Blick durch den Zeittunnel

Marschallbrücke

Grenz­gänge IX

Von der Marschall­brü­cke sieht man Berlin. Natür­lich sieht man nicht Berlin von der Marschall­brü­cke. Aber man sieht, wie der Haupt­staat sich nieder­lässt in der Haupt­stadt. Er hat die Stadt besich­tigt, hat sie unge­nü­gend gefun­den, nun macht er sie neu.
Von der Marschall­brü­cke blicke ich in alle Himmels­rich­tun­gen. Die Ufer­wege sind aufge­ho­ben; sie haben ihre Öffent­lich­keit zunächst an Frau Süßmuths Bagger­fir­men verlo­ren. Hier heißt “Deut­scher Bundes­tag”: nicht für Bürger, Entbür­ge­rung. Aber die Baustel­len-Pali­sa­den werden fallen, man wird die gesperr­ten Wege wieder entsper­ren. Könnte man es nicht jetzt schon an Ort und Stelle verspre­chen? “Liebe Bürge­rin­nen und Bürger, liebe Besu­cher Berlins, der Schiff­bau­er­damm, das Kapel­len­ufer, das Reichs­tags­ufer müssen für die Reichs­tags-Reno­vie­rung und für Neubau­ten des Deut­schen Bundes­ta­ges gesperrt werden bis zum … Sie sind dann für alle wieder offen. Wir bitten um Ihr Verständ­nis”.
Die Marschall­brü­cke ist während­des­sen nur ein enger Fußgän­ger­über­weg zwischen hohen Draht­git­tern. Die ältere Frau, der es schwer fällt, die engen durch­sich­ti­gen Metall­stu­fen hinab zu stei­gen, sagt: “Also Türme bestei­gen, das könnt ich nicht mehr!” Der Steg scheint im Winde zu schwan­ken. Ein weiß­haa­ri­ger alter Mann, dem ein freund­li­cher junger Mann, der vom Fahr­rad gestie­gen ist, erklärt, was er sieht, sagt ängst­lich: “Ich hätte nicht rauf­kom­men sollen, nun muss ich wieder runter.” Der junge Mann hilft ihm hinab: “Sehn Sie, das ist Berlin”, sagt er.
Dann fährt er die Luisen­straße nord­wärts. Dort liegt über­wie­gend gestern: Ganz hinten das hohe Quer­haus der Charité; in der Nähe ist die DDR parla­men­ta­risch verziert worden, in einem Haus, das nach zwei Haupt­künst­lern der Ampu­ta­tion benannt ist; im “Langen­beck-Virchow-Haus” hatte 26 Jahre lang die Volks­kam­mer der DDR ihren Sitz, hier ist Wilhelm Pieck als einzi­ger Präsi­dent dieses Staa­tes der großen Hoff­nun­gen und gerin­gen Erfül­lun­gen zwei­mal bestä­tigt worden.
Die Mieter der Plat­ten­häu­ser rechts vorne, dicht an der Brücke, sind nun mitten drin im werden­den neuen Staat. Von ihren Balko­nen sehen sie, wie Deutsch­land umge­gra­ben wird. Die Wegwei­ser nach Osten weisen zu “Brokers Bier Börse, Restau­rant ab 8 Uhr, Speku­lie­ren ab 18 Uhr” und zum Berli­ner Ensem­ble wie zu einem Museum. Von Peymann ist weit und breit nichts zu sehen: wer weiß, wie’s hier aussieht, wenn er wirk­lich kommt; wer weiß, ob er wirk­lich kommt und ob es das BE dann noch gibt. Hinten links liegt es. Bertolt Brecht ist erst 100 Jahre alt und schon sehr klas­sisch.

Der Bahn­hof Fried­rich­straße über den Spree­was­sern ist grau verklei­det. Wenn man von der Marschall­brü­cke nach Westen schaut, kann man sich nicht mehr vorstel­len, wie voll­stän­dig und wie erhal­ten der Reichs­tag aussah, als Christo ihn verklei­det hatte. Er sah aus, als ob der lange in Frie­den gele­gen hätte, jetzt sieht er aus, als ob er lange im Krieg gele­gen hätte. Über der Fassade erhebt sich bereits eine hölzerne Andeu­tung der Neokup­pel. Sie wird eine Erin­ne­rung an die geschicht­li­che Kuppel sein, mit der das 2. Deut­sche Reich das Parla­ment als Schloss verklei­dete. Ich habe Schwie­rig­keit mit einem neu verkup­pel­ten Reichs­tag. Die Kuppel ist unde­mo­kra­tisch; sie zitiert aus falschen Texten, unter der Kuppel wird es der Bundes­tag schwer haben.

Vor dem Reichs­tag arbei­ten die bunten Kräne, sie bauen Büros für die Abge­ord­ne­ten. “Was bei uns der Lange Eugen ist”, sagt ein rhei­ni­scher Vater zu seiner müde folgen­den Fami­lie, “das bauen sie hier wieder. Und das Haus, an dem wir eben vorbei sind, das war auch schon für den Bundes­tag”. Alles scheint unfer­tig, wenn man von der Marschall­brü­cke sieht, auch das, was schon fertig war. Der Kontext ändert sich. Nur im Süden, hinten am Pari­ser Platz, dem Platz der Täter, das Adlon, grün­be­dacht und schwarz-rot-gold beflaggt: fertig und in Erwar­tung.
Auf der Treppe des Hygiene-Insti­tuts sitze ich und schaue den Kränen und Baggern zu. Die Tür hinter mir öffnet sich in eine andere Welt. Die medi­zi­ni­schen Größen von gestern in Fotos an der schmut­zi­gen Wand, stille freun­di­che Studen­ten kommen herein und gehen hinaus. Ich hocke auf der Grenze zwischen dem Gewe­se­nen und dem Werden­den, habe nicht das Gefühl, mich im Seien­den aufzu­hal­ten.
“Mensch, hier muss man sich ja trauen”, sagt eine Frau, die die obere Wilhelm­straße offen­bar für ungang­bar gehal­ten hatte. Viele Fußgän­ger sehen hier aus wie Expe­di­ti­ons­teil­neh­mer.

Zwischen den dicken Beton­wa­gen ein bunter hollän­di­scher Touris­ten­bus. Was sehen die Nach­barn hier? Deutsch­land legt Baustel­len zwischen sich und siene Geschichte. Die Doro­theen­straße, die im neuen Deutsch­land nach einer Kurfürs­tin heißen muss und ncht nach einer Parla­ments-Präsi­den­tin heißen darf, ist eine einzige Baustelle, am schma­len Fußgän­ger­weg ein klei­nes Plakat der IG Bau: “17.000 Bauar­bei­ter in Berlin arbeits­los. Wir haben die Schnauze voll”.

Rechts die obere Ebert­straße liegt hinter einer abwei­sen­den rot-weißen Schranke, “Baustel­len­zu­fahrt Doro­theen­blö­cke”; das Bauschild verkün­det:” Die zentra­len Baumaß­nah­men des Deut­schen Bundes­tags im Parla­ments­vier­tel Spree­bo­gen”; gegen das Wort “Maßnahme” sollte es ein Vorur­teil geben, “Parla­ments­vier­tel” ist für die Gegend ein neues Wort, auch eine Umbe­nen­nung des Gewe­se­nen. Am grünen Zaun der Ebert­straße, deren Namen die deut­sche Geschichte stets lini­en­treu nach­voll­zo­gen haben, weiße Kunst­stoff­kreuze mit Namen von soge­nann­ten Maueropfern;wenige sehen genau hin. Sogar an das “unbe­kannte Mauer­op­fer” ist gedacht. Dieser Anklang an den unbe­kann­ten Solda­ten versucht ins Helden­hafte zu trans­por­tie­ren, was man mora­lisch und persön­lich nehmen müsste — das ist post­mo­der­nes Denken (oder uralt: Das Volk bringt die Opfer und darf nach­her der Geschichte auf schma­len Wegen ein biss­chen zuse­hen). Dieser Teil der Ebert­straße, zwischen Reichs­tag und Bran­den­bur­ger Tor, ist eine Kurz-Meile, eine post­mo­derne Zeile gedräng­ter Geschichte, ich müsste sagen: Geschichts­phi­lo­so­phie. Aus Westen und Osten biegen die Autos ein, die gelben Beton­si­los verstel­len das, was übrig geblie­ben ist, die Beton­kerne neuer Häuser, die später mit Fassa­den der Schein­bar­keit verklei­det werden, rücken von der Seite eng an das Bran­den­bur­ger Tor heran, auf der sich früher das “Reich des Bösen” befand. Man sollte diesen Teil der Ebert­straße Bonner Straße nennen (nicht nur den Platz vor dem Tor), damit mitten im neuen Deutsch­land eine Erin­ne­rung bleibt an das knappe halbe Jahr­hun­dert, in dem Deutsch­land teil­weise ein Staat ohne Ehrgeiz war. Ach nein, der Satz klingt profes­so­ral, hohl, ich verwerfe den Vorschlag. Die deut­schen Erin­ne­run­gen sind nicht eindeu­tig, Verdrän­gen ist besser als Erin­nern.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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