Senefelderplatz hebt die U‑Bahn uns aus dem Untergrund der Stadt empor zwischen die Fassaden der Schönhauser Allee. Wenn ich auf mich selbst achte, merke ich jedes Mal, wie sich das Stadtgefühl in mir schlagartig verändert. Meist fühle ich mich beruhigter, sicherer, heimischer — obwohl ich hier nie gewohnt, nur in der Nachwendezeit ein paar Monate gearbeitet und die Gegend durchwandert habe. Seitdem kenne ich den Friedhof zwischen Pappelallee und Lychener Straße. An der Innenseite des Eingangstores steht dort seit 1873: “Schafft hier das Leben, gut und schön/ Kein Jenseits ist, kein Aufersteh’n”.
Das Schönste an der Pappelallee sind der Name und die Erinnerungen. Die meisten Bäume sind Eschen. Pappeln haben in dieser Straße niemals gestanden. Einige Häuser sind renoviert, andere verfallen noch wie seit Jahren; einige Hinterhöfe sind belebt, andere Denkmäler eines Großstadtelends, das es hier gab, seit es die Straße gibt. Eine typische Berliner Straße; sie war es durch alle ihre jetzt 173 Jahre.
Wer den Weg wandert, den ich heute gehen will, an diesem warmen Sonnentag, der über alles eine Südlichkeit legt, die in Berlin gar nicht so selten ist wie vielleicht mancher Fremde denkt (aber vielleicht ist es Östlichkeit): Pappelallee, Gneiststraße, ein kleines Stück Schönhauser Allee, Milastraße und die Cantianstraße zurück zur U‑Bahn-Station, der braucht — die Stunde nicht mitgerechnet, die er im Bistro Pappelallee Ecke Raumerstraße verbracht hat — anderthalb Stunden und zum Alex mit der U2 noch sechs Minuten und hätte von der Berliner Gegenwart Wirkliches gesehen und — wenn er Bescheid weiß oder es wissen will — auch ein vieldeutiges Geschichtsstück.
Der schönste Gegenwartsort ist der Friedhof. Er nennt sich jetzt einen Friedhofspark. Für “Park” ist er eigentlich zu klein. Aber für mich ist er einer der schönsten Plätze in Berlin. Für manchen, der jetzt hingeht, dauert es vielleicht einige Zeit, bis er das nachvollziehen kann. Zwischen Mietshäusern des steinernen Berlin, deren Innenhöfe den lichten Vorteil vom Friedhof seit 150 Jahren haben und die auch heute noch Stücke von diesen schwarz-grauen Brandmauern zeigen: diesen krampfhaft verschlossenen Mündern vieler Lebensgeschichten, liegt diese mühsame Rasenfläche.
An manchen Stellen sind die Bäume zu dicht für ordentlichen Rasen. Viele Bänke rundum, die meisten jetzt in der Freitagnachmittagssonne unbesetzt; aber viele junge Leute, die lagern, bunthaarige Kinder-Jugendliche in verletzlichem Bewusstsein, ordentliche Studenten und Studentinnen, die die Decken, auf denen sie gelegen und in den Lehrbüchern geblättert haben, hernach sorgfältig falten und einrollen.
Am östlichen Ende ein grün und offen umgitterter Kinderspielplatz mit Wasser, also mit “Eierpampe”, Juchzen und Jauchzen. Dazwischen Grabsteine. Der Friedhof ist aufgehoben. Er erinnert nur noch an die 9 bis 10.000 Beerdigungen und Urnen-Beisetzungen, die hier seit 1847 stattgefunden haben. Ein Erinnerungs-Rückstand aus der Freidenker-Bewegung, deren — teils bürgerliche, teils sozialistische — Denkweisen viel gegenwärtiger sind, als die Erinnerungen an ihre Namen und Protagonisten.
Vor der ehemaligen Feierhalle an der Südseite des Friedhofs stehen zwei Grabsteine; man kann sie “berühmt” nennen: Für Agnes Wabnitz, Gründerin des Vereins der Mantelnäherinnen; zu ihrem Begräbnis war August Bebel hier und Zehntausende. Mehr Kränze — wie die preußische Polizei penibel registrierte — als bei der Beerdigung des Kaisers. Wer war Agnes Wabnitz? Man könnte es erzählen, aber wer will es wissen?
Am 25. Mai 1988, als die DDR noch nicht wissen wollte, wie wenig Zukunft ihr blieb, erschien Hans-Jochen Vogel, der damalige SPD-Vorsitzende, hier auf dem verfallenden Friedhof mit einem Kranz für Wilhelm Hasenclever, den Lohgerber, Vorsitzenden des Lassallschen Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, aus dem die SPD hervorging. Die Grabsteine stehen da wie angelehnt, unleserlich und sozusagen unsichtbar gemacht von der Sprayfarbigkeit, die viele Steine, Mauern und Wände unserer Stadt mit solcher Schnelligkeit und Regelmäßigkeit bedeckt, dass wir sie deuten müssen, ehe wir sie einfach Vandalismus nennen. Das schönste Denkmal ist für Heinrich Roller. Das war der Mann, der den Gründungs-Parteitag der SPD, Eisenach 1869, protokolliert hat, Erfinder einer “Weltkurzschrift”, später Reichstags-Stenograf. Auf seinem Grab steht eine Halbgöttin. Es könnte auch seine 3/4‑große Ehefrau sein, eine schöne Frau, aber eben aus Stein oder aus Eisen (das weiß ich jetzt nicht), jedenfalls ganz unbeweglich, kein Wort kommt aus ihrem Mund, aus ihrer im Schreiben erstarrten Hand: Diese Geschichte ist vorbei.
Es geht mir nicht gut. Ich bin erschöpft. Der Weg strengt mich an. Die Gedanken, die er mir mitteilt, belasten mich. Jetzt sitze ich dem Stein für Ernst Däumig gegenüber. Das war einer von denen, dessen Leben die Unklarheiten und Verwirrungen der größten Arbeitsbewegung der Welt am Beginn und am Ende von WK I darstellt, einer von denen vielleicht, die Recht gehabt haben, und die deshalb vergessen sind, anders als die, die Unrecht hatten und weiter Fehler machen durften, wie Ebert, Scheidemann, Braun, nach denen heute die Straßen heißen, weil sie schließlich Opfer ihrer eigenen Fehler wurden.
Aber auf solche Wertungen kommt es nicht mehr an, auch diese Geschichte ist vorbei, die Gegenwart ist Mittag, Ruhe, am Baum lehnen, in den Himmel blicken, rauchen, die Kinder, der Mittagsschlaf unter dem Ahorn, in dem die Tauben schnäbeln. Dieser Friedhof, der jetzt der Freireligiösen Gemeinde, also immer noch, vielmehr: wieder Freidenkern gehört, ist — denke ich — ein Friedhofsvorbild: Tote und Lebende beieinander. So müssten auch “lebende” Friedhöfe sein. Vielleicht gibt es kein Jenseits. Aber mit dem Diesseits kommen wir auch nicht gut klar. Wir müssen uns viel mehr Mühe geben, ob wir an Drüben glauben oder nicht.
Schreibe den ersten Kommentar