Leipziger Platz weder gestern noch morgen

Wo ist der Leip­zi­ger Platz? Er hat eine Vergan­gen­heit; eine Zukunft hat er wohl auch. Aber hat er eine Gegen­wart? An diesem kalten Winter­sonn­abend habe ich sie gesucht. Den Pots­da­mer Platz sieht zur Zeit auch niemand als einen Platz. Aber es scheint ihn zu geben. U- und S‑Bahn-Statio­nen verkün­den seinen Namen.
Ich komme die Stre­se­mann­straße herauf. Es gibt viel Nichts mit großen Ankün­di­gun­gen. Gegen­über der mittel­mee­risch blauen Tafel der “A+T Projekte am Pots­da­mer Platz” bleibe ich stehen und beob­achte die Menschen, die aus dem Unter­grund der U2 kommen. Wohin gehen sie? Es sind hier kaum Sonn­abends-Ziele. Doch: Die Info-Box ist ein Ziel. Das grell-rote Recht­eck auf Stel­zen wirkt wie ein Ding für die Meere zur Beob­ach­tung der Wellen und den Wassern. Am lang­sa­men Fahr­stuhl frie­ren die Besu­cher. Auf die Dach­ter­rasse über die Außen­treppe. Das kostet 2,- Mark, Wech­sel­geld nur im 1. OG: “Hinauf um hinauf zu kommen, wie macht man das?” fragt mich ein engli­scher Student.

Im Inne­ren des Kastens kann man “heute die Stadt von morgen” sehen. Ich werde heute nicht prüfen, ob ein Magier in der Box tatsäch­lich dieses uner­füll­bare Verspre­chen erfüllt; heute will ich die Stadt von heute sehen. Die Gegen­wart ist immer vorbei. Ehe das Wort ausge­spro­chen ist, ist sie Vergan­gen­heit; ich will die Zeit bis zum Anbruch der Dunkel­heit als Gegen­wart anse­hen.
Solange es hell ist, will ich den Leip­zi­ger Platz suchen; seine klas­si­sche Acht­eckig­keit bilden Stadt­pläne noch immer ab. Die Grenze zwischen den Bezir­ken Kreuz­berg und Mitte ist nicht auszu­ma­chen. Je norma­ler die Zeiten sind, um so weni­ger sieht man die Gren­zen. Ein nach­träg­lich verb­un­te­ter Mauer­rest steht noch da. Im Sommer auf den Touris­ten­bän­ken der Erfri­schungs­bude kann es heißen: Damals war’s… Das Gelände rechts nennt sich mehr­fach “Bann­kreis”, ein Wort aus dem Hexen­al­pha­bet; wovor muss das Parla­ment sich mit solchen Schil­dern schüt­zen? Komi­sche Rechts­er­in­ne­run­gen an die Jugend der Demo­kra­tie, als sie eine schmale Schneise im Feudal­staat war, hier ist der Leip­zi­ger Platz also nicht. Ich versu­che einige Minu­ten lang, die Leip­zi­ger Straße zu über­que­ren, aber dafür bin ich zu alt. Ich benutze den Stra­ßen­tun­nel des U‑Bahnhofes.

Unten ist es lebhaf­ter als oben, Ruhle­ben, Vine­ta­straße: schöne Unter­grund­na­men. Unten ist die Welt schon wieder ziem­lich in Ordnung. Sind die Menschen eigent­lich Höhlen­be­woh­ner? Der Ausgang der U‑Bahn-Station nörd­lich der Leip­zi­ger Straße heißt natür­lich auch “Pots­da­mer Platz”, die darüber liegende Bus-Halte­stelle heißt “S- und U‑Bahnhof Pots­da­mer Platz”, sie liegt aber viel­leicht am Leip­zi­ger Platz. Ich bilde mir das jeden­falls ein, während ich neben den gelben Züban-Contai­nern herauf steige und zwischen weiß-roten Absper­run­gen wieder auf einer falschen Stra­ßen­seite stehe. Die Züban-Contai­ner gehö­ren zu der Baustelle Mosse-Palais. Hier, an der Baustel­len­ta­fel, zum ersten Mal eine Adresse, die den Leip­zi­ger Platz im Namen führt. Die Baustelle ist aber still­ge­legt. Sie ist in die Verwal­tungs-Gerichts­bar­keit verla­gert. Eine Bauge­neh­mi­gung soll fehlen, der Bauherr hat der Macht des Fakti­schen zu sehr vertraut, die zustän­dige Stadt­rä­tin ist auf dem Fahr­rad vorüber gera­delt und hat sich gewun­dert.
Die CDU will hier — hört man — haupt­städ­tisch unter­kom­men. Zur Zeit legen der Winter und das Baurecht ihre weißen Planen über die Verspre­chun­gen; Büro­flä­chen werden groß­flä­chig ange­bo­ten, im Allein­auf­trag von Anger­mann, aber gleich dane­ben auch von Müller, Makler-Konkur­renz um eine Zukunft, die sich mühsam aus der Gegen­wart erhebt.
Die Vergan­gen­heit des Hauses, das auf seiner Nord­seite hinter grüner Plas­ti­kum­klei­dung eine hoff­nungs­frohe Farbe wirft, verbin­det mit vielem, jetzt steht es in seiner Zwei­tei­lig­keit allein. Der Leip­zi­ger Platz ist eine Brach­flä­che hinter Draht­git­tern, “Baustel­len­si­che­rung Billka Dall­gow”, diese kleine Inschrift ist alles, was hier auf Baustelle hindeu­tet. Die weiße Fläche über­deckt einen Krater; von dem Ort geht die Ruhe akzep­tier­ter Zerstört­heit aus. Mehr als ein halbes Jahr­hun­dert hat die Welt akzep­tiert, dass hier nichts ist. Mehr als ein halbes Jahr­hun­dert war die Stadt ein Körper, dem das Herz ausge­ris­sen war, eine lebende Leiche. Hier ist sie noch nicht reani­miert. “Stra­ßen verbin­den” steht auf dem groß­flä­chi­gen Plakat neben der geschlos­se­nen Souve­nir-Bude, hier tren­nen sie zur Zeit noch. Die Plakate sind das Leben­digste am Leip­zi­ger Platz. Vom Bran­den­bur­ger Tor her klingt Musik. Ein Zirkus. Er nennt sich Aeros; auf den Plaka­ten setzt er das anfäng­li­che A in necki­schen Klam­mern, in der Abend­vor­stel­lung also kein Unter­neh­men “für die ganze Fami­lie”. Ich gehe auf die Reste des Hitler-Bunkers zu. Vom drit­ten und über­haupt vom deut­schen Reich sieht man — wenn mans weiß — nur noch diesen öden Hügel. Ich biege in die Voßstraße ein. Mitten in Berlin bin ich hier ganz allein, keine ande­ren Menschen. Das Beste, was die DDR hinter­las­sen hat, sind die Wohn­häu­ser nörd­lich der Voßstraße, sagte Deutsch­lands bester Bauhis­to­ri­ker gestern zu mir. Vor allem, dass es Wohn­häu­ser sind, die traut sich niemand abzu­rei­ßen; statt Minis­ter­gär­ten Park­plätze für die Mieter der WBM. Es gibt viele freie Plätze.

Der Leip­zi­ger Platz heißt seit dem 15. Septem­ber 1814 nach der “Völker­schlacht” von Leip­zig; Russen, Schwe­den, Öster­rei­cher gegen Fran­zo­sen, die aber wie ihre Feinde auch oft Deut­sche waren. Das Volk siegt über sich selbst, eine ironi­sche Schlacht, “Frei­heits­kriege”: weil das Volk, indem es seine Söhne ster­ben ließ, seine Frei­heit aufgab für Fürs­ten von gestern. Es geschieht einem so benann­ten Platz gar recht, dass man nichts mehr von ihm sieht. Hier hat Berlins präch­tigs­tes Kauf­haus gestan­den, fertig 1904, ein Palast des Konsums, “kein Kauf­zwang” vermerkt der zeit­ge­nös­si­sche Baede­cker, um die Touris­ten hinein zu locken. Jetzt verlockt hier nichts. Im Plat­ten­bau die “Reprä­sen­tanz” der Stadt Hamburg, am ande­ren Ende die “Vertre­tung” des Landes Hessen, über dem Eingang vom Haus­meis­ter geschmückt mit drei weißen und drei roten Christ­baum­ku­geln. Hier unge­fähr ist das BGB, das hier wieder und immer noch gilt, gebo­ren worden. Der Geburts­ort ist fort. Die Straße “An den Kolon­na­den” führt nicht zu irgend­wel­chen Kolon­na­den.
Gegen­über lag einst das Reichs­ma­ri­ne­amt. In einen großen gelben Contai­ner verstauen Adoles­zen­ten die Leiche eines Weih­nachts­bau­mes, mit der sie nicht wuss­ten wohin, zufrie­den schla­gen sie sich in die Hände. Rechts in die Wilhelm­straße, um an den Minis­te­ri­ums­res­ten vorbei zum verschwun­de­nen Platz zurück­zu­keh­ren.
Die Spray­er­bot­schaf­ten an den Wänden lauten: “Gott ist unter uns. Rettet unsere Seelen! Nie wieder Deutsch­land!” und “Deutsch­land halts Maul!”

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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