Nach Delft

615 km. Toten­ruhe mit und ohne Stein

Das letzte Kapi­tel von Cees Fasseurs gründ­li­cher Biogra­phie von Köni­gin Wilhel­mina der Nieder­lande trägt den einfa­chen Titel Nach Delft. Wer die Neue Kirche in Delft kennt, bekommt beim Lesen dieses Titels eine Gänse­haut.

In der Kirche steht ein großes baro­ckes Denk­mal für Wilhelm von Oranien. Darun­ter ruhen seine sterb­li­chen Über­reste, dieje­ni­gen der Oranier nach ihm und damit auch eini­ger Ehefrauen aus dem Hause Hohen­zol­lern. Im Kirchen­bo­den führt eine Treppe hinun­ter in die Gruft. Sie ist ganz anders propor­tio­niert als die Trep­pen in hollän­di­schen Häusern: nicht steil; so breit, dass acht Solda­ten unter Kommando eines neun­ten einen Sarg würde­voll hinun­ter­tra­gen können. Das ist auch ihr einzi­ger Zweck.

Wenn die Öffnung im Boden bei einer Beiset­zung mit Blumen umkränzt ist, lassen ihre Propor­tio­nen und das Ritual des Hinun­ter­tra­gens keinen Zwei­fel: hier kehrt ein Körper in den Mutter­schoß der Erde zurück. Eine umge­kehrte Geburt, endgül­tig. Das sieht man, das fühlt man. Als Juliana hinun­ter­ge­tra­gen wurde, spielte das Orches­ter nach ihrem letz­ten Willen Morgen­stim­mung.

Der Eindruck geht unter die Haut, weil die Solda­ten in Gala­uni­form den Sarg mit unvor­stell­ba­rer Präzi­sion aufhe­ben, schul­tern und hinab­tra­gen, als ob er schwe­ben würde – und weil sie danach mit leeren Händen zurück­kom­men. Die könig­li­che Fami­lie geht hinter dem Sarg mit hinun­ter und kommt etwas später wieder herauf. Davon, was unten geschieht, gibt es keine Bilder.

Die Beiset­zung Johan­nes Pauls II. durch Männer in schwar­zen Mafia­an­zü­gen war im Vergleich dazu ein hilf­lo­ses Gewa­ckel. Die nieder­län­di­schen Katho­li­ken hatten es Beatrix übel­ge­nom­men, dass sie nicht dabei­sein wollte; aber dort sollte man erst einmal lernen, wie man würdig mit Särgen umgeht.

Diese Öffnung mit Treppe in Delft sieht man nur ein paar­mal in seinem Leben. Wenn niemand hinun­ter­ge­tra­gen werden muss, ist sie von einer Stein­platte bedeckt, die man höchs­tens mit zehn Pfer­den oder schwe­ren Maschi­nen in Bewe­gung bekommt. Hier kommt keiner rein! Die könig­li­che Fami­lie begibt sich zwischen zwei Beiset­zun­gen nie hinun­ter. Die Toten ruhen unge­stört. Man gedenkt an verschie­de­nen Orten im Lande der ehema­li­gen Leben­den, aber schlurft nicht um die Leichen der Toten.

Diese Treppe dient also nur dem Abschied­neh­men, nicht dem Bestau­nen von Sarko­pha­gen. Damit das Abschied­neh­men in dieser Perfek­tion statt­fin­den kann, ist die Treppe in einer Kaserne nach­ge­baut, und Solda­ten üben das Schul­tern und Hinab­tra­gen eines Sarges jede Woche. Man muss vorbe­rei­tet sein.

Für Besser­wis­ser: Ja, es gibt auch einen klei­nen, unbe­que­men Dienst­ein­gang zur Gruft. Der ist versie­gelt und wird nur in Notfäl­len mit Sonder­ge­neh­mi­gung des Bürger­meis­ters benutzt. Ja, und die könig­li­che Fami­lie übt am Tage vor einer Beiset­zung; es stimmt also nicht ganz, dass da nie jemand hinun­ter­geht.

Wie anders ist es, zum Vergleich, in Wien! Da stehen die Särge der Habs­bur­ger in der Kapu­zi­ner­gruft und werden täglich von Touris­ten­scha­ren besucht. Da staunt man über die verschied­nen Größen der Särge. Da lernt man, dass Maria There­sia irgend­wann zu dick war, um die schmale Treppe zu meis­tern, worauf sie an einem Flaschen­zug herab­ge­las­sen werden musste, wenn sie ihres gelieb­ten Mannes an dessen Sarg geden­ken wollte. An einer ande­ren Stelle der Stadt, in den Kata­kom­ben unter dem Stephans­dom, erfährt man, dass die Einge­weide der einbal­sa­mier­ten Habs­bur­ger hier in kupfer­nen Behäl­tern bewun­dert werden können. Ein Leich­nam ohne Einge­weide lässt sich nun einmal leich­ter einbal­sa­mie­ren, und so fällt für den Dom noch etwas ab. Die Herzen aber befin­den sich in der Augus­ti­ner­kir­che. Jeder Leich­nam ist drei­ge­teilt, und alle drei Teile können von jedem besich­tigt werden.

Wie aber ist es in Berlin? Hat man da das System der hollän­di­schen Verwandt­schaft mit dem schwe­ren Stein einge­führt?

Nein. In Berlin ist es anders als in Delft und anders als in Wien, und das hat mit Vätern und Söhnen zu tun. Man muss eini­ger­ma­ßen mobil sein, wenn man alles sehen will.

Unter dem Berli­ner Dom kann jeder­mann die Hohen­zol­lern­gruft besu­chen, ähnlich wie in Wien die Kapu­zi­ner­gruft. Hier stehen über hundert Särge; aber nach dem Großen Kurfürs­ten wird es verwir­rend. Außer­dem ist das schon die sound­so­vielte Gruft. Die Särge werden umge­la­gert, wenn mal wieder ein neuer Dom gebaut oder ein bestehen­der umge­baut wird oder wenn es Grund­was­ser­pro­bleme gibt.

Jeden­falls findet man hier den Sarg des großen Kurfürs­ten zwischen denen seiner ersten und zwei­ten Ehefrau und denen zahl­rei­cher Vorfah­ren. Dane­ben findet man die Särge seines Sohnes Fried­rich I., des ersten Königs in Preu­ßen, und dessen Frau. Die beiden soll­ten eigent­lich in vergol­de­ten Sarko­pha­gen ruhen; aber die passen nicht in die Gruft und stehen deshalb hohl und leer oben im Kirchen­raum herum.

Bevor Fried­rich Wilhelm I., der Solda­ten­kö­nig, mit seinem radi­ka­len Spar­kurs und seiner no-nonsense-Staats­ver­wal­tung begann, erwies er seinem prunk- und verschwen­dungs­süch­ti­gen, von ihm verach­te­ten Vater nämlich einen letz­ten Dienst: Er ließ riesige vergol­dete Sarko­phage für ihn und seine Frau anfer­ti­gen. Die sind so hoch, dass man nicht hinüber­schauen kann, und entspre­chend lang und breit, während Fried­rich I. selbst ja beson­ders klein war. Heute nennt man so etwas eine Mogel­pa­ckung. Der Solda­ten­kö­nig fand das wohl ange­mes­sen.

Nach dem Zwei­ten Welt­krieg hätte man das Berli­ner Stadt­schloss und den Dom wieder aufbauen können. Beide waren durch Bomben beschä­digt, aber durch­aus nicht völlig zerstört. Ulbricht entschied, dass man eines der Gebäude spren­gen solle als deut­li­ches Signal nach innen, dass die DDR mit der preu­ßi­schen Geschichte nichts zu tun haben wolle, das andere aber stehen lassen, um nach außen zu zeigen, dass die DDR eine Kultur­na­tion sei. Nur, was lässt man dann besser stehen, ein Schloss oder einen Dom? Ulbricht entschied sich für den Dom, weil die Wahr­schein­lich­keit groß war, dass der mit Mitteln der evan­ge­li­schen Kirche in West­deutsch­land restau­riert werden würde. Das geschah dann auch, aber die DDR verlangte, dass die Grabes­kir­che, also der nörd­li­che Seiten­flü­gel, der die Särge der Hohen­zol­lern barg, bei der Restau­rie­rung verschwin­den müsse. Die Särge zogen darum in den Keller um, wo kein Platz für diese beiden riesi­gen Sarko­phage war.

Oben im Kirchen­raum wollte man aber wohl keine Leichen haben, höchs­tens leere Behäl­ter.

Der Solda­ten­kö­nig selbst wollte abso­lut nicht bei seinen Vorfah­ren beigesetzt werden. Er ließ für sich und seine Frau in seiner neu gebau­ten Garni­son­kir­che in Pots­dam eine beschei­dene Gruft herrich­ten. Dort kam sein Sarg dann auch wie geplant hin; aber seine Frau wollte doch lieber neben dem Berli­ner Schloss bei ihrer Verwandt­schaft liegen, nicht in einer ärmli­chen Solda­ten­gruft bei ihrem Mann.

Ihr Sohn Fried­rich der Große wollte nach allem, was vorge­fal­len war, ganz alleine bei seinen gelieb­ten Wind­hun­den neben seinem gelieb­ten Schloss Sans­souci ruhen, ließ dort eine Gruft unter dem Rasen anle­gen und regelte, dass er dort des Nachts ohne jegli­che Zere­mo­nie begra­ben werden wollte. Er hatte an alles gedacht: Wenn er im Sommer in einer Schlacht fallen würde, sollte man ihn an Ort und Stelle begra­ben und erst im Winter über­füh­ren.

Diesen letz­ten Wunsch, der genau zu ihm und seinem Leben passte, erfüllte man ihm nicht. Man stellte seinen Sarg neben den seines Vaters. Da war ja noch der Platz frei, den die Mutter verschmäht hatte. Da konn­ten dann beide, der Vater und der Sohn, von jedem besich­tigt werden.

Hier stockt einem der Verstand. Ich wieder­hole: Man stellte, nach allem, was vorge­fal­len war, den Sarg Fried­richs neben den seines Vaters, statt den letz­ten Willen zu erfül­len.

Gegen Ende des zwei­ten Welt­krie­ges wurde es dann zu gefähr­lich für die beiden Särge, und man brachte sie in mehre­ren Etap­pen in ein Stamm­schloss der Hohen­zol­lern in Süddeutsch­land, wo jeder sie weiter besich­ti­gen und verglei­chen konnte. Erst zwei­hun­dert Jahre nach seinem Tode erfüllte man Fried­richs letz­ten Willen. Jeden­falls teil­weise: er ruht nun wirk­lich in seiner Gruft neben Sans­souci bei seinen Hunden; aber es gab eine feier­li­che Zere­mo­nie mit Bundes­wehr, Würden­trä­gern und allem Drum und Dran.

Sein Nach­fol­ger und Neffe Fried­rich Wilhelm II. ruht dann ausnahms­weise wieder im Berli­ner Dom. Dessen Sarg ist schwer zu finden, weil er durch Bomben beschä­digt wurde und ein paar hundert Jahre älter aussieht.

Dessen Sohn Fried­rich Wilhelm III., der seinen Vater aus guten Grün­den verach­tete, ließ für seine geliebte Frau Luise ein Mauso­leum im Schloss­park von Char­lot­ten­burg bauen, irgendwo halb­wegs zwischen Berli­ner Dom und Pots­da­mer Garni­son­kir­che. Er selbst und seine zweite Frau ruhen auch dort.

Dessen Sohn Fried­rich Wilhelm IV. wiederum wollte es beschei­de­ner, aber auch er fühlte nichts für eine Ruhe­stätte bei seinen Vorfah­ren. Er und seine Frau liegen in der Krypta der von ihm gebau­ten Frie­dens­kir­che beim Eingang zum Park Sans­souci. Vor dem Altar zeugen Stein­plat­ten im Boden davon. Kinder zum verach­tet Werden hatten die beiden nicht.

Als es um die letzte Ruhe­stätte seines Bruders und Nach­fol­gers Wilhelm I. ging, der seit 1871 nicht nur König von Preu­ßen, sondern auch Kaiser war, war dessen Enkel Wilhelm II. schon an der Macht, denn Fried­rich III. war nur neun­und­neun­zig Tage nach Wilhelm I. gestor­ben. 1888 wurde das Drei­kai­ser­jahr. Wilhelm II. tat alles, um seinen Groß­va­ter zu „Wilhelm dem Großen“ aufzu­bauen. Heute zeugt davon noch ein riesi­ges Denk­mal an der Porta West­fa­lica. Ein entspre­chen­des Denk­mal beim Berli­ner Schloss ist inzwi­schen verschwun­den. Dort soll demnächst ein Wieder­ver­ei­ni­gungs­denk­mal wippen.

Wilhelm II. ließ für Wilhelm den Großen das Mauso­leum in Char­lot­ten­burg erheb­lich erwei­tern und brachte so seinen Groß­va­ter samt Ehefrau bei dessen Mutter Luise unter. Hier lohnt sich ein Besuch, weil das Grab­mal von Luise zu den schöns­ten Marmor­skulp­tu­ren gehört, die es gibt.

Fried­rich III., der Sohn Wilhelms I. und Vater Wilhelms II., hatte schon als Kron­prinz zusam­men mit seiner Frau ein Mauso­leum neben der Frie­dens­kir­che, also in der Nähe seines Onkels, geplant. Dort ruhen er und seine Vikto­ria auch wirk­lich, aber mit zwei Schön­heits­feh­lern. Erstens kann das Mauso­leum nicht besich­tigt werden, und niemand in Pots­dam konnte mir erklä­ren, warum eigent­lich nicht. Es muss sehr schön sein. Zwei­tens ist das Grab­mal Fried­richs III. eine Kopie. Das Origi­nal ließ Sohn Wilhelm II. sarg­los im Berli­ner Dom aufstel­len, wo es nun noch steht.

Unten in der Gruft im Dom hängt ein Gemälde, das zeigt, wie ergrif­fen Wilhelm II. und Mutter Vikto­ria am Sarge Fried­richs III. trau­ern. Beim Betrach­ten dieser rühren­den Szene muss man wissen, dass Wilhelm II. seine beiden Eltern nicht ausste­hen konnte.

Es ist viel­leicht gut, dass bei Beiset­zun­gen von Orani­ern kein Maler mit in die Delf­ter Gruft darf.

Ja, und dieser Wilhelm II. selbst ruht im Exil, in Doorn. Dort steht sein Sarg in einem schlich­ten – Mauso­leum genann­ten – Häus­chen vor sich hin. Wilhelm der Letzte wollte nicht in auslän­di­scher Erde begra­ben werden, aber auch nicht zurück nach Hause, solange Deutsch­land keine Monar­chie ist. Seine erste Frau dage­gen ruht im verwahr­los­ten Antik­en­tem­pel im Park Sans­souci. Der Witwer hatte sie, die immer noch unwahr­schein­lich beliebt war, über­füh­ren lassen in der Hoff­nung, dass man ihn dann lebend nach­kom­men ließe.

Was soll man von all dem nun halten? Diplo­ma­tisch ausge­drückt ist die Toten­ruhe bei den Hohen­zol­lern jeden­falls dyna­mi­scher als bei den Orani­ern. Im Gegen­satz zu den Habs­bur­gern formt die Dynas­tie zwar keine Einheit, jede einzelne Leiche aber sehr wohl, von weni­gen Ausnah­men abge­se­hen.

Aus: Suche nach der Mitte von Berlin

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1 Kommentar

  1. Das Bild am Anfang dieses Kapi­tels zeigt die Beiset­zung von Köni­gin Wilhel­mina, damals noch ohne Solda­ten. Hier ein Mitschnitt der Beiset­zung ihrer Toch­ter Köni­gin Juliana.

    https://www.youtube.com/watch?v=cm9ftPLGZno

    Wer es nicht ganz anschauen will, schaue ab Minute 4 und dann wieder ab Minute 18.

    Leider ist die Musik anders unter­legt, als es damals wirk­lich war. Der Sarg wurde noch in Toten­stille hoch­ge­ho­ben und geschul­tert. (Wenn man absieht von einem Handy, das im blödes­ten Moment irgendwo klin­gelte.) Morgen­stim­mung erklang dann über­ra­schend zum Weg nach unten. Ich bekomme immer noch eine Gänse­haut, wenn ich daran denke.

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