Trampen

Es gibt Orte, die zwar noch vorhan­den sind, aber deren Bedeu­tung längst irgendwo in der Vergan­gen­heit versun­ken ist. Gerade Berlin mit seiner Geschichte der Teilung hat viele solcher Plätze. Zu diesen gehö­ren auch der Park­platz am eins­ti­gen Kontroll­punkt Drei­lin­den sowie als Ost-Berli­ner Gegen­stück die alte Auto­bahn­auf­fahrt Rich­tung Dres­den, am Seegra­ben. Hier stan­den wir, als wir in den 70er und 80er Jahren raus woll­ten aus der Stadt, nach West­deutsch­land oder Sach­sen, je nach­dem auf welcher Seite der Mauer man war.
Tram­pen hieß das, Daumen im Wind, so hat Udo Linden­berg auch eine Schall­platte dazu genannt. Wie oft bin ich zum Bahn­hof Wann­see gefah­ren, den letz­ten Kilo­me­ter dann zu Fuß, ein Stück­chen Wald noch, dann lag es vor mir: Das Tor zu Welt bestand aus dem Check­point Bravo, davor war ein Park­platz mit Hotel und Rast­stätte. Am Ende der AVUS war die erste Kontrolle vor der Grenze, hier muss­ten alle Autos stop­pen, hier stan­den wir. An warmen Sommer­ta­gen waren es manch­mal über 100 Tram­per, auf den Papp­schil­dern stand “Barce­lona”, “Hildes­heim”, “Italien” aber auch mal “Indien” oder nur “Raus”.
Wer einstieg, wusste: Man musste mindes­tens bis Braun­schweig im Westen oder Nürn­berg im Süden mitkom­men, sonst war ein Weiter­kom­men schwie­rig. Stra­te­gi­sches Denken war wich­tig, um nicht irgendwo in der Pampa zu landen, die nächste Anschluss­mög­lich­keit wurde stets einkal­ku­liert.

Wenn man erst­mal im Auto saß, kam die Über­ra­schung, was sind es für Leute, die einen da mitneh­men? Meis­tens waren es Hippies, oft auch Berufs­kraft­fah­rer oder Vertre­ter, die ein biss­chen Unter­hal­tung such­ten. Der Eltern­schreck, also der Mann der einem an die Wäsche wollte, habe ich in hunder­ten von Tripps nur einmal gehabt. Weil ich nicht wollte wie ich sollte hat er mich “zur Strafe” auf einem winzi­gen Auto­bahn-Park­platz raus­ge­schmis­sen, irgendwo in Italien. Manches mal kam ich auch bei Leuten mit, bei denen ich es nicht vermu­tet hätte. Kleine Fami­lien oder Rent­ner-Ehepaare, streng konser­va­tive Jung-Unio­nis­ten waren darun­ter, einmal ein älte­rer Nazi, der mal jeman­den von der ande­ren Seite kennen lernen wollte. Ein Ehepaar um die 30 wollte mich über Stun­den für ihre Chris­ten­sekte begeis­tern, eine Gruppe Mailän­der “Gast­ar­bei­ter” versuchte mir auf der Fahrt im Klein­bus über die Alpen kommu­nis­ti­sche Kampf­lie­der beizu­brin­gen — auf italie­nisch. Nie verges­sen werde ich die Nacht, als ich mitten in Dort­mund einen ange­trun­ke­nen Porsche­fah­rer nach dem Weg zur Auto­bahn­auf­fahrt Rich­tung Hanno­ver fragte. Sein Ange­bot, mich hinzu­fah­ren, sah ich mit etwas gemisch­ten Gefüh­len, aber es konnte ja nicht weit sein. Er aber fuhr mich nicht nur zur Auffahrt, sondern gab dann rich­tig Gas, mit 200 km/h rasten wir durch die Nacht. In solchen Situa­tio­nen verflucht man das Tram­pen, man ist ja ausge­lie­fert und kann auch nicht einfach ausstei­gen. Kurz vor dem Ziel verreckte sein Auto, Motor­scha­den, er war sauer, ich heil­froh.

Das Tram­pen bedeu­tete Frei­heit. Per Anhal­ter ging es durch die Gala­xis Deutsch­land und West­eu­ropa. Wenn es drau­ßen goss oder schneite, wünschte ich mir, dass wir noch lange unter­wegs seien, um bloß nicht ausstei­gen zu müssen. Wenn ich einen unan­ge­neh­men Fahrer erwischte, sollte es möglichst schnell gehen.
Am bequems­ten war es in den Last­wa­gen, es gab viel Platz, meist auch Essen und Trin­ken, die Aussicht so hoch oben war klasse und unter den Truckern habe ich eine Menge toller Menschen kennen­ge­lernt. Einige beglei­tete ich mehrere Tage, wir schlie­fen abwech­selnd in der Koje, bloß selber fahren durfte ich nie.

Toll waren oft auch die Touren mit Hippies, in der Ente, im R4 oder VW-Bus. Einmal erwischte ich todmüde einen Hippie-Bus, der zu einem regel­rech­ten Schlaf­wa­gen ausge­baut war. Auf der Matratze schlief ich bis zu unse­rer Ankunft auf einem Bauern­hof in Nieder­sach­sen. Eigent­lich wollte ich woan­ders hin, aber sie hatten mich hinten verges­sen. Hier bekam ich nun einen Kaffee, selbst­ge­ba­cke­nes Brot und das Ange­bot, solange ich wollte dablei­ben zu können. Ein paar Tage war ich zu Gast, so wie in vielen offe­nen Orten, in denen ich will­kom­men war, obwohl man mich nicht kannte. Ich lernte alter­na­tive Bauern­höfe in Schles­wig-Holstein und im Wend­land kennen, Josch­kas Wohn­ge­mein­schaft in Frank­furt, eine Öko-Kommune in Frei­burg, RAF-Sympa­thi­san­ten in Karls­ruhe, Kölner Sann­ya­sins nahmen mich mit zu einer Party von Joseph Beuys, im däni­schen Chris­tia­nia lernte ich viel über die Selbst­or­ga­ni­sa­tion eines ganzen Dorfes und auch, dass selbst weiche Drogen Leben zerstö­ren können. In Mann­heim stand ich mal einein­halb Tage und kam nicht mehr weg, zum Trost brachte mich ein Truck dann bis nach Paris. Von dort fuhr ich mit einem schwu­len Bruder­paar nach Napoli, wo mich die Fami­lie der Jungs liebe­voll aufnahm. Ich machte Stra­ßen­mu­sik in Amster­dam und Helsin­gør, wohnte in Gronin­gen auf einem Haus­boot, neben Kühen in einem Hof bei Passau, in München knackte ich jeden Abend die Tür eines Chris­ten-Cafés, um dort schla­fen zu können. Die “Schwar­zen Sheriffs” scho­ben mich aus der schi­cken Innen­stadt ab, Stachus und Odeons­platz waren nun für mich verbo­ten. In Bad Canstatt waren die Wohn­wa­gen einer rhei­ni­schen Zigeu­ner­fa­mi­lie mein kurz­fris­ti­ges Zuhause, in Wien abge­stellte Nahver­kehrs­busse, in Kopen­ha­gen ein ehema­li­ges Thea­ter. Als ab 1981 über­all in Europa Häuser besetzt wurden, war es nicht mehr schwer, eine Bleibe zu finden.

Tram­pen ist nicht nur das kosten­lose Fahren mit unbe­kann­ten Leuten. Es ist ein Lebens­ge­fühl, es ist Unge­bun­den­heit, Frei­heit, Befrie­di­gung der eige­nen Sehn­sucht. Tram­pen heißt, sich zu öffnen, neugie­rig zu sein, die Welt in sich aufzu­sau­gen. Aber die Welt ist nicht nur gut, oft habe ich auch Schläge einge­steckt. Wirk­li­che Prügel von irgend­wel­chen Hooli­gans, die mich nachts an der Rast­stätte zusam­men­schlu­gen, mehr aber die gefühl­ten Schläge. Tage­lang durch­nässt, ohne Dach überm Kopf, kaum etwas zu essen, höhni­sche Sprü­che von Dorf­brat­zen, immer wieder auch Schi­kane von Poli­zis­ten. Nach einem Holland-Trip wurde ich an der Grenze extrem gefilzt, hatte aber keine Drogen dabei. Dafür verfolg­ten sie mich, einen Kilo­me­ter weiter hiel­ten sie mich an und schlu­gen mich blutig — als “Strafe”, weil ich sie verarscht hätte. In Dover saß ich wochen­lang im Knast, dies­mal aber, weil sie doch etwas gefun­den hatten, 13 Gramm Haschisch. Eine bayri­sche Poli­zei­wa­che lernte ich sehr schmerz­haft kennen, man warf mir vor, mit Heroin zu dealen, was völli­ger Blöd­sinn war. Mit solchem Zeug wollte ich noch nie etwas zu tun haben. Auch hier war ich mal wieder der Prügel­knabe.

Wer wie ich damals auf der Straße lebt, entwi­ckelt ein eige­nes Gefühl für andere Menschen. Er begreift, dass die übli­chen Klischees nur begrenzt stim­men. Nicht jeder lang­haa­rige Student war ein netter Kerl, nicht jeder Poli­zist ein Schlä­ger, nicht jeder Eigen­heim­be­sit­zer ein into­le­ran­ter Spie­ßer. Viele waren hilfs­be­reit, von denen ich es erst nicht erwar­tet hätte. Genauso gab es auch Kommu­nar­den, die mir nur unwil­lig eine Decke oder einen heißen Tee abge­ge­ben haben.
Wunder­schön war eine Erfah­rung, als ich kurz vor München ausstieg, in dunk­ler Nacht baute ich mitten im Schnee auf der Wiese mein Zelt auf. Als ich morgens meinen Kopf raus­streckte, sah ich, dass ich direkt neben einem Büro­haus gelan­det war. Dort sahen plötz­lich lauter Leute aus den Fens­tern, manche wink­ten mir zu. Zwei von ihnen kamen zu mir, brach­ten mir ein Tablett mit heißem Tee und Bröt­chen. Manche Erleb­nisse sind so schön, dass man sie kaum beschrei­ben kann.

Leben, leben lassen, auspro­bie­ren, lernen, zuhö­ren, die Jahre waren ein Schatz voller Erfah­run­gen. Ich bin damals in etli­chen Extre­men gewe­sen, die Straße war das, was alles zusam­men­hielt. Über bayri­sche Land­stra­ßen bin ich als Motor­rad­so­zius bei 180 km/h gerast, aber auch auf Treckern gemäch­lich entlang getu­ckert. Geschwin­dig­keit war unwich­tig, Entfer­nun­gen kein Problem, ich hatte es nie eilig. Manche Hürde habe ich auch nicht genom­men, dann hat mir meine Mam 100 Mark zuge­schickt, post­la­gernd, das reichte für Wochen. In Rom gab mir die deut­sche Botschaft etwas Geld, um mich aus dem Land “zu verpis­sen”, wie sie es wenig diplo­ma­tisch ausdrück­ten. Auch in Jugo­sla­wien wollte man mich nicht haben, schon nach zwei Tagen wurde ich abge­scho­ben, wieder nach Italien.

Das glei­che Schick­sal hatte ich in der DDR. Aufgrund guter Bezie­hun­gen zu eini­gen ostdeut­schen Rock­bands durfte ich mich ohne zeit­li­che Begren­zung oder Zwangs­um­tausch dort aufhal­ten. Bald hatte ich Freunde in allen Teilen der DDR und so ging es auch hier per Anhal­ter quer durch die Repu­blik. Im tiefs­ten Sach­sen, Drei­län­der­eck mit Polen und der dama­li­gen Tsche­cho­slo­wa­kei, wo man den Dialekt der Alten beim besten Willen nicht versteht, ausge­rech­net im letz­ten Winkel Ostdeutsch­lands verliebte ich mich mal wieder und blieb gleich für ein paar Wochen. Mir war schon klar, dass die dorti­gen Behör­den noch viel spie­ßi­ger und stren­ger waren als die im Westen. Und wenn der Freun­des­kreis auch noch aus Hippies, Punks und ande­ren Unan­ge­pass­ten besteht, dann ist ganz schnell Ärger ange­sagt. Nach zwei Tagen Verhör teilte man mir mit, dass ich im Arbei­ter- und Bauern­staat künf­tig uner­wünscht sei. Frei­heits­liebe und anar­chis­ti­sche Gedan­ken bräuchte man dort nicht. Ich war natür­lich ganz ande­rer Meinung. Auch aus diesem Erleb­nis lernte ich wieder, dass Wunsch und Reali­tät oft weit ausein­an­der liegen.

Und diese Reali­tät verlangt einem vieles ab, was man eigent­lich nicht will. Anpas­sung, der frei­wil­lige Haft­an­tritt, das abso­lute Gegen­teil von Frei­heit, jeden­falls in meinem Sinn. Die ganze Gesell­schaft hat sich seit­dem geän­dert, sie ist erns­ter gewor­den, Frei­geis­ter sind noch weni­ger erwünscht als damals. Bezeich­nen­der­weise liegen meine alten Sachen im Keller, verpackt in Kartons. Die Sehn­sucht ist einge­sperrt, nur manch­mal lugt sie vorsich­tig heraus, ob sie viel­leicht doch wieder eine Chance bekommt. Es gibt ja auch heute noch Tramps, auch alte.
Na, mal sehen.

ANDI 80

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Zufallstreffer

Berlin

High-Tech-Tunnel in die Pampa

Nach ledig­lich elf Jahren Bauzeit wurde am Sonn­tag Nach­mit­tag der Tier­gar­ten­tun­nel (offi­zi­elle Bezeich­nung: Tunnel Tier­gar­ten Spree­bo­gen, TTS) eröff­net. Mit 2,4 Kilo­me­tern Länge ist es der längste Tunnel Berlins — und gleich­zei­tig der schmalste. Denn im […]

4 Kommentare

  1. hab damals noch nich gelebt,
    doch hast du mir eine lust aufge­legt,
    endlich raus! aus dieser Welt die mich prägt
    dahin! (ohne Geld) wo noch was geht…
    big up! :)

  2. @ Jonas
    Ich denke, dass man das auf jeden Fall machen sollte: Einige Monate oder Jahre raus ins Leben, nach der Schule, bevor man in Job oder Uni gefan­gen ist. Solche Erfah­run­gen sind ein Schatz!

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