Von Springer zu Döblin

Stallschreiberstraße links hinter den Bäumen

Grenz­gänge II

Wie sich das anhört: Von Sprin­ger zu Döblin! Es ist aber ein direk­ter Weg. Der Döblin-Platz, in dessen Nähe mein heuti­ger Weg enden wird, hat noch ein biss­chen von dem Berlin, in dem Alfred Döblins Alex­an­der­platz lag. Und das braun-goldene Sprin­ger-Hoch­haus in der Koch­straße, das wie ein Wach­turm an der Grenze steht, hat noch etwas von der alten Bundes­re­pu­blik. Mein heuti­ger Weg an der Grenze von Mitte und Kreuz­berg verläuft aber in einer Gegen­wart, in der DDR und Alt-BRD prähis­to­risch sind: Wir können zwar noch sehen, wo diese Staa­ten waren, aber gerade diese Reste sind dafür da, sich nicht zu erin­nern. Die Gegen­ständ­lich­kei­ten nehmen uns die Arbeit des Erin­nerns ab. Ich komme aus der U‑Bahn, Koch­straße. Mein Spazier­gang beginnt in der Zimmer­straße mit roten Arbei­tern vor dem blauen Himmel über der grau-blau verchris­to­ten Baustelle der “12 Geschäfts­häu­ser mit Läden, Büros, Tief­ga­rage”; im Früh­ling wird die Verpa­ckung fallen und den direk­ten Rossi frei­ge­ben. “Scheiße”, ruft einer der Arbei­ter vom glei­ßen­den Dach. Die Wirk­lich­keit ist zu direkt, sie produ­ziert Kalauer. Gegen­über den “12” Geschäfts­häu­sern, die in ihrer Verhül­lung wie eine einzige Burg ausse­hen, ein Abstell­platz mit Mauer-Memo­ra­bi­lien, die niemand mehr braucht. Das manns­hohe Holz­kreuz mitten unter den Bauma­te­ria­lien, Erin­ne­rung an einen drama­ti­schen Mauer­to­ten, wird nicht lange mehr hier blei­ben. Und wenn es hier blei­ben wird, wird es eine Verfrem­dung erfah­ren haben, in der der Name Peter Fech­ter nicht mehr der Name eines Menschen sein wird, kaum eines Ereig­nis­ses, ein verros­te­ter Säbel, den Kinder auf dem Schlacht­feld ihrer Groß­vä­ter finden, Hoppe­hop­pe­rei­ter.

Von der Axel-Sprin­ger-Straße in die Komman­dan­ten­straße. Komman­dante Sprin­ger. Er war erst 33, als er seinen Verlag grün­dete, 36 als er das “Hambur­ger Abend­blatt” hatte, gerade 40 mit der Bild-Zeitung, die Alt-BRD ist gar nicht denk­bar ohne ihn; als wir riefen “Enteig­net Sprin­ger!” mein­ten wir wohl nicht ihn. Was? Ich habe es verges­sen, um nicht prüfen zu müssen, ob ich damals im Irrtum war oder jetzt. Es ist wie mit Fech­ter. Ich zähle 12 Kräne. Der Wind ist kalt. “Bundes­bau­amt Berlin II Baulei­tung Bundes­dru­cke­rei”. Eine post­mo­deme Belie­big­keit: Produk­ti­ons­ge­bäude für Geld­scheine aus Deutsch-Mark, Brief­mar­ken, das Bundes­ge­setz­blatt. Herren in schwar­zen Mänteln halten die Termin­ka­len­der mit gefal­te­ten Händen vor den Bauch. Sie kontrol­lie­ren, ob die ande­ren arbei­ten, Know-how-Träger, “Symbol­ana­ly­ti­ker”, unser Rohstoff. Der wüste Park­platz gilt angeb­lich nur für Anwoh­ner mit dem Anwoh­ner-Park­aus­weis Zone 2. Die ande­ren müss­ten sich Zettel­chen aus dem Auto­ma­ten holen: “Betriebs­be­reit. Bitte zahlen”, niemand fühlt sich ange­spro­chen. Gegen­über, fast an der Alten Jakobstraße, etwa da, wo der Stadt-Komman­dant wohnte, nach dem die Straße benannt ist, das “Mode-Centrum Berlin Mitte”, im Haus­durch­gang aus Metall ein nack­ter Mann mit flehen­den Händen: Er muss ange­zo­gen werden; “Fabrik­ver­kauf” um die Ecke: “Damen­mode für jeder­mann”: ironi­sche Wider­sprüch­lich­keit der Wort­wahl.

Um die Ecke in die Stall­schrei­ber­straße. Nur auf der Kreuz­berg-Seite Häuser, auf der Mitte-Seite Brache, der Wind pfeift durch das trockene Unkraut. “Privat­grund­stück” ist ange­schil­dert, darun­ter aber in klei­nen Buch­sta­ben: “Bundes­ver­mö­gens­amt 2”: ein Staats­grund­stück also in Wirk­lich­keit, enteig­net von den einen, nicht zurück­ge­ge­ben von den ande­ren, immer deut­scher Staat. Die gepflas­terte Stall­schrei­ber­straße liegt in Kreuz­berg, eigent­lich ein Sand­weg in Mitte, Fami­lien von Krähen am Boden, sie weichen mir kaum aus, warten, dass ich weiter gehe, beob­ach­ten, kräch­zen heftig, dann schwei­gen sie, ich werde ihnen gleich­gül­tig.
Der Alex­an­dri­nen­straße, die ich nun errei­che, würde ich ihren alten Namen zurück­ge­ben: “Die Demme­rung”, das würde ich lesen als den Namen des Zwischen­be­reichs zwischen Tag und Traum (und nicht als den Damm, der vor Jahr­hun­der­ten den langen Weg befes­tigte). Wo das Schild steht “Feuer­wehr­zu­fahrt und Anlei­ter­mög­lich­keit für Mittel­woh­nun­gen”, das mich aus dem Schatz büro­kra­ti­scher Wort­schöp­fer mit einem neuen Wort beschenkt, verweile ich, um die Brach­flä­che in mich aufzu­neh­men, in die nur die Halle der Grund­schule in der Luisen­stadt hinein­ragt. “Rot Front lebt” ist ange­sprayt, der Text wider­legt sich selbst. Die Stadt­bra­che ist ein zeit­li­ches Denk­mal, in ein paar Jahren wird es fort sein, die Stall­schrei­ber­straße ist Jahr­hun­derte alt, längst weiß niemand mehr, was ein Stall­schrei­ber war, die Stadt ist dauer­haf­ter als ihre Beherr­scher. Die Sebas­ti­an­straße gleicht der Stallschreiber‑, Häuser in Kreuz­berg, in Mitte Brache. Umge­ben von undurch­sich­ti­gen Sistra-Wänden ein Contai­ner­dorf, ein Lager, TV-Schüs­seln ragen hervor: Hier wohnen die Arbei­ter. Unter silb­rig-blau glit­zern­den Alumi­nium-Fähn­chen eine Gebraucht­wa­gen-Schau. Viele Reifen­spu­ren im Sand: wie auf dem Manö­ver­ge­lände, Manö­ver des Kapi­ta­lis­mus, zuerst kommt er mit Autos.

Jetzt stehe ich, neben einem Boden­git­ter “made in GDR”, direkt über der U‑Bahn, Zug-Geräu­sche drin­gen herauf, der Boden zittert. Über die Hein­rich-Heine-Straße weiter durch die Sebas­ti­an­straße, die Kreuz­ber­ger Seite sieht jetzt aus wie aus dem Lehr­buch der Baustile. “Suchen Sie was?” ruft aus einem oberen Stock­werk ein Mann, als er mich die Fassade betrach­ten und schrei­ben sieht. Öffent­li­ches Schrei­ben erweckt schnell Aufmerk­sam­keit. “Nächs­tes Mal fragen Sie bitte, bevohr Sie unsere Blät­ter wegschmei­ßen” steht auf dem Glas eines Schau­kas­tens vor den Bara­cken der Neuen Waldorf­schule, der Text gefällt mir in Schreib­weise und Formu­lie­rung, das Bundes­bau­amt hatte weiter oben kein “bitte” nötig: “Fußgän­ger andere Stra­ßen­seite benut­zen”, die sich aber nicht benut­zen ließ.
Vom Döblin-Platz, vor den Resten der Markt­halle VII stehend, habe ich einen weiten Blick in die heran wach­sende Mitte, hinten die bunten Häuser der Hein­rich-Heine-Straße, rechts im nahen Hori­zont die Fassade der Michael­kir­che mit dem ragen­den Engel, der trotz allen Unheils, das er in dieser Gegend gese­hen hat, nicht auf- und davon­ge­flo­gen ist. Auf der Stra­ßen­brü­cke zwischen Legien- und Leusch­ner­damm verweile ich, hinter und vor mir eine der schöns­ten Stadt­an­la­gen Berlins: Urban­ha­fen, Wasser­tor­platz, Orani­en­platz, Engel­be­cken, am Ende die Michael­kir­che mit dem treuen Engel. “Lebt und lest” ist gegen­über ange­sprayt.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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