Lebenstaucher

Auf meinem Weg von Wilmers­dorf in den Wedding musste ich am Bahn­hof Spichern­straße den Zug verlas­sen, wegen einer “tech­ni­schen Störung”. Also machte ich mich zu Fuß auf den Weg nach Norden. Und weil ich es nicht eilig hatte, lief ich lang­sam, sperrte meine Augen und Ohren auf und tauchte immer wieder für ein paar Sekun­den in das Leben ande­rer Menschen ein. Spazier­gän­ger sind Leben­s­tau­cher, das ist schön, manch­mal trau­rig, aber inter­es­sant.

Dort wo die Scha­per­straße die Bundes­al­lee kreuzt liegt das Lokal “Harle­kin”, eine Schwu­len­kneipe, Tische und Stühle sind bei dem warmen Wetter voll besetzt, die Stim­mung ist wie im Bier­gar­ten. Nicht nur Männer sitzen hier, etwa ein Vier­tel sind Frauen, aller­dings ist die Atmo­sphäre nichts für mich. Alko­hol­ge­schwän­gerte Männer versu­chen zusam­men ein Lied zu singen, eine Frau liegt einer ande­ren in den Armen, aber da ist nicht Zärt­lich­keit, sondern Rumge­zi­cke. Sie geifert die andere an, die sie gleich­zei­tig fest­hält, ein merk­wür­di­ges Bild. Ein jünge­rer Mann bemerkt mich, winkt mir freund­lich zu hinzu­kom­men, aber ich schüt­tele den Kopf. Zu absto­ßend finde ich das alko­ho­li­sche Gelage, das ist nicht anders als bei jeder ande­ren Kneipe. Nicht mein Fall.

An der Liet­zen­bur­ger Straße biege ich kurz nach links und gleich wieder rechts in die Meine­ke­straße. An der Ecke vor dem Hotel steht eine Traube Hollän­der, laut wie immer, und natür­lich machen sie keinen Platz für die ande­ren Passan­ten. Ruppig bahne ich mir den Weg durch die Menge, doch die etwa 30 Touris­ten lassen sich nicht wirk­lich davon beein­dru­cken. Nur ein klei­ner Junge am Rand schaut mich erschro­cken an, wie zur Entschul­di­gung zucke ich mit den Schul­tern und lächele ihn an. Er soll nicht denken, dass die Deut­schen unfreund­lich sind, außer­dem war er der einzige, der sich nicht an der Gehweg­blo­ckade betei­ligte. Er reagierte aber kühl, war sich wohl nicht sicher, ob mir zu trauen sei.
Das glei­che Bild nur ein paar Meter weiter, vor dem Hard-Rock-Café, dies­mal sind es aber Spanier, doch auch sie weichen nicht. Hier mache ich einen klei­nen Bogen um die Gruppe. Nicht weil ich Spani­ern grund­sätz­lich aus dem Weg gehe, Hollän­der aber anremple, sondern ich hatte einfach keine Lust schon wieder den Bad Boy zu spie­len.
Zurück auf dem Bürger­steig kam aus der Gruppe gerade ein Mann um die 40 heraus, der Blin­den­stock wedelte über die Gehweg­plat­ten, es ist mir ein Rätsel, wie er durch diese Gruppe hindurch­ge­kom­men ist. Doch vor ihm lagen noch einige Hinder­nisse. In der Mein­ke­straße sind vor jedem zwei­ten Haus Stühle und Tische an den Bürger­steig gestellt, sie nehmen bis zu Drei­vier­tel der Breite ein. Also sprach ich den Blin­den an, ob ich ihm helfen sollte, hier durch­zu­kom­men. “Lassen Sie mal, ich kenne den Weg genau, vielen Dank!”, sagte er. Und tatsäch­lich umkurvte er wie ein Sehen­der die Tische vor den Loka­len. Nun kam er mit dem Stock an einen Hund, der an einer Laterne befes­tigt war und auf dem Gehweg lag. Der sprang auf und verdrückte sich zwischen die Autos, anschei­nend hatte er Angst vor dem Stock. Kurz danach war der Blinde verschwun­den, ich spazierte so lang­sam, dass er mir davon­ge­lau­fen war.

Kurz vor dem Kudamm gibt es einen Laden, in dem letz­tes Jahr ein Imbiss eröff­net hat. Man bekommt dort Curry­wurst, aber auch ein paar andere Spei­sen, unter Taxi­fah­rern hat er einen ganz guten Ruf. Auch hier stehen Tische drau­ßen und sämt­li­che Plätze waren besetzt, genau wie inner­halb des Ladens. Ich holte mir eine Selters und eigent­lich wollte ich auch noch eine Curry­wurst probie­ren. Neben mir saß eine Berli­ner Fami­lie, Vater, Mutter und beide Kinder stark über­ge­wich­tig. Die Mutter schnauzte ihren mindes­tens 20 Kilo zu schwe­ren Sohn an, dass er keine Wurst mehr bekommt, “zwee Würschte mit Pommes reichen, sonst wirste noch dick!” Das meinste sie ernst! Dabei wog sie wahr­schein­lich das Doppelte von dem, was normal ist. Wenigs­tens hat sie damit mir ins Gewis­sen gere­det und ich beschränkte mich auf die Selters.

Am Kudamm bog ich rechts ab, um an der Ampel Rich­tung Zoo weiter­zu­ge­hen. Kurz vor der Kreu­zung hielt mir ein junger Mann einen bunten Zettel entge­gen. Ich las nur was von “Diane­tik” und war schon genervt. Jetzt bemerkte ich den Info­stand der Scien­to­lo­gen, der etwas zurück­ge­setzt aufge­baut war. Meine Reak­tion “behalte Deinen Dreck” war viel­leicht etwas zu laut und aggres­siv, aber er nahm es unge­rührt zur Kennt­nis und wandte sich bereits dem nächs­ten Passan­ten zu. Der sah aus wie ein anato­li­scher Hirte auf seinem ersten Besuch in der Stadt, von dem was der Mann ihm sagte verstand er anschei­nend kein Wort. Lächelnd nahm er ihm aber einen seiner Zettel ab, ging zwei Schritte weiter und zerriss die Werbung. Er sagte irgend­was zu seiner Bäue­rin und beide lach­ten. Der Scien­to­loge schaute dies­mal etwas verdat­tert, dann ging er aber tapfer auf das nächste Opfer zu.

Zwischen Kant­straße und Bahn­hof Zoo gehen die Passan­ten durch eine enge Passage. Hier stehen Jungs auf der Suche nach einem Freier, andere Männer sehen aus, als würden sie auf eine Gele­gen­heit warten, jeman­dem die Brief­ta­sche zu klauen. Viel­leicht stimmt es, es können aber auch aner­zo­gene Ängste aus meiner Kind­heit sein, also Vorur­teile. Auf dem Trep­pen­ab­satz zum Sexshop im Ober­ge­schoss stand ein älte­rer Mann, der tatsäch­lich alle seine Taschen durch­suchte. Hose, Jacke, vorn, hinten, Innen­ta­schen, anschei­nend war ihm wirk­lich seine Geld­börse gestoh­len worden oder er hat sie verlo­ren. Verzwei­felt schaute er nach oben, über­legte wohl, noch­mal zurück­zu­ge­hen. Dort im ersten Stock liegt ein schwu­ler Sexshop mit Dark­room. Wenn er dort drin war, wird er seinen Geld­beu­tel sicher nicht mehr wieder­fin­den.
Kurz vor der Ecke zur Harden­berg­straße hat der Burger King ein klei­nes Fens­ter zum Bürger­steig. Norma­ler­weise kann man hier auch eine schnelle Bestel­lung für unter­wegs machen, dies­mal aber wird dort nichts verkauft. Die Frau vor dem Fens­ter wollte das nicht einse­hen, schon zehn Meter vorher hörte ich ihr Geme­cker. “In der Zeit hätten Sie mich schon längst bedie­nen können”, keifte sie die schmale Asia­tin an, die hinter dem Fens­ter stand und ihr klar­zu­ma­chen versuchte, dass es dort keinen Verkauf gibt. Anschei­nend war sie aber zu höflich, um das Fens­ter einfach zu schlie­ßen.

Zehn Meter weiter stoppt eine Poli­zei­wanne, 6 bis 8 Mann sprin­gen heraus, laufen zum nahen U‑Bahn-Eingang. Dort steht wie immer eine Gruppe Alkies, einer rennt die Treppe herun­ter, zwei Poli­zis­ten hinter. Die ande­ren Beam­ten umzin­geln die Gruppe, verlan­gen die Ausweise. Diese Situa­tion kennt man hier, mit solchem Druck versucht der Senat die Alko­ho­li­ker dort wegzu­be­kom­men, aber das klappt natür­lich nicht. Die Ausweise bräuch­ten die Trin­ker eigent­lich gar nicht mehr zu zeigen, mit Sicher­heit sind sie bei den Poli­zis­ten längst alle bekannt.
Während ich den Bahn­hof Zoo entlang gehe, wundere ich mich darüber, dass hier nach seiner Degra­die­rung zum Regio­nal­bahn­hof noch immer so viel los ist. Mindes­tens zwan­zig Taxis warten auf Fahr­gäste, drau­ßen stehen jetzt mehr Verkaufs­bu­den als zu der Zeit, als dies noch der Haupt­bahn­hof war. Einen Kolle­gen kenne ich, er beklagt sich darüber, dass er nun schon seit über einer Stunde hier wartet, und immer noch ein paar Wagen vor ihm sind. Doch die ande­ren Taxi­hal­ten sind auch nicht leerer, wegfah­ren ist also sinn­los. Er benei­det mich um mein freies Wochen­ende und dass ich einfach spazie­ren gehen kann.

Der Fußweg, der hinterm Bahn­hof zum Land­wehr­ka­nal führt, hat eine Beson­der­heit. Wenn man sich rechts durch die Büsche schlägt kann man von oben in den Zoo schauen. Die Sträu­cher sind an diesen Stel­len schon fast alle herun­ter­ge­tre­ten, und tatsäch­lich sieht man alle zehn Meter jeman­den an der Brüs­tung. Meist sind es Fami­lien, aber an einer Stelle steht ein altes Paar, beide schätze ich um die 80 Jahre. Sie aber schauen nicht in den Zoo, sondern stehen eng umschlun­gen da, was um sie vor sich geht nehmen sie nicht wahr. Was für ein wunder­schö­nes Bild.
Auf der Brücke über der Schleuse sind beide Gelän­der voll besetzt: Im Kanal stauen sich die Ausflugs­damp­fer, weil ja immer nur eines in den Schleu­sen­trog passt. Eltern und Groß­el­tern erklä­ren den Kindern was da vor sich geht. Dazwi­schen drän­gelt sich eine Gruppe älte­rer Herren in engen bunten Radler­ho­sen auf ihren Fahr­rä­dern durch die Menschen, als dann noch ein Velo­taxi die Leute zur Seite schiebt, begin­nen die zu protes­tie­ren. Ich schlängle mich durch, ein Stück­chen gehts durch den Tier­gar­ten, entlang der Gasla­ter­nen-Ausstel­lung. Die geht auch nörd­lich der Straße des 17. Juni noch weiter, vorher mache ich aber noch einen Abste­cher in den ehema­li­gen Berlin-Pavil­lon. Seit ein paar Jahren befin­det sich hier ein Burger-Restau­rant im Stil der 60er Jahre. An der Kasse werde ich mit den Worten begrüßt, dass “das System” kaputt ist und es deshalb nichts zu essen gibt. Ich wollte sowieso nur was zum Trin­ken kaufen, trotz­dem mache ich mir Gedan­ken, ob die Aussage nicht viel­leicht poli­tisch gemeint ist. Sicher nicht, der Ameri­can Way Of Life kennt keine Selbst­zwei­fel.

Dabei könn­ten sie schnell kommen: Keine 20 Meter weiter sitzt auf einer Bank ein Mann um die 50, das Leben hat ihm offen­bar schon viele Wunden zuge­fügt. Tüten und Taschen stehen um ihn herum, dahin­ter ein Einkaufs­wa­gen, eben­falls voll­ge­packt, wahr­schein­lich ist es seine ganze Habe. Er schaut mir schon entge­gen und bemerkt, dass ich ihn beob­achte, schätzt mich ab. Dann hebt er eine Hand zum Gruß, ich grüße zurück. “Haste nen Euro?” fragt er, klar, hab ich. Dann wünscht er mir noch einen schö­nen Tag.
Auf dem Weg zum Hansa­platz sitzt ein dunkel­häu­ti­ges Mädchen auf dem Bürger­steig, vor sich eine Decke ausge­brei­tet, darauf liegen ein paar alte Hefte mit Geschich­ten, dane­ben mehrere Spiel­zeug­au­tos. Hier kommt nur alle paar Minu­ten ein Passant vorbei, die Geschäfte laufen sicher schlecht. Sie schaut mich kaum an, sicher rech­net sie nicht damit, dass ich ihr was abkaufe. Aber da hat sie sich geirrt, denn ich entde­cke ein klei­nes Feuer­wehr­auto, das ich unbe­dingt haben will. 50 Cent soll es kosten, weil ich ihr aber 2 Euro gebe und “stimmt so” sage, stellt sie noch einen Last­wa­gen dazu. Ich finde das klasse und bedanke mich, sie freut sich.

Am Hansa­platz vor dem geschlos­se­nen Grips-Thea­ter spie­len ein paar Kids. Als ich an ihnen vorbei gehe, rufen Sie “Hey Schwu­ler”. Ich drehe mich um und sehe, dass sie das zu einer älte­ren Frau gesagt haben, die gerade aus dem Super­markt gekom­men ist. Die nimmt das aber locker, schein­bar kennen sie sich, sie droht den Jungs im Scherz an, sie zu verprü­geln. Ein paar tun gleich so, als würden sie geschla­gen, “Aua, aufhö­ren!” rufen sie, dann lautes Geläch­ter. Die Frau stellt sich zu den Kids, während ich weiter­gehe Rich­tung Lessing­straße. Unter der S‑Bahn-Brücke lag bis vor einem Jahr immer eine obdach­lose Frau auf einem Vorsprung, Decken, Tüten und Schlaf­sack  neben sich. Sie schlief hier auch tags­über, nun ist sie fort. Verjagt oder gestor­ben? Ich weiß es nicht, aber ich denke immer an sie, wenn ich hier lang komme.

Auf der Lessing­brü­cke steht ein Pärchen, zwei junge Männer, viel­leicht Studen­ten, sie strei­ten sich. Der eine ist eifer­süch­tig, der andere droht auszu­zie­hen “wenn das so weiter­geht”. Dass andere Fußgän­ger alles mithö­ren können stört die beiden nicht. Ich über­quere die Straße und stelle mich ans Gelän­der, mein Blick geht runter auf die Spree. An der Kaimauer liegen drei Boote, auf einem sitzt eine Fami­lie bei Kaffee und Kuchen. Als ein Ausflugs­damp­fer vorbei­fährt, schau­kelt es aber doch ein biss­chen, doch das kann ja einen Seemann nicht erschüt­tern.
An der Turm­straße ange­kom­men, gehts runter zum Bahn­hof, die U‑Bahn fährt wieder. Es war ein schö­ner Spazier­gang, den Rest fahre ich aber lieber wieder. Auch in der Bahn tauche ich gleich wieder ein in das Leben eini­ger Leute, davon erzähle ich aber ein ande­res Mal.

Erst­mals veröf­fent­licht: 02.08.2008 | Foto: Gerd Eich­mann, CC BY 4.0

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2 Kommentare

  1. Schö­nes Bild. Nun weißt Du wie meine alltäg­li­che Arbeit ist, auch wenn sich manches verän­dert hat seit 2008. Verlang­samt man das Tempo werden die Klei­nig­kei­ten, die Geschich­ten der Stadt sicht­bar. Leben­s­tau­cher, sehr schön. Dazu gab es gestern auch eine schöne Geschichte in der Berli­ner. https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/manchmal-reicht-ein-stueck-pizza-fuer-mehr-menschlichkeit-li.233911 A Propos: Hast du deine Zeilen einge­reicht?

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