Zeichnender Rabauke aus dem Wedding

Otto Nagel vor seinem Selbstporträt, 1949

Vor 130 Jahren wurde der Maler Otto Nagel gebo­ren. Seine Enke­lin erin­nert an den Ehren­bür­ger Berlins und seine Sicht auf die Stadt

Der altehr­wür­dige Gendar­men­markt in Berlins Mitte lockt mit drei monu­men­ta­len Bauten: den Zwil­lin­gen Deut­scher und Fran­zö­si­scher Dom sowie dem Schau­spiel­haus. Im Pflas­ter neben der Haupt­treppe des Thea­ters finden sich sieben Tafeln mit Berlin-Zita­ten. Alle Plat­ten sind etwas brüchig, viel­leicht zertre­ten. Auf einer wird der Künst­ler Otto Nagel zitiert: „Ich habe sie schon immer geliebt, die alte Stadt; geliebt in achtungs­vol­ler Vereh­rung.“ Aber so recht passen will das nicht: Nagel malte das alte, wenig beach­tete Berlin, die stil­len Winkel und Gassen, wo das Volk lebte; nicht das bürger­lich-reprä­sen­ta­tive Berlin, wie es sich am Gendar­men­markt zeigte. Berlins Ehren­bür­ger Otto Nagel ist ein Kind aus dem prole­ta­ri­schen Wedding.

Fami­lie igno­riert Talent

Der Vater Carl heira­tet 1877 Emma Barschin aus einer Huge­not­ten­fa­mi­lie. Eine erste Wohnung findet das Paar in der Lieben­wal­der Straße. Die Fami­lie wächst, vier Söhne bis 1886. Später, in der nunmehr Wilhel­mi­ni­schen Ära, gesellt sich Otto dazu – 1894. Vor 130 Jahren leben in Berlin etwa 1,7 Millio­nen Menschen. Die Fami­lie Nagel findet in der Reini­cken­dor­fer Straße 67 ein neues Zuhause; eine typi­sche Miets­ka­serne aus der Grün­der­zeit um 1870.

Mit der Geburt von Otto als sieben­tem Bewoh­ner ist es sehr eng in der Wohnung. Im zwei­ten Hof im Parterre leben die Nagels: kein Flur, gleich geht es in die Küche. In der Berli­ner Stube stehen die Betten, ein Vertiko, ein Sofa und ein klei­ner Tisch. Der Vater Carl hat in der zwei­ten Stube seine Werk­statt. Als Tisch­ler baut er Kommo­den oder repa­riert Stühle. Die Mutter poliert die Kommo­den und singt dabei gern. Das Fens­ter lässt zum dunk­len Hof hinaus­bli­cken. Hier wächst Otto Nagel auf.

Die übri­gen drei Hofsei­ten gehen steil vier Stock­werke hinauf. Ab und an schwebt über dem Fens­ter­brett auf mage­rem Stän­gel eine rote Gera­nie. In einer solchen Miets­ka­serne lebt der Indus­trie­ar­bei­ter genauso wie der Schlos­ser, Dreher, Bauar­bei­ter oder Tisch­ler. Sonder­bare Berufe gibt es genauso. So einen hat die „dicke Berta“, als stärkste Dame Nord­deutsch­lands ist sie sonn­tags auf dem Rummel zu sehen.

Otto, der Spät­ge­bo­rene, entdeckt den Wedding. Wenige Hundert Meter entfernt ist das dörf­li­che Reini­cken­dorf. Eine bunt gemischte Straße, mal eine Miets­ka­serne, mal ein altes Gehöft. Die Stadt in das Land hinein gebaut. Tausende Menschen wohnen hier. Man soll es kaum für möglich halten, aber einer kennt den ande­ren. Viele Knei­pen gibt es. Nur kurz über die Straße, schon ist Otto im Lause­park. Drei Bänke laden vormit­tags die Penner zum Fläzen ein. Eine grüne Blech­bude und fünf, sechs kümmer­li­che Bäume geben etwas Farbe zum tris­ten Grau.

Sonn­tags gibt es viel Kultur. Gern besucht Otto mit der Mutter und Tante Berta Weimanns Spezia­li­tä­ten­thea­ter in der Badstraße. In der Straße am Gesund­brun­nen gibt es auch das Mari­en­bad und das Bern­hard-Rose-Thea­ter. In Weih­manns Gast­stätte mit Thea­ter­bühne feiern die Arbei­ter den 1. Mai. Man trinkt Berli­ner Weiße mit Schuss. Die Kinder fahren Karus­sell. Im Rose-Thea­ter tritt in den Vorstel­lun­gen der alte Bern­hard Rose persön­lich auf. Die Stücke sind sehr volks­tüm­lich. Oft geht es um irgend­eine Unge­rech­tig­keit, die einem alten Hand­wer­ker geschieht. Im Arbei­ter­thea­ter­ver­ein Fröh­li­che Prole­ta­rier wirken die älte­ren Brüder mit.

Seit seiner frühes­ten Kind­heit malt und zeich­net Otto. Zuerst vom Fens­ter der Wohnung. Der Blick über das Haus hinter der Mauer mit dem blauen Himmel darüber. Dann ein Panorama der Rehberge, des allseits belieb­ten Volks­parks. Auch den grauen Stadt­rand mit den unzäh­li­gen Miets­ka­ser­nen. Oft zeich­net er seine Mutter, meist wenn sie liest oder am Tisch einge­nickt ist. Den Vater wagt der Junge nur zu zeich­nen, wenn er schläft. Zeigt Otto seiner Mutter ein Porträt von ihr, sagt sie: „Ach Junge, so’ne alte häss­li­che Frau zu malen!“ In der Fami­lie Nagel inter­es­siert sich keiner für Ottos zeich­ne­ri­sche Versu­che. Ein gele­gent­li­ches Lob des Zeichen­leh­rers und von erstaun­ten Schul­ka­me­ra­den erfreut ihn.

Sonst ist Otto ein Weddin­ger Junge, der alles mitmacht. Ganz gleich, ob es Keile­reien sind oder irgend­wel­che dummen Strei­che. „Ich war also eine merk­wür­dige Mischung von zeich­nen­dem Rabau­ken, war weder verträumt noch abson­der­lich“, schreibt der alte Maler rück­bli­ckend. Kaum aus der Schule ist Otto Nagel Hilfs­ar­bei­ter, mal hier, mal dort.

1919 lernt Otto Nagel den Kunst­kri­ti­ker Adolf Behne kennen. Er fördert den jungen Arbei­ter. 1921, nach dem großen März-Streik frist­los entlas­sen und auf der Schwar­zen Liste, wagt Nagel es, als freier Künst­ler zu arbei­ten. Eine erste erfolg­rei­che Ausstel­lung ebnet den Weg.

Im Sommer dessel­ben Jahres macht sich Otto Nagel mit Zeichen­uten­si­lien im Gepäck auf die „Walz“ in Rich­tung Nieder­bay­ern. Ohne Staf­fe­lei und Keil­rah­men. Studien in Kreide und Pastell entste­hen, meist an Ort und Stelle verkauft. So füllt sich die Reise­kasse wieder auf. Otto Nagel verdient als Zeich­ner sein Herbergs­geld.

Kaum zurück im Wedding ist der junge Künst­ler unter den Menschen, mit denen er lebt. Das Ölpor­trät reizt Nagel. Der Obdach­lose, der ausge­mer­gelte Arbei­ter, die Ausge­sto­ße­nen – sie alle finden sich und ihre Welt in seinen Bildern wieder. Otto Nagel, die Menschen und seine Bilder sind eins. Dort, wo Kommu­nis­ten, Partei­lose und vor allem Arbeits­lose verkeh­ren, im Weddin­ger Lokal Sänger­heim, zeigt der Künst­ler schon 1926/27 um die hundert Arbei­ten. Es ist die erste große Ausstel­lung mit sozi­al­kri­ti­schen Bildern.

In der Nazi­zeit gelten Nagels Werke als „entar­tet“. Schi­ka­nen gegen den Kommu­nis­ten folgen. Nagel wählt notge­drun­gen die Straße als sein Frei­luft­ate­lier. Der Thea­ter­kri­ti­ker Herbert Ihering (1888–1977) schreibt: „Der von den Nazis verfolgte Otto Nagel setzt sich in die Hinter­höfe, in die Ecken und Winkel und malt das alte Berlin, seine Vater­stadt. Und – selt­sam oder nicht – diese innere Ergrif­fen­heit spürt man vor den Pastel­len. Eine Anteil­nahme, die aber niemals in ein Roman­ti­sie­ren und Senti­men­ta­li­sie­ren über­geht.“ Für den Künst­ler ist eine Straße nie völlig leer. „Auf fast allen diesen Altber­li­ner Pastel­len sind wenig Menschen, oft nur, wie sie gerade eine Straße verlas­sen, dem Betrach­ter den Rücken zuge­kehrt. Und doch spre­chen diese Stra­ßen, spre­chen sie Berli­ner Dialekt“, so Ihering.

Berlins Altstadt bewahrt bis zum Krieg ihr mittel­al­ter­li­ches Flair. Der Künst­ler entdeckt in den 1940er-Jahren hier, in seinem Alt-Berlin, so vieles. Cölln, die ältere der Doppel­stadt Berlin-Cölln, entstand als Fischer­sied­lung auf der Spree­insel. Am Spree­arm entlang führt die Fried­richs­gracht. Schmale Häuser aus dem 17. Jahr­hun­dert, das unbe­rührte Berlin. Einst lebten hier wohl­ha­bende Leute, später arme Menschen. Die Fischer­straße, wohl die älteste Straße, führt direkt zum Wasser an der Fried­richs­gracht. Die schwe­ren Holz­tü­ren aufge­scho­ben, geht Nagel immer wieder durch die Dielen – rechts und links durch uralte Bohlen abge­stützt –, an den Trep­pen­häu­sern vorbei auf die Höfe. Direkt am Wasser liegend, ziehen sich die Höfe hin aus der Zeit, in der hier Fischer lebten und arbei­te­ten. Das älteste Haus­zei­chen in der Fischer­straße von 1604 zeigt ein lustig-krum­mes Wappen­schild mit einem Männ­chen machen­den Eich­hörn­chen. Der Blick nach oben über das Wappen erfreut den Künst­ler: zwei über­ein­an­der­lie­gende zier­lich geschnitzte Holz­ga­le­rien, grüne Blät­ter und Rosen geben Farb­tup­fer. Den Eich­hörn­chen­hof hält Nagel 1941 in einem Pastell fest. Nach dem Krieg kehrt der Maler für sein Buch „Berli­ner Bilder“ (1955) an den Ort zurück. Ein trau­ri­ger Anblick, vieles zerstört. Auch der Name der Straße verschwin­det 1969 zuguns­ten der heuti­gen Fischer­insel.

Paral­lel zur Fischer­straße läuft die Petrist­raße, für Nagel die Schwes­ter­straße. Die schma­len, zwei bis drei Fens­ter brei­ten Häuser sind mehr als 300 Jahre alt. Ein lusti­ges Bild, wie diese Häuser, den Orgel­pfei­fen gleich immer größer werdend, sich neben­ein­an­der­drän­gen. Hier versteckt sich der wohl schönste Hof Berlins. Eine mit Wein umrankte Gale­rie läuft ringsum. Blumen inmit­ten von Kopf­stein­pflas­ter – südli­che Klein­stadt­idylle. Wie oft findet der Künst­ler an diesem Ort ein Motiv.

Eine letzte Rück­kehr 1965

1965 kehrt Otto Nagel noch einmal zurück in sein altes Berlin, ange­spornt durch seine Toch­ter Sybille, die sich 1968 an die Episode erin­nert: „Wir fuhren zur Fischer­straße. Unge­fähr eine Stunde lang gingen wir durch die alten Häuser und Höfe; dann meinte er: ‚So, hier blei­ben wir.‘ Und in knapp fünf Stun­den, bei glühen­der Hitze, malte der damals 71-Jährige seinen ‚Abschied vom Fischer­kiez III‘.“ Viel Raum gibt der Künst­ler den krum­men und schie­fen alten Häusern in Pastell auf grauem Papier mit gut 50 mal 60 Zenti­me­tern. Später entsteht an dem Ort das heutige Wohn­ge­biet Fischer­insel.

Hier eröff­net 1973 am Märki­schen Ufer 16–18 das Otto-Nagel-Haus. Einst malte der Künst­ler die alte Treppe in dem Baudenk­mal aus dem 18. Jahr­hun­dert. Es ist der rich­tige Ort für eine Stätte der Kultur im Sinne Nagels, geführt von den Erben bis Ende 1978.

Kurz kehren die Motive der Fischer­straße, der Petrist­raße und der Fried­richs­gracht zurück in das zur Natio­nal­ga­le­rie gehö­rende Otto-Nagel-Haus. 1994, zum hunderts­ten Geburts­tag, zeigt das Museum 82 Werke des Malers. Ein leises Verschwin­den, die Bilder sind nun in Depots gut verwahrt. Dieses Jahr wäre Otto Nagel 130 Jahre alt gewor­den. Eine gute Gele­gen­heit, sich mit seinem Werk und seinem Berlin zu beschäf­ti­gen.

Salka-Valka Schal­len­berg
(Schal­len­berg, gebo­ren 1972, ist die Enke­lin Otto Nagels. Sie arbei­tet als Jour­na­lis­tin. Kürz­lich erschien ihr Buch „Erzähl­tes & Unge­sag­tes meiner Groß­el­tern Walen­tina und Otto Nagel“ im Verlag Edition Schal­len­berg.)

Bundes­ar­chiv, Bild 183-R91789 / CC-BY-SA 3.0

[ Dieser Text erschien zuerst in der Berli­ner Zeitung und steht unter der Lizenz CC BY-NC-ND 4.0 ]

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