Vom Schönhauser Tor zum Drei-Bezirke-Eck

Vom Wedding, links Prenzlauer Berg, rechts Mitte

Grenz­­gänge V

Das Schön­­hauser Tor wird immer mehr Tor, Eingang und Ausgang, Mitte, Prenz­lauer Berg, unten und oben, von der Torstraße stei­gen die Stra­ßen auf, sie fallen zu ihr ab. Kommu­ni­ka­tion hieß die Straße die längste Zeit ihrer Geschichte, Verbin­dung, Verstän­di­gung, Austausch.
Bei Favella, brasi­lia­ni­sche Bar, biege ich, dicht an der Bezirks­grenze, in die Gormann­straße ein. Mit dem Stra­ßen­zug Gormann-/ Chori­ner Straße hebt Berlin sich an. Bis zur Fehr­bel­li­ner Straße steigt die Stadt; das Eckhaus Nr. 85 an dem klei­nen Stra­ßen­platz zur Zehde­ni­ker Straße, zeigt seine alte Fassade vor einem jungen blauen Himmel.
Schwarze Pumpe heißt die Kneipe, in der an der Ecke Fehr­bel­li­ner Straße freund­li­che junge Frauen anstän­di­ges Früh­stück verkau­fen. Drei junge Frauen am Nach­bar­tisch unter­hal­ten sich mit plas­ti­schen Gesten über die Männer der vergan­ge­nen Nacht.
Viele Häuser sind hier wie sie ein Jahr­hun­dert lang wurden, aber viele auch erneu­ert im Verspre­chen einer verwan­del­ten Stadt­zu­kunft. An manchen Wänden kann man noch lesen, wie man hier lebte, “Brenn­holz und Kartof­fel­scha­len”, neue Ansprayun­gen zeigen, wie mancher heute hier denkt: “Kein Gott, kein Staat, kein Miet­ver­trag”.

Links liegt am Stra­ßen­ende die Zions­kir­che; ich lasse sie auf diesem Spazier­gang mehr­fach links liegen; eine “Votiv­kir­che” heben die Führer hervor, als ob jeder heute noch wüsste, was eine Votiv­kir­che ist; zur glück­li­chen Effet­tung — heißt es — des Königs vor einem Atten­tat; dass der König / Kaiser sich gerade hier Dank­bar­keit erwar­tete, werden viele der dama­li­gen Quar­tiers­be­woh­ner eher als Drohung aufge­fasst haben. Rettet die Erde, steht an der Turn­halle der 1. Grund­schule Prenz­lauer Berg über exoti­schen Wand­bil­dern; hier haben sie Sprayer als Künst­ler offi­zia­li­siert.
Dort biege ich in die Schwed­ter Straße nach Westen. Die Straße verläuft in einer elegan­ten Biegung zur Kasta­ni­en­al­lee. Diese Allee liegt noch ziem­lich unre­no­viert da, die Apotheke gegen­über heißt Concor­dia, Eintracht, am west­li­chen Ende der Straße sehe ich das Handels­zen­trum aufra­gen, ich denke an Schalck-Golod­kow­ski und seine west­li­chen Geheim­dienst-Kolle­gen, die Straße verläuft direkt auf den Tegern­see.
In Wirk­lich­keit führt sie mich an der Grie­be­now­straße vorbei, benannt nach dem Groß­grund­be­sit­zer, dem die ganze Gegend gehört hat. Da hat er schwer Pinke gemacht, nach­dem Hobrecht, der Städ­te­pla­ner, hier eine Straße in seinen Plan gezeich­net hatte. 1862 war das. Die Kommune nannte die Straße nach dem Millio­när, der abge­sahnt hatte, die Witwe spon­serte dafür das Pfarr- und Küster­haus der Zions­kir­che, Gott hat sich gefreut, die Häuser sind noch da; Geld schafft Erin­ne­rung.

Die Grie­be­now­straße ist schön; die Eckhäu­ser hat die WBM elegant reno­viert, dann kommt eine leichte Biegung, und wieder sehe ich die Zions­k­ri­che vor mir. Ein indi­sches Restau­rant, das evan­ge­li­sche Pfarr­büro mit Ankün­di­gung einer Veran­stal­tung übers Juden­tum, der Kiez­la­den; er bietet selbst­be­wusst oder laut pfei­fend im kapi­ta­lis­ti­schen Billig­wald “unsere Produkte” an, gegen­über heißt es an der Haus­wand: “Den natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Konsens liqui­die­ren!”.
Wer sind die Nazis, gegen die hier auffäl­lig viele Sprayer demons­trie­ren?
Welche Verschwö­rung wird befürch­tet? Verfüh­rung des Wohl­stan­des, des Indi­vi­dua­lis­mus, des Solip­sis­mus? Während der Nazis­mus doch eine deut­sche Massen­be­we­gung war, auch viele, die hier wohn­ten, wähl­ten Hitler und sind mitmar­schiert in den brau­nen Kohor­ten.
Der Früh­lings­wind weht mir den Geruch gegrill­ter Billig­hähn­chen entge­gen vom Saskun Imbiss und Gewürz­düfte vom Kung Fu, Ecke Fürs­ten­ber­ger Straße, die ich hinun­ter gehe, um einen Blick auf den Arko­na­platz zu werfen, den ich so schön finde, in jeder Jahres­zeit.
In meinem Text “Vom Arkona- zum Vineta­platz” habe ich dieses Jahr schon über seine Winter­lich­keit geschrie­ben. Jetzt liegt er im Forsy­thi­en­gelb.

Wo die Schwed­ter Straße aus Mitte und die Oder­ber­ger Straße aus Prenz­l­Berg auf die Bernauer Straße tref­fen, stoßen drei Bezirke anein­an­der. Ich versu­che auf der geodä­tisch rich­ti­gen Stelle zu stehen. Hier ist es kühl und windig. Gegen­über beginnt eine Rasen­flä­che, die sich Mauer­park nennt.
Schon die jüngste Geschichte muss erklärt werden. Und unter ihr liegen viele andere wie die sieben Mauern Trojas unterm Schutt der Zeiten, sie konn­ten nicht mehr zu Wirk­lich­keit ausge­gra­ben werden, alles Mythen. Eine Mythe, eine Lese-Erin­ne­rung steigt in mir auf, fast zufäl­lig. Erich Schmidt. Im April 1933 “schon im Zustand sozi­al­de­mo­kra­ti­scher Halb­le­ga­li­tät” (wie Willy Brandt schreibt) wurde dieser aufrechte Demo­krat, ein junger Mann aus Prenz­lauer Berg, Vorsit­zen­der der SAP, der sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Arbei­ter­ju­gend, von einem Partei­vor­stand aus der SPD ausge­schlos­sen, der die Partei eben aus der poli­ti­schen Wirk­lich­keit ausge­schlos­sen hatte, um ein Lese­buch­blatt zu gewin­nen.
In seinem Buch “Meine Jugend in Gross-Berlin” hat Schmidt, als er längst US-Ameri­ka­ner war, auch diesen Ort hier, an dem die Gegen­wart dreier Bezirke im Winde liegt, beschrie­ben: Aus der Schwed­ter und der Oder­ber­ger Straße kamen wir heraus zum “Exer”, zum ehema­li­gen Exer­zier­platz, der “ein riesi­ger stei­ne­ner Sport­platz gewor­den war … Ein Anzie­hungs­punkt für Zehn­tau­sende … Der Exer war zum Drachen­stei­gen ideal. Vater baute ein zwei Meter langes Mons­ter­ex­em­plar, ein rich­ti­ges Status­sym­bol, mit langen bunten Ohren und einem sechs Meter langem Schwanz”, im star­ken böigen Wind steigt der Drache auf, hält sich in der Luft, jetzt sehe ich ihn hier, ein Zeichen, eine unklare Erin­ne­rung, nichts war golden an den 20er Jahren, bis hier­her kam die Avant­garde nicht.
Der kleine Eckplatz an der Schön­hol­zer Straße eröff­net einen Blick in einen engen Hinter­hof; auf der ande­ren Seite Schön­hol­zer-/ Ecke Brun­nen­straße eine ähnli­che Aus- und Einsicht. Ein schwer Betrun­ke­ner kommt auf mich zu: “Wat siehsde hier?”; die Vergan­gen­heit, die Gegen­wart; auf dem roten Plakat der IG Bau steht: Die da oben strei­chen ein, die da unten werden gestri­chen.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Karl-Ludwig Lange, CC BY-SA 3.0

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Er leitete eine Wider­stands­gruppe von weite­ren jüdi­schen Jung-Kommu­nis­ten, ihre Akti­vi­tä­ten bestan­den vor allem aus Sabo­tage, Vertei­len von Flug­blät­tern und Flucht­hilfe für Juden in den jüdi­schen Zwangs­ar­bei­ter­ab­tei­lun­gen von Siemens. […]

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