Dass Großbauprojekte manchmal andere Wege nehmen als geplant, weiß man nicht erst seit dem BER-Desaster. Schon vor 130 Jahren wurde ein riesiges Projekt geplant, das jedoch niemals Wirklichkeit geworden ist.
Stellen Sie sich vor, anstelle der Grünflächen auf dem Savignyplatz gäbe es heute ein großes Wasserbecken. Von Nordosten her würden Dampfer einfahren und am Steg stiegen Ausflügler ein, die auf dem Kanal Richtung Wannsee weiter ins Grüne fahren. An den Ufern des Bassins würden im Sommer die Menschen in der Sonne sitzen, an Tischen ihren Kaffee oder eine Berliner Weiße trinken. Die Kantstraße würde das große Wasserbecken als Brücke überspannen.
All dies ist keine Spinnerei, sondern war tatsächlich so geplant. Im Zuge der Stadterweiterung im 19. Jahrhundert sollte eine neue Wasserverbindung hergestellt werden zwischen der Spree und dem Wannsee, weil der Umweg über Spandau schlecht schiffbar war. Dies lag vor allem am teils zu flachen Flussgrund, aber auch an zu niedrigen Brücken, die Spree und Havel überspannten. Schon bei mittlerer Wasserhöhe konnte ein Teil der Schiffe dort nicht mehr fahren.
Parallel zur Stadtplanung von James Hobrecht reifte der Plan, eine Umfahrung zu bauen. Hobrechts Bebauungsplan wurde als Grundlage genommen, um darin eine neue Wasserstraße einzubauen, den rund 18 Kilometer langen Süd-West-Kanal. Er sollte von der noch heute existierenden Schleuse am Landwehrkanal Richtung Süden abzweigen, entlang von Fasanen- und Uhlandstraße auf den Savignyplatz einbiegen und von hier durch die Knesebeckstraße Richtung Wilmersdorf. Von dort aus war geplant, ihn durch die Grunewaldseen zum Wannsee in die Havel zu führen. Zwischendurch war ein Hafen am heutigen Olivaer Platz vorgesehen sowie mehrere Haltestellen auf dem Weg zum Grunewaldsee.
Mit der Planung beauftragt war das Ingenieurbüro Havestadt & Contag, das seinen Entwurf im Jahr 1883 vorstellte. Die Gegend rund um den Savignyplatz war zu diesem Zeitpunkt zwar nur spärlich bebaut, jedoch existierte bereits die Stadtbahntrasse, so dass die Kanalplanung darauf Rücksicht nehmen musste. Die Planer schrieben dazu:
Wie bereits erwähnt wurde, liegt der geeignetste Punkt einer Unterführung des Kanals unter der Stadtbahn im Zuge der Knesebeckstrasse; um diese zu erreichen, ist die Trace so gewählt, dass der Kanal, nach Unterschneidung der Hardenbergstrasse, in einer scharfen Curve an der hinteren Seite des zur Villa Mendelssohn gehörigen Gartens vorbei, das noch unbebaute Terrain durchdringend, den im Bebauungsplan vorgesehenen grossen Platz – des Vereinigungspunkt von 7 Strassen – erreicht; auf letzterem ist ein Wendebassin projektiert, welches bis zur Vollendung der Bebauung der benachbarten Stadttheile mit Vortheil auch als Hafenbassin verwerthet werden kann. Die Strasse No. 18 [heute Uhlandstraße] wird von dem Kanal schiefwinkelig geschnitten. … Die Ableitung der Strasse No. 18 bei ihrem Zusammentreffen mit dem Kanal wird die einzige wesentliche Aenderung des bisher festgestellten Bebauungsplanes sein. …
Die Ausmündung des Kanals liegt im Zuge der Knesebeckstrasse und zwar ist der Kanal in zweischiffiger Breite (18,0 m) in der Mitte der jetzigen Strasse angenommen, wodurch die Theilung derselben in zwei Uferstrassen nothwendig wird. Die hierdurch eintretende Verbreiterung der Knesebeckstrasse bis auf 52 m – excl. Vorgärten – würde zwar auf Kosten der angrenzenden Bauterrains erfolgen, dieselben aber zweifellos in ihren Werthe steigern, weil damit der Charakter der Strasse wesentlich gehoben wird.
Tatsächlich wäre nicht nur der Charakter der Knesebeckstraße extrem verändert worden, sondern z.B. auch der des Kurfürstendamms, der dann als Brücke den Kanal überspannt hätte.
Die Wahl auf die Knesebeckstraße für die Unterführung der Stadtbahn hatte zwei Vorteile: Zum einen das als Savignyplatz geplante Wasserbassin vor der Ausfahrt, was bessere Rangiermöglichkeiten geboten hätte. Vor allem aber hatte die Stadtbahntrasse durch eine um vier Meter größere Lichtweite sowie tiefere Fundierung der Pfeiler, als die Alternativen Fasanen- und Uhlandstraße.
Mitte der 1880er Jahre wuchs die Stadt rasant. „Berlin ist aus dem Kahn gebaut“ heißt es, womit gemeint ist, dass ein Großteil des Baumaterials, vor allem Ziegel und Holzbohlen, über die Kanäle in die Stadt kamen. Besonders die Kalkberge Rüdersdorf waren wichtiger Lieferant für die Neubauten in Berlin und all seine vorgelagerten Gemeinden wie Charlottenburg. Rüdersdorf war über Kalk-, Flaken-, Dämmeritzsee und schließlich die Spree an Berlin angebunden. Ein Kanal quer durch die damals noch selbstständigen Gemeinden Charlottenburg und Wilmersdorf würde deren Aufschwung sehr unterstützen.
Letztlich aber kam alles anders. Schon vor der Planung des Süd-West-Kanals wurde seit 1861 auch über eine südliche Umfahrung der Stadt nachgedacht, die allerdings doppelt so lang würde. Der Vorteil war, dass er hier vor allem über Felder geführt wurde, bei denen keine Rücksicht auf bestehende oder geplante Stadtbebauung genommen werden musste. Außerdem bekämen die südlich gelegenen Gebiete eine Verbindung zu Havel und Spree (bzw. die Dahme), auch ohne Umweg über den Landwehrkanal.
Damals wie heute wurden Großprojekte hauptsächlich nach politischen Gesichtspunkten beschlossen. Und so setzte sich der Teltower Landrat Ernst Stubenrauch (genannt „Der Eiserne“) 1885 durch, der den Südkanal favorisierte. Stubenrauch erhoffte sich von dem Kanal, dass sein Landkreis Teltow, der damals noch von Zehlendorf bis Köpenick reichte, wirtschaftlich aufgewertet würde. Um den Widerstand gegen die Entscheidung für den Teltowkanal und gegen den Süd-West-Kanal zu schwächen, beauftragte er ebenfalls das Ingenieursbüro Havestadt & Contag. Dies hatte erst kurz zuvor eine 76-seitige Broschüre zur Planung des Süd-West-Kanals veröffentlicht.
Am 22. Dezember 1900 erfolgte im Park von Babelsberg der erste Spatenstich für den neuen Teltowkanal, auf den Tag genau sechs Jahre später wurde das Bauwerk auf gesamter Länge eröffnet. Damit war die Planung für den Kanal durch Charlottenburg und Wilmersdorf hinfällig. Und am Savignyplatz liegen keine Ausflugsdampfer.
Dann gäbe es jetzt eine Wasserstadt in der „City West“ – oder wenigstens ein zweites Engelbecken.
Mal sehen, ob bei der geplanten „Wasserstadt“ in Verlängerung der Siemensbahn mehr wird, als aus diesem Projekt damals.