Dieser Spaziergang durch Mitte beginnt in Kreuzberg.
Der älteste Teil des Friedhofsareals am Mehringdamm ist der fast quadratische Friedhof der Dreifaltigkeitsgemeinde; er hat keinen eigenen Zugang, ist nur über die anderen Friedhöfe zu erreichen und hat deshalb etwas besonders Abgeschiedenes. In der Diagonale zu den Gräbern der Mendelssohn-Bartholdys liegen hier, dicht an der Südmauer zur Baruther Straße, neben dem umrankten Komposthaufen die Gräber von Rahel Levin und Karl August Varnhagen. Dieser Stätten wegen sind wir jetzt hier; denn wir wollen von diesem letzten Aufenthaltsort des berühmten Paares aus die Orte in Mitte besuchen, an denen sie gelebt und ihre Geschichte gemacht haben.
Die so friedlich nebeneinander liegenden Gräber sind ein späteres Arrangement. Varnhagen — gestorben am 10. Oktober 1858 in der Mauerstraße — war zwar katholisch getauft gewesen, aber er hatte den Wunsch, auf diesem protestantischen Friedhof beerdigt zu werden. Rahel war zu dieser Zeit schon ein Vierteljahrhundert tot, aber sie hatte sich gewünscht, 30 Jahre in kein Grab zu kommen, sondern in einer Totenhalle zu liegen. “So geschah es”, heißt es, erst im Juli 1867 ist sie hier neben ihrem Ehemann in die Erde gebracht worden. Die weißen Grabplatten sind efeuumrankt, verwittert, die Aufschriften allenfalls noch für den lesbar, der den Text von früher kennt. Niemand — scheint es — kümmert sich um die berühmten Gräber. Wir müssen eine Initiative gründen: Neue Grabplatten für die Varnhagens. Dafür werden wir gewiss auch Professor Blumenthal gewinnen, den ehemaligen US-Finanzminister, der jetzt Direktor des Jüdischen Museums ist und eben so schön über Rahel geschrieben hat.
In der kleinen Friedhofsgärtnerei am Mehringdamm habe ich drei rote Rosen gekauft. “Eine für Rahel, zwei für Varnhagen.” “Aber sie ist doch die viel berühmtere”, sagt L., meine Lebensfreundin, “und er ist nur die Witwe Rahels”. Eben nicht; dieses Bild kommt aus den Rahelbüchern. Varnhagen ist in seiner Vollständigkeit überhaupt noch eine unbekannte Größe der deutschen Geistesgeschichte … und so weiter; so rede ich, während wir — am Jüdischen Museum vorbei — durch Linden‑, Markgrafen- und Charlottenstraße das neue Berlin erreichen, das Berlin-Mitte hier ist.
Zunächst sitzen wir an einem Straßentisch vor dem Café Adler am alten Checkpoint Charlie; links und rechts amerikanische Ehepaare, aus ländlichem US-Gebiet, “from Vermont” und “from Michigan”, freundliche Menschen, die hier das Gefühl haben, an einem weltgeschichtlichen Platz zu verweilen. Der Wind bläst die Friedrichstraße herauf und weht Staub in den Milchkaffee. “Man denkt, man ist am Meer und die Leute kommen vom Strand heim.” Im “Haus am Checkpoint Charlie” verteidigt ein alter Mann eine Geschichte, die es nicht mehr gibt. Die Welt ist offen.
Gleich hinter diesem gewesenen Türchen in der Weltenmauer biegt in elegantem Bogen die Mauerstraße nach Westen ab. Gegenüber dem “Friedrichs”, dem angenehmen Bistro unserer Freundin Ada Scholz, ist der Grundriss der Barockkirche der Böhmischen Brüder ins Straßenpflaster gemauert. So ähnlich wie diese Kirche — von Friedrich Wilhelm Diterich 1735 gebaut, der auch die Kirche in Buch entworfen hat, die noch da ist und an der man sich orientieren kann, wenn man eine Anschauung braucht — so ähnlich sah auch die Dreifaltigkeitskirche aus, von deren Friedhof wir kommen. 1943 ausgebrannt, 1945 zerstört. Es gibt einen Stich, der die breite Mauerstraße hinter der Leipziger zeigt, auf diese Kirche zulaufend, darauf auch das Haus, Mauerstraße 36, in dem Varnhagens sechs Zimmer mit Küche bewohnten, seit 1827.
“Kann ich Ihnen helfen?”, fragt mich eine freundliche junge Frau. Ich stehe vor dem Ärztehaus, am Haus der Berufsgenossenschaft für die Chemische Industrie. Es gelingt mir nicht, mir vorzustellen, wie es hier 1830 ausgesehen haben mag. “Kommen Sie doch mit herauf”, sagte Varnhagen zu Grillparzer, aber wer kennt Grillparzer noch? “Rahel wird sich freuen”, Grillparzer war müde, er wollte nicht, aber als Rahel ihnen entgegenkam, wie eine Fee aussehend, um nicht zu sagen wie eine Hexe, fügte er sich in sein Schicksal. Sobald sie aber zu sprechen anfing, war er bezaubert, “die Müdigkeit verflog und machte einer Art Trunkenheit Platz”.
Vor allem kam Alexander von Humboldt. Er war gewiss der berühmteste Besucher dieses sogenannten zweiten Berliner Salons der Rahel in der Mauerstraße. Den Text des Kosmos, seines Meisterwerkes, gab er Varnhagen zum Überarbeiten. Die klassische Sprache dieser epochalen Naturgeschichte, heißt es heute, ist weitgehend Varnhagens Werk.
Wir gehen die Kronenstraße abwärts. Eine typische Berliner Übergangsstraße des [vorletzten] Jahrhundertendes. Die Südseite mit Neubauten und bestrenovierten Vorjahrhundertgebäuden bestellt, noch wenig bezogen, die Straße ungepflastert, noch nicht passierbar; solange wir im bayrisch gastlichen Leopolds, Kronen- Ecke Friedrichstraße, draußen an der Straße sitzen bei unseren Weißwürsten, kommt kein Mensch vorbei, mitten in der Metropole ein abgeschiedener Ort.
Vor allem hat er Tagebücher geschrieben, Aufzeichnungen niedergelegt. Varnhagen, vorne in der Mauerstraße, ist vielleicht der größte Zeitzeuge des seine Mitte erreichenden 19. Jahrhunderts. Die Bücher, die die Nichte Ludmilla Assing aus dem Nachlass veröffentlichte, sind alsbald vom Preußischen Staat mit Verboten verfolgt, Ludmilla Assing ist mit Gerichts verfahren überzogen, zu Freiheitsstrafen verurteilt worden und musste aus Deutschland fliehen. Die Sätze aus Varnhagens Feder waren auch noch zu Zeiten des Bismarck-Reiches skandalös. Das Material ist längst nicht erschöpft, heißt es. Erst nachdem der eiserne Vorhang aufgezogen ist, hat man — in Krakau — den fast unversehrten Varnhagen-Nachlass wiedergefunden. Die Geschichte Varnhagens ist nicht zu Ende. Ich stelle mir vor, was aus ihm geworden wäre, wenn er tatsächlich Preußens Botschafter in Washington geworden wäre. Da hätte er nicht nein sagen sollen … So reden wir, als ob die Geschichte ein Wunschkonzert wäre.
Dann gehen wir natürlich hinüber über den Gendarmenmarkt, zur Jägerstraße; in dem fein renovierten Haus Nummer 54, in der Dachstube, unterhielt Rahel ihren ersten Salon, in dem Größen der vergehenden und der kommenden Zeit verkehrten. Wir gehen die Jägerstraße, Richtung Außenministerium zuende, bewundern die immer fertiger werdende Sendezentrale von Sat1 — eine schönere Unterkunft hat kein TV-Sender in Europa und wo überhaupt in der Welt -; über den Hausvogteiplatz kommen wir in die Taubenstraße.
Die “Brasserie” dort ist ziemlich neu, da machen wir halt und analysieren die anderen Gäste: Sat1-Journalisten und mit den eckigen Köfferchen die Regierungsräte, die in Berlin ihre endgültige Wohnung noch nicht gefunden haben.
Die Zeit von Rahels erstem Salon war eine Zeit des Endes, die Französische Revolution rückte mit Napoleon heran, mit der bürgerlichen Freiheit für die Juden übrigens, die nach den Befreiungskriegen wieder hin war: befreit von der Freiheit. Und jetzt, welche Zeit erlebt Berlin jetzt? Der Gendarmenmarkt und die umliegenden Straßen statten sich aus. Es ist für alle Berliner, die alten und die neuen, östlichen wie westlichen, eine ganz neue Zeit. Die Geschichte ist nur Dekor. Keine Angst! Aber aufpassen!
Schreibe den ersten Kommentar