Im Vorwurf des Rassismus überlebt der Rassegedanke

Jeder weiß heute, was Antisemitismus bedeutet und ist oft bereit, das Wort zu benutzen. Unsere Gastautorin fragt: Weiß auch jeder, was Semitismus bedeutet?

Das mittelalterliche Pogrom der Hamas gegen friedlich feiernde, meist palästinenserfreundliche Israelis und die sich in vielen Ländern wie Schallwellen ausbreitenden Feindseligkeiten gegenüber Juden haben eine Debatte über Antisemitismus ausgelöst, die mehr Fragen aufwirft als sie beantwortet. Wenn all die weltweiten Proteste und Appelle gegen Fremdenfeindlichkeit und Hass den Radikalismus seither hier wie dort nur verschlimmert haben, wenn Präventionsprogramme genauso erfolglos waren wie staatliche Antisemitismus-Beauftragte oder harte Gerichtsurteile, sind wir offenbar auf einem falschen Pfad. Deshalb eine Überlegung, tastend, unsicher, wie alles derzeit.

Das zionistische Versprechen von einem Juden sicher beschützenden Israel ist zerplatzt, oft auch normales Alltagsleben in jüdischen Einrichtungen weltweit. Selbst einst nach Südafrika ausgewanderte und wegen der dortigen Apartheid später in England hängengebliebene Verwandte sagen mir jetzt im Zoom-Gespräch: Schon vor dem Anschlag fürchtete die Hälfte der britischen Juden, keine Zukunft im Land zu haben. Bisher trösteten wir uns, dann gehen wir eben zur Mischpoche nach Haifa. Doch der Ausweg ins gelobte Land ist für lange Zeit, wenn nicht für immer, verschlossen.

Diese Traurigkeit wird auch genährt durch die grell ins Bewusstsein zurückgeholte Gewissheit, dass der ungelöste Nahostkonflikt immer noch eine Folge des deutschen Faschismus ist. Er gehört zu der Vergangenheit, die nicht vergeht. Der industrielle Völkermord an den Juden war pervertierter Rassismus. Das kann man nicht „wiedergutmachen“.

Wer lange verfolgt wird, wird schuldig, sagt Camus. Verfolgt wurde wohl kein Volk öfter, opferreicher, bestialischer als die Juden. Nach der Shoah war die mit knapper Mehrheit zustande gekommene Geste der UN, sie in Palästina willkommen zu heißen, folgerichtig. Doch sie waren nicht willkommen. Stattdessen Bürgerkrieg mit den Bewohnern der Region, Überfall arabischer Länder und die von den jüdischen Einwanderern betriebene Vertreibung der Palästinenser. All das verbaute eine einvernehmliche Zukunft. Über die Nakba erfährt man in israelischen Schulbüchern eher nichts. In den Schulbüchern der arabischen Welt wiederum wird der Holocaust weitgehend ausgespart. Wie will man Empathie füreinander entwickeln, wenn die Leidensgeschichte des Nachbarn unbekannt ist? Wahrheit werde durch das Herausschneiden aus dem Zusammenhang zur Unwahrheit, hat Adorno in seinem 1967 gehaltenen Vortrag „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“ beklagt.

Araber sind genauso Semiten wie Juden

Was für eine Schande, wenn sich 80 Jahre nach der Shoah Juden alten Vorurteilen und neuem Hass ausgesetzt sehen! Die allemal gebotene Wachsamkeit sollte allerdings auch für die inflationäre Zuordnung von Antisemitismus gelten, sobald kritisches Ursache-Wirkung-Denken gegenüber Politik, auch der israelischen, artikuliert wird. Als Bruno Kreisky, der einzige jüdische Politiker im deutschsprachigen Raum, der es je an die Regierungsspitze geschafft hat, gefragt wurde, weshalb er eine besonders kritische Haltung zu Israel habe, antwortete er sinngemäß, man könne seinen besten Freunden nur durch offene Kritik ihrer Fehler helfen.

Wenn Ablehnern von Maßnahmen israelischer Politiker reflexartig rassistische Motive unterstellt werden, wird rationale Verständigung verunmöglicht. Im Vorwurf des Rassismus überlebt der Rassegedanke. Heute weiß jeder, was Antisemitismus ist, aber niemand, was Semitismus. Denn auch dieser Begriff ist fremdenfeindlich bis rassistisch aufgeladen. Es macht also wenig Sinn, ihn als Bezugspunkt für sein Anti zu nehmen. Das war nicht immer so. Ursprünglich kam Semitismus aus der Sprachwissenschaft, so wie Anglizismus. Er bezeichnet ganz neutral Ausdrucksweisen in Hebräisch, Arabisch und Aramäisch. Später wurde auch die Gesamtheit orientalischer Kultur so definiert. Araber sind also genauso Semiten wie Juden.

„Man kann nur definieren, was keine Geschichte hat“, behauptete einst Friedrich Nietzsche gewohnt überspitzt. Aber in der Tat sind sämtliche heutige Antisemitismus-Definitionen unbefriedigend. Sie arbeiten wiederum mit nicht definierten Begriffen, mit may be, der Hass gegenüber Juden wird auch auf „jüdische Einrichtungen“ ausgeweitet (kann man Einrichtungen hassen?) und schließlich auf Nichtjuden, wenn diese „jüdische Interessen“ unterstützen. Hier schrammt man haarscharf an Verschwörungstheorien vorbei. Der Bedeutungsinhalt wird derart überdehnt, dass sein Sinn zerplatzt.

Antijudaismus – diese rein religiöse Zuschreibung war einst begründet mit der Abwendung des entstehenden Christentums vom Alten Testament, dem Zoff um Messias. Die Verbiegung hin zur Rassentheorie besorgte erst 1800 Jahre später der französische Diplomat Gobineau mit seinem Buch: „Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen“. Erstmalig gab es eine Zuschreibung als „Jude“ jenseits der Religion – ein wahrlich verhängnisvoller Versuch. Von da war es nicht weit bis zu der Schmähschrift von Wilhelm Marr: „Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum“, die vorhersagte, dass mit der Judenemanzipation das Germanentum zum Aussterben verurteilt sei. Auf derartige Legenden baute die „Antisemitenliga“ im Kaiserreich. Zu dem Fluch „Die Juden sind unser Unglück!“ verstieg sich schließlich Heinrich von Treitschke im „Berliner Antisemitismus-Streit“. Für ihn waren sie meist „deutsch redende Orientalen“. Der Jahrhunderte alte, religiöse Antijudaismus schlüpfte ins Kostüm eines scheinwissenschaftlichen Rassismus.

Dabei war die Forschung damals schon so weit, das Ganze als Humbug entlarven zu können. Das erste wissenschaftliche Buch über Antisemitismus veröffentlichte 1901 Heinrich Graf Coudenhove. Sämtliche Nationen seien ein Gemisch verschmolzener Völker. Die Juden hätten sich schon in ägyptischer Gefangenschaft vermengt, wie andere in ihren Völkerwanderungen. Er verweist auf Dio Cassius, der bereits 223 nach Christus den Namen „Juden“, also Bewohner Jehudas, für unzutreffend hielt. Durchziehende jüdische Kaufleute, Dolmetscher oder Ärzte hätten so manchem nichtsemitische Landesfürsten die Liebe zum Judentum beigebracht. Übergetreten seien damals Römer, Gallier und Germanen, auch arabische und schwarze Stämme. Mit dem König der Chazaren sei später ein ganzer finnisch-ugrischer Volksstamm jüdisch geworden. Die germanische Kultur sei auf semitischem Boden gewachsen, Hauptobjekte katholischen Kults wären der babylonischen Kultur entlehnt, während die Babylonier ihre Götter von den Sumerern liehen. Alle Vorstellungen von Volksgruppen seien bestenfalls schwankende Annahmen, „eine Konfusion, die nichts zu wünschen übriglässt“.

Die Nazis als Zuchtmeister des Rassismus entließen schließlich die Araber aus dem Antisemitismus und konzentrierten ihn ganz auf vermeintliche Juden. Doch es gab ein Problem. Zwar hatten sie 1935 das Blutschutzgesetz erlassen, das „arisches Blut“ von „nichtarischem“ schützen sollte. Aber sie hatten keinen blassen Schimmer, wie man beide Blutsorten nachweisen sollte. Es gibt nun mal kein messbares Merkmal, mit dem man jemanden einer „Blutschande“ überführen kann. Sie hätten es so gern rassisch begründet, aber, welch Schande für ihre Theorie, es blieb ihnen nichts, als die Kirchenbücher zurate zu ziehen. Hans Globke, ein Referent für Rassenfragen im NS-Innenministerium, beseitigte so das Definitionshindernis; damit noch etwas von der Abstammungslehre gerettet werden konnte, verfolgte man die Kirchenregister bis in die Großelterngeneration. Damit entschied die oft zufällige Religionszugehörigkeit der Großeltern über Leben und Tod der Betroffenen. Globke erfand auch die unsägliche Bruchrechnung für jüdische Anteile (die sich umgangssprachlich nicht selten bis heute erhalten hat).

Restlos pervers war die Forderung nach einem sogenannten Ariernachweis, der Verdächtige im Sinne der Nürnberger Rassegesetze entlasten sollte. Das konnte nur funktionieren, weil man das Bild von den Ariern als nordisch blonde Herrenrasse in Schulen und Medien massenhaft verbreitet hatte. Offenbar wusste niemand, dass die Arier ein friedliebendes Hirtenvolk auf der Hochebene des Iran sind, das sich später bis Indien ausgebreitet hat. Wunderbar, wie Mo Asumang in ihrem Dokumentarfilm „Die Arier“ iranische Dorfbewohner zu Wort kommen lässt: „Wir Arier denken, Hitler war verrückt. Schon König Kyros hat gesagt: Es gibt keine Unterschiede zwischen den Völkern. Das ist arisch.“

Wie beschämend für uns Neuzeitliche, dass das Denken in den Kategorien von Rassen oder Ethnien schon in der Antike als widerlegt galt. Beschämend, wie viele sich widerspruchslos der Verpflichtung zum Ariernachweis gebeugt haben. Auch mein Großonkel, der einen katholischen Priester in Polen bestochen hat für den Nachweis, dass er ein unehelicher Sohn sei und so seinen „jüdischen Anteil“ reduzieren konnte. Lächerlich, unwürdig. Aber es hat geholfen.

Unwürdiges darf nie hilfreich sein. In bester Absicht, den nicht zu bestreitenden Hass abzubauen, darf nicht Verwirrung gestiftet werden. Wäre es hilfreicher, weil erhellender, statt von Antisemitismus von Judenfeindlichkeit zu sprechen? Alles so Fragen. Doch siehe Cassius, siehe Globke, wer ist denn nun Jude? Wer eine jüdische Mutter hat, na gut. Ein Zirkelschluss. Denn was ist eine jüdische Mutter? Sollte sie Mitglied der jüdischen Gemeinde sein? Da kenne ich so manche jüdische Mame, die das nicht ist. Müsste sie wenigstens in die Mikwe, das Tauchbad gehen, den Sabbat und die jüdischen Gesetze einhalten? Das sieht das Reformjudentum eher entspannt.

Zumal das Mutterprinzip nicht immer galt. Ruth, die Urgroßmutter von David, dem jüdischsten aller Könige, war Mohabiterin, also Nichtjüdin. Er selbst heiratete eine Philisterin. Im Alten Testament wird die Zugehörigkeit zum Volk Israel über die väterliche Abstammungslinie definiert. So war es kein Problem, dass Josef eine Ägypterin heiratete. Erst etwa im Jahre 200 führte die Mischna neue Prinzipien ein, mit denen sich der Talmud schwertat. Warum die patrilineare Abstammung nach dem Vaterprinzip in die matrilineare umgewandelt wurde, haben die Historiker nicht eindeutig klären können. Einig sind sie sich nur darin, dass es keine religiösen oder ethischen Gründe waren, sondern recht banaler Pragmatismus.

Anti-Antisemitismus tappt in eine Falle

Mitte der 80er-Jahre hatte sich in der Ost-Berliner jüdischen Gemeinde die „Wir für uns“-Gruppe gefunden – Leute meiner Generation mit einem oder zwei, manchmal auch drei oder vier jüdischen Großelternteilen, die sich für ihre Wurzeln zu interessieren begannen. Unser Lieblingswitz: Wenn sich früher drei Juden trafen, stritten sie über den Messias. Treffen sie sich heute, streiten sie über jüdische Identität. Wir alle waren atheistisch, aber mit Kibbuz-ähnlichen Vorstellungen erzogen. Eine religiöse Identität hatten wir nicht, eine rassische oder beschönigt ethnisch genannte, kam nach dem NS-Wahn nicht infrage. Warum fühlten wir uns dennoch irgendwie weitläufig verwandt? Das ist rein kulturell-biografisch bedingt, sagten die einen. Mischpoche, widersprachen selbstironisch die anderen. So stritten wir, und wenn wir nicht gestorben sind, dann streiten wir noch heute.

Moshe Zuckermann sprach uns nachträglich frei, als er darauf hinwies, dass man sich im israelischen Verfassungsdiskurs bis heute nicht darauf einigen konnte, „wer oder was ein Jude sei“. Aber warum tun wir nach der Nazizeit überhaupt wieder so, als sei das Wissen darum, wer nun „jüdischer Mitbürger“ ist, wichtig? Warum betrachten wir es nicht als Privatsache, wer warum welche Identität hat? Ziemlich sicher bin ich mir aus Gesprächen, dass man vielen Juden keinen Gefallen tut, wenn jede politische oder religiöse Gegnerschaft als antisemitisch diagnostiziert wird, also letztlich auf etwas jenseits des eigenen Einflusses der „Semiten“. So hält man die „jüdische Frage“ am Kochen, die doch einzig eine von Gojim (Jiddisch für Nichtjuden, Anm. d. Red.) gestellte ist. Je mehr es zum gesellschaftlichen Auftrag wird, hinter jeder Fichte einen Antisemiten zu enttarnen, je bedenklicher wird das Ganze.

Der mosaische Historiker Gustav Mayer, der als Student noch Vorlesungen bei Treitschke gehört hatte, drückte in seinen Memoiren aus, was andere jüdische Kommentatoren ähnlich beschrieben: Die immer wiederkehrende Judenfeindschaft sei ein Relikt aus alten Zeiten, verletzend, aber in ihrer schlichten Machart auch „einfach langweilig“ geworden. Sie sei wie „letzte Zuckungen mittelalterlicher Verirrung“. „Weil solchen Blicken die Reflexion fehlt, werden die Reflexionslosen davon elektrisiert“, befand später Adorno. „Einem solchen Denken ist es egal, ob es überhaupt noch ‚den Juden‘ in der bekämpften Gestalt gibt.“ Dem Antisemitismus wird vorgeworfen, alles Komplexe auf ein Thema zu reduzieren. Aber der Anti-Antisemitismus tappt in dieselbe Falle, indem er auch nur ein wage umschriebenes Motiv zu kennen vorgibt.

Um rassistische Inhalte zu kaschieren, würde vornehm von Kultur gesprochen, behaupten wiederum die Anhänger der Theorie vom „Rassismus ohne Rassen“. Es sei aber rassistische Praxis, wenn Mehrheiten die Macht besäßen, Minderheiten als „anders“ oder „schädlich“ zu definieren und sie deshalb zu benachteiligen, wenn nicht zu verfolgen. Demnach wäre die Ausgrenzung von Dissidenten, Kommunisten, Armen, Homosexuellen, Ungläubigen, Ungeimpften auch Rassismus? Da wird analytische Schärfe der Beliebigkeit geopfert.

Oder zweckentfremdet zu Disziplinierung. Jetzt macht man sich schon durch ein Aber verdächtig. Inzwischen ist bald jede Abweichung vom Trampelpfad der öffentlich beglaubigten Einseitigkeit dem Vorwurf ausgesetzt, empathielos, rechtsoffen oder eben antisemitisch zu sein. Das ist nicht ohne Grund der schlimmste K.o.-Tropfen, der einem hierzulande auf offener Bühne verabreicht werden kann. Wie gerade wieder auf skandalöse Weise Jeremy Corbyn durch die Berliner Volksbühne. Der Ausgrenzungsfetischismus erfasst inzwischen Juden und Nichtjuden, Freund und Feind.

Israel gehört laut einer Gallup-Studie mit 65 Prozent Ungläubigen zu den am wenigsten religiösen Ländern der Welt. Von seinen antijudaistischen Ursprüngen hat sich der von Anfang an untaugliche Begriff Antisemitismus in einem überholten Denkrahmen etabliert. Er hat sich zu einem Abstraktum verselbstständigt, das von den eigentlichen Ursachen für Feindschaften ablenkt: machtpolitische und ökonomische Verteilungskämpfe.

„Die Hamas muss vernichtet werden“, heißt es. Wer genau ist da zum Töten freigegeben? Die Hamas hatte sich als Zweig der Muslimbruderschaft zu Beginn der ersten Intifada von der weitgehend säkularen PLO abgespalten. Weil sie die Zweistaatenlösung, zu der sich der Realist Jassir Arafat schweren Herzens durchgerungen hatte, nicht mittragen wollte. Das kam einigen israelischen Führern sehr gelegen, da sie bekanntlich den Palästinensern auch keinen souveränen Staat gönnten.

Seit 1987 förderte daher Israel den Aufstieg der islamischen Hamas. Brigadegeneral Yitzak Segev sagte dem Investigativ-Portal The Intecept, er habe von der israelischen Regierung ein Budget für die Hamas bekommen, das an die Moscheen übergeben wurde. „Die Hamas ist, zu meinem großen Bedauern, eine israelische Kreation.“ Ministerpräsident Jitzchak Rabin habe dies später als fatalen Fehler eingestanden. Und Roger Cohen erinnerte am 22. Oktober 2023 in der New York Times: „Alle Mittel waren gut, um die Idee eines palästinensischen Staates rückgängig zu machen. 2019 sagte Netanjahu bei einem Treffen seiner Likud-Partei: ‚Diejenigen, die die Möglichkeit eines palästinensischen Staates vereiteln wollen, sollten die Stärkung der Hamas und den Transfer von Geld an die Hamas unterstützen. Das ist Teil unserer Strategie.‘“

So hat „die einzige Demokratie im Nahen Osten“ den politischen Islamismus genährt. Solange dieser seinen Anhängern weismacht, der Tod für Gott müsse ihr hehrster Wunsch sein, es gäbe keinen direkteren Weg, in Allahs himmlische Nähe zu gelangen, als für ihn im Dschihad zu sterben, solange werden jedem abgeschlagenen Kopf des Terrorismus-Drachens sieben neue nachwachsen. Das Problem ist, wie fast jedes, nicht militärisch zu lösen. Und dieses besonders nicht. Sondern?

Hamas ist ein Geschöpf politischer Doppelmoral und des Teile-und-herrsche-Prinzips. Und sollte daher auf der Ebene der Politik analysiert und bekämpft werden. Das schließt eingeschränkte militärische Aktionen nicht aus, die ihm seine Angriffsfähigkeit nehmen. Die verbrecherischen Gewalttäter der Hamas vom 7. Oktober und ihre religiösen Befehlsgeber sind Verblendete, Verrohte, Verdammenswerte – aber sie sind Menschen. Ich bin generell gegen die Vernichtung von Menschen. Vielleicht ist das mein jüdisches Erbe.

Wohl kaum mit dem Koran vereinbar

Den Schlüssel zum Haupteingang der Lösung haben die verhandelnden Politiker. Der Hamas werde mit einer Friedenslösung die Existenzgrundlage entzogen, sagt jetzt der Vorsitzende des Zentralrates der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek. Und er spricht von „unseren jüdischen Geschwistern“. Die Lebensbedingungen in Gaza und auch im Westjordanland dürfen nie wieder so werden, wie sie waren. Bei einer Demo in Neukölln sagt ein Palästinenser am Straßenrand: „Ja, wir freuen uns. Aber nicht, weil Menschen getötet wurden, sondern weil es jetzt ohne die Zweistaatenlösung nicht mehr gehen wird. Sogar die Amerikaner sprechen sich dafür aus. Wir hatten lange nicht so viel Hoffnung.“ Beweggründe erfragen, statt Antisemitismus zu unterstellen.

Den Schlüssel zum Nebeneingang besitzen die Religionsgelehrten. Die Religionen haben mit ihren Schriftrollen und Gesetzestafeln die wohl entscheidendsten Beiträge zur Zivilisation der Menschheit geleistet. Gleichzeitig haben sie diese Fortschritte mit ihren fundamentalistischen Theorien und Praktiken auch immer wieder erbarmungslos zurückgeworfen: mit den Feindseligkeiten zwischen den Glaubensbekenntnissen, ihrer jahrhundertelangen Unterdrückung der Frauen, mit Missionierungen, Pogromen, mit Inquisition, ihren Glaubenskriegen. Zur Religionsfreiheit gehört auch die Freiheit zur Kritik an der Religion.

Drei Viertel der Palästinenser geben an, religiös zu sein. In der Gründungscharta der Hamas gilt ganz Palästina nach göttlicher Vorgabe bis zur Auferstehung als im Besitz der Muslime. Jede Abweichung sei ein Verstoß gegen Gottes Wille. Deshalb sei die Tötung von Juden die Pflicht jedes Muslims. Diese Charta ist kaum mit dem Koran vereinbar, sie missbraucht ihn für irdische Interessen. Dennoch hat der hier formulierte Hass nichts mit rassistischen Feindseligkeiten zwischen Semiten zu tun. Antisemitismus wäre selbst hier die falsche Zuschreibung.

Das ist keine akademische Spitzfindigkeit, sondern soweit ich sehe, ein bedeutender praktischer Unterschied. Gegen den anhaltenden Vorwurf, einer feindlichen Ethnie anzugehören, kann man sich nicht wehren, da kommt man im wahrsten Wortsinn nicht aus seiner Haut. Aber Schalom – Salam – Frieden ist das oberste moralische Gebot aller Gläubigen und Ungläubigen. Der Friedfertigkeit zum Durchbruch verhelfen – hier besteht wahrlich Verteidigungsbedarf.

Statt die mittelalterliche Verirrung Antisemitismus wiederzubeleben, gilt es den Ausgrenzungsfetischismus generell aufzugeben, die wirklichen Interessen der Gegenseite zur Kenntnis zu nehmen. Dazu gehört, hartnäckige Missverständnisse abzubauen. Etwa die missverstandene Bedeutung von den Juden als von Gott auserwähltem Volk. Man könnte es auch als geschätztes oder besonderes Volk übersetzen. Dabei geht es nicht um eine Bevorzugung der Juden. Mit der Offenbarung der Tora am Berg Sinai hat Abraham eine große sittliche Verpflichtung entgegengenommen. Nämlich Vermittler für alle Menschen zwischen Gott und der Schöpfung zu sein. Wird Israel, das so viel Wert darauf legt, ein jüdischer Staat zu sein, dieser Verpflichtung mit dem jetzt von ihm angerichteten Inferno in Gaza gerecht? Sicher nicht.

Wir sind auserwählt zum Leid, hatte meine Mutter (die Vaterjüdin) gesagt. Aber nein, Mame, kein Gott, kein Staat und kein Militärbündnis hat das Recht, irgendeine Gemeinschaft leiden zu lassen. Aber ja, verdammt sind wir alle auf dieser kleinen, wunderbaren Erde – verdammt uns zu vertragen. Und das geschieht uns recht.

Daniela Dahn

[ Dieser Text erschien zuerst in der Berliner Zeitung und steht unter der Lizenz CC BY-NC-ND 4.0 ]

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