Im Vorwurf des Rassismus überlebt der Rassegedanke

Jeder weiß heute, was Anti­se­mi­tis­mus bedeu­tet und ist oft bereit, das Wort zu benut­zen. Unsere Gast­au­torin fragt: Weiß auch jeder, was Semi­tis­mus bedeu­tet?

Das mittel­al­ter­li­che Pogrom der Hamas gegen fried­lich feiernde, meist paläs­ti­nen­ser­freund­li­che Israe­lis und die sich in vielen Ländern wie Schall­wel­len ausbrei­ten­den Feind­se­lig­kei­ten gegen­über Juden haben eine Debatte über Anti­se­mi­tis­mus ausge­löst, die mehr Fragen aufwirft als sie beant­wor­tet. Wenn all die welt­wei­ten Proteste und Appelle gegen Frem­den­feind­lich­keit und Hass den Radi­ka­lis­mus seit­her hier wie dort nur verschlim­mert haben, wenn Präven­ti­ons­pro­gramme genauso erfolg­los waren wie staat­li­che Anti­se­mi­tis­mus-Beauf­tragte oder harte Gerichts­ur­teile, sind wir offen­bar auf einem falschen Pfad. Deshalb eine Über­le­gung, tastend, unsi­cher, wie alles derzeit.

Das zionis­ti­sche Verspre­chen von einem Juden sicher beschüt­zen­den Israel ist zerplatzt, oft auch norma­les Alltags­le­ben in jüdi­schen Einrich­tun­gen welt­weit. Selbst einst nach Südafrika ausge­wan­derte und wegen der dorti­gen Apart­heid später in England hängen­ge­blie­bene Verwandte sagen mir jetzt im Zoom-Gespräch: Schon vor dem Anschlag fürch­tete die Hälfte der briti­schen Juden, keine Zukunft im Land zu haben. Bisher trös­te­ten wir uns, dann gehen wir eben zur Misch­po­che nach Haifa. Doch der Ausweg ins gelobte Land ist für lange Zeit, wenn nicht für immer, verschlos­sen.

Diese Trau­rig­keit wird auch genährt durch die grell ins Bewusst­sein zurück­ge­holte Gewiss­heit, dass der unge­löste Nahost­kon­flikt immer noch eine Folge des deut­schen Faschis­mus ist. Er gehört zu der Vergan­gen­heit, die nicht vergeht. Der indus­tri­elle Völker­mord an den Juden war perver­tier­ter Rassis­mus. Das kann man nicht „wieder­gut­ma­chen“.

Wer lange verfolgt wird, wird schul­dig, sagt Camus. Verfolgt wurde wohl kein Volk öfter, opfer­rei­cher, bestia­li­scher als die Juden. Nach der Shoah war die mit knap­per Mehr­heit zustande gekom­mene Geste der UN, sie in Paläs­tina will­kom­men zu heißen, folge­rich­tig. Doch sie waren nicht will­kom­men. Statt­des­sen Bürger­krieg mit den Bewoh­nern der Region, Über­fall arabi­scher Länder und die von den jüdi­schen Einwan­de­rern betrie­bene Vertrei­bung der Paläs­ti­nen­ser. All das verbaute eine einver­nehm­li­che Zukunft. Über die Nakba erfährt man in israe­li­schen Schul­bü­chern eher nichts. In den Schul­bü­chern der arabi­schen Welt wiederum wird der Holo­caust weit­ge­hend ausge­spart. Wie will man Empa­thie fürein­an­der entwi­ckeln, wenn die Leidens­ge­schichte des Nach­barn unbe­kannt ist? Wahr­heit werde durch das Heraus­schnei­den aus dem Zusam­men­hang zur Unwahr­heit, hat Adorno in seinem 1967 gehal­te­nen Vortrag „Aspekte des neuen Rechts­ra­di­ka­lis­mus“ beklagt.

Araber sind genauso Semi­ten wie Juden

Was für eine Schande, wenn sich 80 Jahre nach der Shoah Juden alten Vorur­tei­len und neuem Hass ausge­setzt sehen! Die alle­mal gebo­tene Wach­sam­keit sollte aller­dings auch für die infla­tio­näre Zuord­nung von Anti­se­mi­tis­mus gelten, sobald kriti­sches Ursa­che-Wirkung-Denken gegen­über Poli­tik, auch der israe­li­schen, arti­ku­liert wird. Als Bruno Krei­sky, der einzige jüdi­sche Poli­ti­ker im deutsch­spra­chi­gen Raum, der es je an die Regie­rungs­spitze geschafft hat, gefragt wurde, weshalb er eine beson­ders kriti­sche Haltung zu Israel habe, antwor­tete er sinn­ge­mäß, man könne seinen besten Freun­den nur durch offene Kritik ihrer Fehler helfen.

Wenn Ableh­nern von Maßnah­men israe­li­scher Poli­ti­ker reflex­ar­tig rassis­ti­sche Motive unter­stellt werden, wird ratio­nale Verstän­di­gung verun­mög­licht. Im Vorwurf des Rassis­mus über­lebt der Rasse­ge­danke. Heute weiß jeder, was Anti­se­mi­tis­mus ist, aber niemand, was Semi­tis­mus. Denn auch dieser Begriff ist frem­den­feind­lich bis rassis­tisch aufge­la­den. Es macht also wenig Sinn, ihn als Bezugs­punkt für sein Anti zu nehmen. Das war nicht immer so. Ursprüng­lich kam Semi­tis­mus aus der Sprach­wis­sen­schaft, so wie Angli­zis­mus. Er bezeich­net ganz neutral Ausdrucks­wei­sen in Hebrä­isch, Arabisch und Aramä­isch. Später wurde auch die Gesamt­heit orien­ta­li­scher Kultur so defi­niert. Araber sind also genauso Semi­ten wie Juden.

„Man kann nur defi­nie­ren, was keine Geschichte hat“, behaup­tete einst Fried­rich Nietz­sche gewohnt über­spitzt. Aber in der Tat sind sämt­li­che heutige Anti­se­mi­tis­mus-Defi­ni­tio­nen unbe­frie­di­gend. Sie arbei­ten wiederum mit nicht defi­nier­ten Begrif­fen, mit may be, der Hass gegen­über Juden wird auch auf „jüdi­sche Einrich­tun­gen“ ausge­wei­tet (kann man Einrich­tun­gen hassen?) und schließ­lich auf Nicht­ju­den, wenn diese „jüdi­sche Inter­es­sen“ unter­stüt­zen. Hier schrammt man haar­scharf an Verschwö­rungs­theo­rien vorbei. Der Bedeu­tungs­in­halt wird derart über­dehnt, dass sein Sinn zerplatzt.

Anti­ju­da­is­mus – diese rein reli­giöse Zuschrei­bung war einst begrün­det mit der Abwen­dung des entste­hen­den Chris­ten­tums vom Alten Testa­ment, dem Zoff um Messias. Die Verbie­gung hin zur Rassen­theo­rie besorgte erst 1800 Jahre später der fran­zö­si­sche Diplo­mat Gobi­neau mit seinem Buch: „Versuch über die Ungleich­heit der Menschen­ras­sen“. Erst­ma­lig gab es eine Zuschrei­bung als „Jude“ jenseits der Reli­gion – ein wahr­lich verhäng­nis­vol­ler Versuch. Von da war es nicht weit bis zu der Schmäh­schrift von Wilhelm Marr: „Der Sieg des Judenth­ums über das Germa­nent­hum“, die vorher­sagte, dass mit der Juden­eman­zi­pa­tion das Germa­nen­tum zum Ausster­ben verur­teilt sei. Auf derar­tige Legen­den baute die „Anti­se­mi­ten­liga“ im Kaiser­reich. Zu dem Fluch „Die Juden sind unser Unglück!“ verstieg sich schließ­lich Hein­rich von Treit­schke im „Berli­ner Anti­se­mi­tis­mus-Streit“. Für ihn waren sie meist „deutsch redende Orien­ta­len“. Der Jahr­hun­derte alte, reli­giöse Anti­ju­da­is­mus schlüpfte ins Kostüm eines schein­wis­sen­schaft­li­chen Rassis­mus.

Dabei war die Forschung damals schon so weit, das Ganze als Humbug entlar­ven zu können. Das erste wissen­schaft­li­che Buch über Anti­se­mi­tis­mus veröf­fent­lichte 1901 Hein­rich Graf Couden­hove. Sämt­li­che Natio­nen seien ein Gemisch verschmol­ze­ner Völker. Die Juden hätten sich schon in ägyp­ti­scher Gefan­gen­schaft vermengt, wie andere in ihren Völker­wan­de­run­gen. Er verweist auf Dio Cassius, der bereits 223 nach Chris­tus den Namen „Juden“, also Bewoh­ner Jehu­das, für unzu­tref­fend hielt. Durch­zie­hende jüdi­sche Kauf­leute, Dolmet­scher oder Ärzte hätten so manchem nicht­se­mi­ti­sche Landes­fürs­ten die Liebe zum Juden­tum beigebracht. Über­ge­tre­ten seien damals Römer, Gallier und Germa­nen, auch arabi­sche und schwarze Stämme. Mit dem König der Chaza­ren sei später ein ganzer finnisch-ugri­scher Volks­stamm jüdisch gewor­den. Die germa­ni­sche Kultur sei auf semi­ti­schem Boden gewach­sen, Haupt­ob­jekte katho­li­schen Kults wären der baby­lo­ni­schen Kultur entlehnt, während die Baby­lo­nier ihre Götter von den Sume­rern liehen. Alle Vorstel­lun­gen von Volks­grup­pen seien besten­falls schwan­kende Annah­men, „eine Konfu­sion, die nichts zu wünschen übrig­lässt“.

Die Nazis als Zucht­meis­ter des Rassis­mus entlie­ßen schließ­lich die Araber aus dem Anti­se­mi­tis­mus und konzen­trier­ten ihn ganz auf vermeint­li­che Juden. Doch es gab ein Problem. Zwar hatten sie 1935 das Blut­schutz­ge­setz erlas­sen, das „arisches Blut“ von „nicht­ari­schem“ schüt­zen sollte. Aber sie hatten keinen blas­sen Schim­mer, wie man beide Blut­sor­ten nach­wei­sen sollte. Es gibt nun mal kein mess­ba­res Merk­mal, mit dem man jeman­den einer „Blut­schande“ über­füh­ren kann. Sie hätten es so gern rassisch begrün­det, aber, welch Schande für ihre Theo­rie, es blieb ihnen nichts, als die Kirchen­bü­cher zurate zu ziehen. Hans Globke, ein Refe­rent für Rassen­fra­gen im NS-Innen­mi­nis­te­rium, besei­tigte so das Defi­ni­ti­ons­hin­der­nis; damit noch etwas von der Abstam­mungs­lehre geret­tet werden konnte, verfolgte man die Kirchen­re­gis­ter bis in die Groß­el­tern­ge­nera­tion. Damit entschied die oft zufäl­lige Reli­gi­ons­zu­ge­hö­rig­keit der Groß­el­tern über Leben und Tod der Betrof­fe­nen. Globke erfand auch die unsäg­li­che Bruch­rech­nung für jüdi­sche Anteile (die sich umgangs­sprach­lich nicht selten bis heute erhal­ten hat).

Rest­los pervers war die Forde­rung nach einem soge­nann­ten Arier­nach­weis, der Verdäch­tige im Sinne der Nürn­ber­ger Rasse­ge­setze entlas­ten sollte. Das konnte nur funk­tio­nie­ren, weil man das Bild von den Ariern als nordisch blonde Herren­rasse in Schu­len und Medien massen­haft verbrei­tet hatte. Offen­bar wusste niemand, dass die Arier ein fried­lie­ben­des Hirten­volk auf der Hoch­ebene des Iran sind, das sich später bis Indien ausge­brei­tet hat. Wunder­bar, wie Mo Asumang in ihrem Doku­men­tar­film „Die Arier“ irani­sche Dorf­be­woh­ner zu Wort kommen lässt: „Wir Arier denken, Hitler war verrückt. Schon König Kyros hat gesagt: Es gibt keine Unter­schiede zwischen den Völkern. Das ist arisch.“

Wie beschä­mend für uns Neuzeit­li­che, dass das Denken in den Kate­go­rien von Rassen oder Ethnien schon in der Antike als wider­legt galt. Beschä­mend, wie viele sich wider­spruchs­los der Verpflich­tung zum Arier­nach­weis gebeugt haben. Auch mein Groß­on­kel, der einen katho­li­schen Pries­ter in Polen besto­chen hat für den Nach­weis, dass er ein unehe­li­cher Sohn sei und so seinen „jüdi­schen Anteil“ redu­zie­ren konnte. Lächer­lich, unwür­dig. Aber es hat gehol­fen.

Unwür­di­ges darf nie hilf­reich sein. In bester Absicht, den nicht zu bestrei­ten­den Hass abzu­bauen, darf nicht Verwir­rung gestif­tet werden. Wäre es hilf­rei­cher, weil erhel­len­der, statt von Anti­se­mi­tis­mus von Juden­feind­lich­keit zu spre­chen? Alles so Fragen. Doch siehe Cassius, siehe Globke, wer ist denn nun Jude? Wer eine jüdi­sche Mutter hat, na gut. Ein Zirkel­schluss. Denn was ist eine jüdi­sche Mutter? Sollte sie Mitglied der jüdi­schen Gemeinde sein? Da kenne ich so manche jüdi­sche Mame, die das nicht ist. Müsste sie wenigs­tens in die Mikwe, das Tauch­bad gehen, den Sabbat und die jüdi­schen Gesetze einhal­ten? Das sieht das Reform­ju­den­tum eher entspannt.

Zumal das Mutter­prin­zip nicht immer galt. Ruth, die Urgroß­mutter von David, dem jüdischs­ten aller Könige, war Moha­bi­te­rin, also Nicht­jü­din. Er selbst heira­tete eine Philis­te­rin. Im Alten Testa­ment wird die Zuge­hö­rig­keit zum Volk Israel über die väter­li­che Abstam­mungs­li­nie defi­niert. So war es kein Problem, dass Josef eine Ägyp­te­rin heira­tete. Erst etwa im Jahre 200 führte die Mischna neue Prin­zi­pien ein, mit denen sich der Talmud schwer­tat. Warum die patri­li­neare Abstam­mung nach dem Vater­prin­zip in die matri­li­neare umge­wan­delt wurde, haben die Histo­ri­ker nicht eindeu­tig klären können. Einig sind sie sich nur darin, dass es keine reli­giö­sen oder ethi­schen Gründe waren, sondern recht bana­ler Prag­ma­tis­mus.

Anti-Anti­se­mi­tis­mus tappt in eine Falle

Mitte der 80er-Jahre hatte sich in der Ost-Berli­ner jüdi­schen Gemeinde die „Wir für uns“-Gruppe gefun­den – Leute meiner Gene­ra­tion mit einem oder zwei, manch­mal auch drei oder vier jüdi­schen Groß­el­tern­tei­len, die sich für ihre Wurzeln zu inter­es­sie­ren began­nen. Unser Lieb­lings­witz: Wenn sich früher drei Juden trafen, strit­ten sie über den Messias. Tref­fen sie sich heute, strei­ten sie über jüdi­sche Iden­ti­tät. Wir alle waren athe­is­tisch, aber mit Kibbuz-ähnli­chen Vorstel­lun­gen erzo­gen. Eine reli­giöse Iden­ti­tät hatten wir nicht, eine rassi­sche oder beschö­nigt ethnisch genannte, kam nach dem NS-Wahn nicht infrage. Warum fühl­ten wir uns dennoch irgend­wie weit­läu­fig verwandt? Das ist rein kultu­rell-biogra­fisch bedingt, sagten die einen. Misch­po­che, wider­spra­chen selbst­iro­nisch die ande­ren. So strit­ten wir, und wenn wir nicht gestor­ben sind, dann strei­ten wir noch heute.

Moshe Zucker­mann sprach uns nach­träg­lich frei, als er darauf hinwies, dass man sich im israe­li­schen Verfas­sungs­dis­kurs bis heute nicht darauf eini­gen konnte, „wer oder was ein Jude sei“. Aber warum tun wir nach der Nazi­zeit über­haupt wieder so, als sei das Wissen darum, wer nun „jüdi­scher Mitbür­ger“ ist, wich­tig? Warum betrach­ten wir es nicht als Privat­sa­che, wer warum welche Iden­ti­tät hat? Ziem­lich sicher bin ich mir aus Gesprä­chen, dass man vielen Juden keinen Gefal­len tut, wenn jede poli­ti­sche oder reli­giöse Gegner­schaft als anti­se­mi­tisch diagnos­ti­ziert wird, also letzt­lich auf etwas jenseits des eige­nen Einflus­ses der „Semi­ten“. So hält man die „jüdi­sche Frage“ am Kochen, die doch einzig eine von Gojim (Jiddisch für Nicht­ju­den, Anm. d. Red.) gestellte ist. Je mehr es zum gesell­schaft­li­chen Auftrag wird, hinter jeder Fichte einen Anti­se­mi­ten zu enttar­nen, je bedenk­li­cher wird das Ganze.

Der mosai­sche Histo­ri­ker Gustav Mayer, der als Student noch Vorle­sun­gen bei Treit­schke gehört hatte, drückte in seinen Memoi­ren aus, was andere jüdi­sche Kommen­ta­to­ren ähnlich beschrie­ben: Die immer wieder­keh­rende Juden­feind­schaft sei ein Relikt aus alten Zeiten, verlet­zend, aber in ihrer schlich­ten Mach­art auch „einfach lang­wei­lig“ gewor­den. Sie sei wie „letzte Zuckun­gen mittel­al­ter­li­cher Verir­rung“. „Weil solchen Blicken die Refle­xion fehlt, werden die Refle­xi­ons­lo­sen davon elek­tri­siert“, befand später Adorno. „Einem solchen Denken ist es egal, ob es über­haupt noch ‚den Juden‘ in der bekämpf­ten Gestalt gibt.“ Dem Anti­se­mi­tis­mus wird vorge­wor­fen, alles Komplexe auf ein Thema zu redu­zie­ren. Aber der Anti-Anti­se­mi­tis­mus tappt in dieselbe Falle, indem er auch nur ein wage umschrie­be­nes Motiv zu kennen vorgibt.

Um rassis­ti­sche Inhalte zu kaschie­ren, würde vornehm von Kultur gespro­chen, behaup­ten wiederum die Anhän­ger der Theo­rie vom „Rassis­mus ohne Rassen“. Es sei aber rassis­ti­sche Praxis, wenn Mehr­hei­ten die Macht besä­ßen, Minder­hei­ten als „anders“ oder „schäd­lich“ zu defi­nie­ren und sie deshalb zu benach­tei­li­gen, wenn nicht zu verfol­gen. Demnach wäre die Ausgren­zung von Dissi­den­ten, Kommu­nis­ten, Armen, Homo­se­xu­el­len, Ungläu­bi­gen, Unge­impf­ten auch Rassis­mus? Da wird analy­ti­sche Schärfe der Belie­big­keit geop­fert.

Oder zweck­ent­frem­det zu Diszi­pli­nie­rung. Jetzt macht man sich schon durch ein Aber verdäch­tig. Inzwi­schen ist bald jede Abwei­chung vom Tram­pel­pfad der öffent­lich beglau­big­ten Einsei­tig­keit dem Vorwurf ausge­setzt, empa­thie­los, rechts­of­fen oder eben anti­se­mi­tisch zu sein. Das ist nicht ohne Grund der schlimmste K.o.-Tropfen, der einem hier­zu­lande auf offe­ner Bühne verab­reicht werden kann. Wie gerade wieder auf skan­da­löse Weise Jeremy Corbyn durch die Berli­ner Volks­bühne. Der Ausgren­zungs­fe­ti­schis­mus erfasst inzwi­schen Juden und Nicht­ju­den, Freund und Feind.

Israel gehört laut einer Gallup-Studie mit 65 Prozent Ungläu­bi­gen zu den am wenigs­ten reli­giö­sen Ländern der Welt. Von seinen anti­ju­da­is­ti­schen Ursprün­gen hat sich der von Anfang an untaug­li­che Begriff Anti­se­mi­tis­mus in einem über­hol­ten Denk­rah­men etabliert. Er hat sich zu einem Abstrak­tum verselbst­stän­digt, das von den eigent­li­chen Ursa­chen für Feind­schaf­ten ablenkt: macht­po­li­ti­sche und ökono­mi­sche Vertei­lungs­kämpfe.

„Die Hamas muss vernich­tet werden“, heißt es. Wer genau ist da zum Töten frei­ge­ge­ben? Die Hamas hatte sich als Zweig der Muslim­bru­der­schaft zu Beginn der ersten Inti­fada von der weit­ge­hend säku­la­ren PLO abge­spal­ten. Weil sie die Zwei­staa­ten­lö­sung, zu der sich der Realist Jassir Arafat schwe­ren Herzens durch­ge­run­gen hatte, nicht mittra­gen wollte. Das kam eini­gen israe­li­schen Führern sehr gele­gen, da sie bekannt­lich den Paläs­ti­nen­sern auch keinen souve­rä­nen Staat gönn­ten.

Seit 1987 förderte daher Israel den Aufstieg der isla­mi­schen Hamas. Briga­de­ge­ne­ral Yitzak Segev sagte dem Inves­ti­ga­tiv-Portal The Inte­cept, er habe von der israe­li­schen Regie­rung ein Budget für die Hamas bekom­men, das an die Moscheen über­ge­ben wurde. „Die Hamas ist, zu meinem großen Bedau­ern, eine israe­li­sche Krea­tion.“ Minis­ter­prä­si­dent Jitz­chak Rabin habe dies später als fata­len Fehler einge­stan­den. Und Roger Cohen erin­nerte am 22. Okto­ber 2023 in der New York Times: „Alle Mittel waren gut, um die Idee eines paläs­ti­nen­si­schen Staa­tes rück­gän­gig zu machen. 2019 sagte Netan­jahu bei einem Tref­fen seiner Likud-Partei: ‚Dieje­ni­gen, die die Möglich­keit eines paläs­ti­nen­si­schen Staa­tes verei­teln wollen, soll­ten die Stär­kung der Hamas und den Trans­fer von Geld an die Hamas unter­stüt­zen. Das ist Teil unse­rer Stra­te­gie.‘“

So hat „die einzige Demo­kra­tie im Nahen Osten“ den poli­ti­schen Isla­mis­mus genährt. Solange dieser seinen Anhän­gern weis­macht, der Tod für Gott müsse ihr hehrs­ter Wunsch sein, es gäbe keinen direk­te­ren Weg, in Allahs himm­li­sche Nähe zu gelan­gen, als für ihn im Dschi­had zu ster­ben, solange werden jedem abge­schla­ge­nen Kopf des Terro­ris­mus-Drachens sieben neue nach­wach­sen. Das Problem ist, wie fast jedes, nicht mili­tä­risch zu lösen. Und dieses beson­ders nicht. Sondern?

Hamas ist ein Geschöpf poli­ti­scher Doppel­mo­ral und des Teile-und-herr­sche-Prin­zips. Und sollte daher auf der Ebene der Poli­tik analy­siert und bekämpft werden. Das schließt einge­schränkte mili­tä­ri­sche Aktio­nen nicht aus, die ihm seine Angriffs­fä­hig­keit nehmen. Die verbre­che­ri­schen Gewalt­tä­ter der Hamas vom 7. Okto­ber und ihre reli­giö­sen Befehls­ge­ber sind Verblen­dete, Verrohte, Verdam­mens­werte – aber sie sind Menschen. Ich bin gene­rell gegen die Vernich­tung von Menschen. Viel­leicht ist das mein jüdi­sches Erbe.

Wohl kaum mit dem Koran verein­bar

Den Schlüs­sel zum Haupt­ein­gang der Lösung haben die verhan­deln­den Poli­ti­ker. Der Hamas werde mit einer Frie­dens­lö­sung die Exis­tenz­grund­lage entzo­gen, sagt jetzt der Vorsit­zende des Zentral­ra­tes der Muslime in Deutsch­land, Aiman Mazyek. Und er spricht von „unse­ren jüdi­schen Geschwis­tern“. Die Lebens­be­din­gun­gen in Gaza und auch im West­jor­dan­land dürfen nie wieder so werden, wie sie waren. Bei einer Demo in Neukölln sagt ein Paläs­ti­nen­ser am Stra­ßen­rand: „Ja, wir freuen uns. Aber nicht, weil Menschen getö­tet wurden, sondern weil es jetzt ohne die Zwei­staa­ten­lö­sung nicht mehr gehen wird. Sogar die Ameri­ka­ner spre­chen sich dafür aus. Wir hatten lange nicht so viel Hoff­nung.“ Beweg­gründe erfra­gen, statt Anti­se­mi­tis­mus zu unter­stel­len.

Den Schlüs­sel zum Neben­ein­gang besit­zen die Reli­gi­ons­ge­lehr­ten. Die Reli­gio­nen haben mit ihren Schrift­rol­len und Geset­zes­ta­feln die wohl entschei­dends­ten Beiträge zur Zivi­li­sa­tion der Mensch­heit geleis­tet. Gleich­zei­tig haben sie diese Fort­schritte mit ihren funda­men­ta­lis­ti­schen Theo­rien und Prak­ti­ken auch immer wieder erbar­mungs­los zurück­ge­wor­fen: mit den Feind­se­lig­kei­ten zwischen den Glau­bens­be­kennt­nis­sen, ihrer jahr­hun­der­te­lan­gen Unter­drü­ckung der Frauen, mit Missio­nie­run­gen, Pogro­men, mit Inqui­si­tion, ihren Glau­bens­krie­gen. Zur Reli­gi­ons­frei­heit gehört auch die Frei­heit zur Kritik an der Reli­gion.

Drei Vier­tel der Paläs­ti­nen­ser geben an, reli­giös zu sein. In der Grün­dungs­charta der Hamas gilt ganz Paläs­tina nach gött­li­cher Vorgabe bis zur Aufer­ste­hung als im Besitz der Muslime. Jede Abwei­chung sei ein Verstoß gegen Gottes Wille. Deshalb sei die Tötung von Juden die Pflicht jedes Muslims. Diese Charta ist kaum mit dem Koran verein­bar, sie miss­braucht ihn für irdi­sche Inter­es­sen. Dennoch hat der hier formu­lierte Hass nichts mit rassis­ti­schen Feind­se­lig­kei­ten zwischen Semi­ten zu tun. Anti­se­mi­tis­mus wäre selbst hier die falsche Zuschrei­bung.

Das ist keine akade­mi­sche Spitz­fin­dig­keit, sondern soweit ich sehe, ein bedeu­ten­der prak­ti­scher Unter­schied. Gegen den anhal­ten­den Vorwurf, einer feind­li­chen Ethnie anzu­ge­hö­ren, kann man sich nicht wehren, da kommt man im wahrs­ten Wort­sinn nicht aus seiner Haut. Aber Scha­lom – Salam – Frie­den ist das oberste mora­li­sche Gebot aller Gläu­bi­gen und Ungläu­bi­gen. Der Fried­fer­tig­keit zum Durch­bruch verhel­fen – hier besteht wahr­lich Vertei­di­gungs­be­darf.

Statt die mittel­al­ter­li­che Verir­rung Anti­se­mi­tis­mus wieder­zu­be­le­ben, gilt es den Ausgren­zungs­fe­ti­schis­mus gene­rell aufzu­ge­ben, die wirk­li­chen Inter­es­sen der Gegen­seite zur Kennt­nis zu nehmen. Dazu gehört, hart­nä­ckige Miss­ver­ständ­nisse abzu­bauen. Etwa die miss­ver­stan­dene Bedeu­tung von den Juden als von Gott auser­wähl­tem Volk. Man könnte es auch als geschätz­tes oder beson­de­res Volk über­set­zen. Dabei geht es nicht um eine Bevor­zu­gung der Juden. Mit der Offen­ba­rung der Tora am Berg Sinai hat Abra­ham eine große sitt­li­che Verpflich­tung entge­gen­ge­nom­men. Nämlich Vermitt­ler für alle Menschen zwischen Gott und der Schöp­fung zu sein. Wird Israel, das so viel Wert darauf legt, ein jüdi­scher Staat zu sein, dieser Verpflich­tung mit dem jetzt von ihm ange­rich­te­ten Inferno in Gaza gerecht? Sicher nicht.

Wir sind auser­wählt zum Leid, hatte meine Mutter (die Vater­jü­din) gesagt. Aber nein, Mame, kein Gott, kein Staat und kein Mili­tär­bünd­nis hat das Recht, irgend­eine Gemein­schaft leiden zu lassen. Aber ja, verdammt sind wir alle auf dieser klei­nen, wunder­ba­ren Erde – verdammt uns zu vertra­gen. Und das geschieht uns recht.

Daniela Dahn

[ Dieser Text erschien zuerst in der Berli­ner Zeitung und steht unter der Lizenz CC BY-NC-ND 4.0 ]

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