Parallelwelt Nacht

Es sind die spezi­el­len Nächte, die meinen Job als Taxi­fah­rer schön machen, trotz der meist schlech­ten Bezah­lung. Auch dies­mal fing die Schicht nicht gut an. Nach fünf Stun­den gerade 44 Euro auf der Uhr, was ca. 15 Euro Netto­ver­dienst entspricht. Man muss sich dann zwin­gen, nicht nach­zu­rech­nen und vor allem nicht frus­triert zu werden. Nach einer halben Stunde fuhr ich wieder los, es war einfach abso­lut nichts los. Feri­en­an­fang, viel zu warmes Wetter, viele Leute auf der Straße, aber leider keine Fahr­gäste. Ich fuhr durch den Tier­gar­ten, Großer Stern, tags­über steht hier oft ein Freund von mir, der Haupt­stadt­pi­lot mit seiner Rikscha. Weiter nach Char­lot­ten­burg, die Kant­straße runter, als mich kurz vor dem Savi­gny­platz eine Dame winkte. Sie wollte nach Pots­dam. Bingo!

Auf dem Weg zur AVUS erklärte sie mir die Fahr­stre­cke, Auto­bahn­aus­fahrt Babels­berg, Stern, Horst­weg, kenne ich alles. Wir fach­sim­pel­ten über das Jagd­schloss Stern, das dort versteckt in der Nähe steht und dem Stadt­vier­tel seinen Namen gibt. Ich erzählte ihr von Hanno Wupper und sie mir über ihre Kind­heit rund um das kleine Schlöss­chen. Als ich sie zuhause absetzte, zahlte sie die 49 Euro mit drei Zwan­zi­gern.

Zurück nach Berlin wollte ich nicht wieder über die Auto­bahn, sondern quer durch Pots­dam. An der Schiff­bau­er­gasse sah ich mehrere Mann­schafts­wa­gen der Poli­zei, dazu viele Anzug­trä­ger und sogar einige Armee-Unifor­men mit Lametta. Außer­halb Berlins darf ich nicht mit ange­schal­te­tem Taxi­schild fahren, auch Pots­dam ist natür­lich ein ande­rer Land­kreis. Trotz­dem stürm­ten gleich zwei schick geklei­dete Pärchen auf mich zu und begrüß­ten mich, als würden sie bereits seit Stun­den dort warten. Sie woll­ten in ein Hotel auf der ande­ren Seite der Stadt. Auf der Fahrt erzähl­ten sie, dass es einen großen Empfang des Landes­fürs­ten gäbe, Hunderte von Leuten würden in den nächs­ten Stun­den noch ein Taxi brau­chen. Und natür­lich bin ich auf dem Rück­weg wieder dort hin, wieder herz­lich begrüßt, wieder in ein Pots­da­mer Hotel. Das ging alles schnell und wieder­holte sich insge­samt sechs­mal.

Natür­lich gibt es auch in Pots­dam Taxis, aber anschei­nend spre­chen sich dort solche Events nicht rum. Und nachts sind kaum noch welche unter­wegs. Gerade vier­mal habe ich dort Taxis mit P‑Kennzeichen getrof­fen, drei­mal schau­ten sie mich als Berli­ner Fahrer sehr böse an, droh­ten sogar mit der Faust — aber fuhren dann doch lieber mit ihren Fahr­gäs­ten los.

Es hätte meinet­we­gen noch ein paar Stun­den so weiter­ge­hen können, aber leider fahre ich ein Erdgas-Auto und der Tank war schon im roten Bereich. Da ich in Pots­dam keine entspre­chene Tank­stelle kenne, kam es mir sehr gele­gen, dass meine letzte Fahr­gäs­tin von dort nach Wann­see wollte. Insge­samt habe ich in Pots­dam inner­halb von zwei­ein­halb Stun­den rund 90 Euro Umsatz gemacht, plus der ursprüng­li­chen Fahrt aus Char­lot­ten­burg. Es war das genaue Gegen­teil zu den ersten Stun­den meiner Schicht.

In Wann­see ange­kom­men musste ich erst­mal raus­fin­den, wo die nächste Erdgas­tanke ist, die auch noch nachts geöff­net ist. Auf dem Weg dahin fuhr ich über die Havel­chaus­see Rich­tung Heer­straße, 10 Kilo­me­ter durch den Wald. Nachts ist das eine wunder­volle Stre­cke und auch abso­lut leer, weil dort nach Mitter­nacht nur Taxis fahren dürfen.
Etwa auf der Hälfte der Stre­cke hielt ich an einem der klei­nen Park­plätze. Die Außen­tem­pe­ra­tur betrug 24 Grad. Ich zog mich aus und ging ein paar Meter in die Havel. Leider hatte das Wasser nicht die erhoffte Wärme, aber das war egal. Im Sommer habe ich immer ein Hand­tuch dabei, genau für solche Gele­gen­hei­ten. Das brau­che ich aber gar nicht zum abtrock­nen, nur zum Drauf­le­gen. Getrock­net bin ich inner­halb von Minu­ten von allein.

Nachts bei Voll­mond an der Havel, das ist herr­lich. Keine Moto­ren­ge­räu­sche, kein Geschrei, nur unde­fi­nier­bare Geräu­sche von der ande­ren Seite der Straße. Als Stadt­mensch, kann man ja gerade mal das Gurren von Tauben vom Grun­zen der Wild­schweine unter­schei­den. Keine Ahnung, was dies für Geräu­sche waren, viel­leicht Wald­geis­ter, Aliens, Rehe oder Zombies. Ich hatte trotz­dem keine Angst, sondern genoss die halbe Stunde in der dunk­len Natur am Fluss.

Die Weiter­fahrt bei offe­nem Fens­ter war, als würde ich durch einen Tunnel fahren. Rechts und links kamen die Bäume oft recht nah an die Straße, nach vorn sieht man nicht weiter als 50 Meter. Auch wenn ich den Wald nur durch­querte, fühlte ich mich doch mit ihm verbun­den. Ich muss unbe­dingt mal wieder tags­über hier hin, nicht nur zum Wasser, sondern wieder rein in den Grune­wald. Es ist schon wieder viel zu lange her.

Nach neun Kilo­me­tern stehen wieder Later­nen an der Straße, nicht hell, aber dort beginnt die Zivi­li­sa­tion. Die Straße Am Post­fenn hoch, ein letz­tes Stück­chen durch den Wald und dann der Kontrast der Heer­straße. Etwa 100 Meter vor der Tank­stelle verließ mich der letzte Hauch Erdgas, das Auto schal­tete auto­ma­tisch auf den Benzin-Nottank um. Das war bestes Timing!

Auf meiner Fahrt nach Hause bekam ich noch einen Winker, der mir erzählte, er würde am nächs­ten Tag nach Kanada flie­gen. Der Natur wegen. Ich kann ihn gut verste­hen.
Die letz­ten Kilo­me­ter waren unge­wöhn­lich leer, kaum Autos auf der Straße. Alles so selt­sam vertraut. Die Nacht ist eine eigene Welt, eine Paral­lel­welt zum lauten, vollen und heißen Tag.

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In diesem Moment läuft in Ägyp­ten eine Revo­lu­tion. Hundert­tau­sende sind auf der Straße, seit Husni Muba­rak am Nach­mit­tag seinen Rück­tritt erklärt hat. Aller­dings ist er nicht selbst aufge­tre­ten, sondern sein Vize­prä­si­dent Omar Sulei­man. Muba­rek ist […]

8 Kommentare

  1. Hey Aro. Schon wieder Schleich­wer­bung :-) Danke für deine schöne Geschichte. Ich kann gut mitfüh­len. Auch ich mochte früher die späten Nächte in Berlin ohne Menschen und Verkehr beson­ders. Es ist — wie Du schreibst — ein eigene Welt. Die Stadt gehört dann Dir alleine. Auch im Winter nach Neuschnee mag ich die Stille der Nacht — dann ganz ohne (Natur-)Geräusche wie in einem Watte­bausch.

    Und ja — das “Faust­recht” habe ich auch schon auf der Straße erlebt. Es sind eben doch sehr viele primi­tive Menschen die dort ihr Brot verdie­nen müssen.

    Allzeit gute Reise!

  2. … und noch ´n Gedicht:

    Doktor Wald

    Wenn ich an Kopf­weh leide und Neuro­sen,
    wenn ich mich unver­stan­den fühle oder alt,
    wenn mich die Musen nicht lieb­ko­sen,
    dann konsul­tiere ich den Wald.

    Er ist mein Augen­arzt und mein Psych­ia­ter,
    mein Ortho­päde und mein Inter­nist.
    Er hilft mir sicher über jeden Kater,
    ob er aus Kummer oder Kognak ist.

    Er hält nicht viel von Pülver­chen und Pillen,
    doch umso mehr von Luft und Sonnen­schein;
    und kaum umfängt mich seine Stille,
    rauscht er mir zu: „Nun atmen Sie mal feste ein.“

    Ist seine Praxis auch oft über­lau­fen,
    seine Rezepte machen rasch gesund;
    und Kreis­lauf­schwa­che, die heut noch heftig schnau­fen,
    sind morgen schon, fast ohne klini­schen Befund.

    Er hilft mir immer wieder auf die Beine,
    bringt meine Seele stets ins Gleich­ge­wicht;
    verhin­dert Fett­an­satz und Gallen­steine,
    Nur: „Haus­be­su­che, macht er nicht“!

    Helmut Dagen­bach, 1986

  3. Tolle Story. Mich würde aber mal inter­es­sie­ren wie du auf deine 15€ Netto nach 5 Stun­den kommst? Als ange­stell­ter Fahrer mit 9,19€/Std. abzüg­lich AN-Anteil je nach Steu­er­klasse sind das rund 6,90€ Netto mal 5 Stun­den sind bei mir 34,50€. Mehr als doppelt soviel wie bei deiner Aussage. Welches Abrech­nungs­mo­dell habt ihr in deiner Firma, oder beutet dich dein Chef aus und bezahlt die langen Warte­zei­ten am Halte­platz nicht.

    • Moin Uwe,
      Deine Rech­nung setzt voraus, dass wir den Mindest­lohn gezahlt krie­gen. Das ist aber nicht der Fall. Wer den Mindest­lohn verlangt, kriegt sofort seine Papiere.
      Und Du hast recht: Warte­zei­ten am Halte­platz werden nicht bezahlt.

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