Gestern in Berlin zu Haus

Fallada

Wenn er nicht einen Sohn hätte, den er als geschei­tert und eine Schande hätte bezeich­nen müssen, dann wüsste man von dem Reichs­ge­richts­rat Ditzen rein gar nichts. Bevor er Reichs­ge­richts­rat wurde, war er Kammer­ge­richts­rat und wohnte also in Berlin in der Luit­pold­straße in Schö­ne­berg. Der Sohn hat mit der Zeit an verschie­de­nen Stel­len in Berlin sei Leben zuge­bracht: in der Luit­pold­straße — wie gesagt -, in der Calvin­straße, in der Mera­ner Straße, im Eisen­men­ger­weg in Nieder­schön­hau­sen, in der Nuss­baum­al­lee in West­end und noch anderswo. Er nannte sich Hans Fallada, nach einem Pferd, das nicht aufhö­ren konnte, die Wahr­heit zu sagen. Fallada hat nun keines­wegs immer die Wahr­heit gesagt, aber viel­leicht unter dem Strich. Gestern bin ich einen Gang durch Berlin nach­ge­gan­gen, den er in seinem Buch “Gestern bei uns zu Haus” beschreibt; 1906 von der Luit­pold­straße, den Land­wehr­ka­nal entlang, zu Wert­heim am Leip­zi­ger Platz, zum Schloss.

Der uner­laubte Ausflug des Rich­ter­soh­nes — einen Spazier­gang kann man die Unter­neh­mung gewiss nicht nennen — endet im Scheu­nen­vier­tel. Er beschreibt es 1941 als ein Vier­tel von Gesetz­lo­sen, in dem keine Kammer­ge­richts­rät­lich­keit gegol­ten habe. Laufend, rennend rettet er sich daraus. Als ich — drei Stun­den lang — Falla­das Kinder­weg nach­ging, waren die Stra­ßen­na­men meist die alten. Muss man darauf warten, dass — nach­dem die Stadt­of­fi­zi­el­len sich so viel Mühe geben, das wilhel­mi­ni­sche Berlin wieder­erste­hen zu lassen — die Stre­se­mann­straße demnächst in Königs­grät­zer Straße zurück­be­nannt wird? Durch diese Kreuz­ber­ger Straße errei­che ich die Stelle, an der der 12-jährige Fallada das große Waren­haus Wert­heim erreicht hatte. Mehr als die Spiel­zeuge liebte er die Betten­ab­tei­lung: das Meublem­ent für die verbor­gene und verbo­tene Seite des Lebens. Wenn nun das Leben, das wir im Traume führen das wahre Leben ist, und das, in dem ich z.B. diesen Text schreibe, das erträumte?

Ach die Zeit, die Zeit! “Zum Schluss noch die Uhren­ab­tei­lung … Wir lauschen dem Ticken vieler, vieler Uhren. Es schien hier gewis­ser­ma­ßen eine Werk­statt der Zeit zu sein, dieses unbe­greif­ba­ren Dinges Zeit, das wir nie verste­hen konn­ten, das uns jeden Tag unfass­lich verwan­delte, uns uns selber immer frem­der machte”. Was für ein Gedanke! Das Leben eine Reise, auf der wir uns immer frem­der werden. Am Ende sind wir gar nicht mehr wir selbst. Ich denke an Falla­das eige­nes Ende. Ein Opfer des Rausch­gifts, nein … ein Opfer des Lebens. Viel­leicht auch der Schrift­stel­le­rei, der Imagi­na­tion, der Kunst. Er hatte sich daran gewöhnt, den Tod “als die einzige noch verblei­bene Hoff­nung anzu­se­hen, die ihn gewiss nicht enttäu­schen würde”. Das war 1947, da war er 53 Jahre alt. Als er in der Uhren­ab­tei­lung bei Wert­heim steht und die Zeit vorbei­ti­cken hört, sind es bis dahin noch über 40 Jahre.

Nun beginnt der inter­es­san­teste Teil von Falla­das Weg, von Wert­heim zum Schloss, vom glit­zern­den Tempel des Konsums zum dunkel-verschlos­se­nen Schrein, in dem die Ideo­lo­gie gehü­tet wurde, an der sie schließ­lich alle star­ben. Der 12-Jährige verlässt Wert­heim durch den Ausgang an der Voßstraße, “am düste­ren Justiz­mi­nis­te­rium” vorbei in die Wilhelm­straße. Die DDR — das gehört gewiss zu ihren besse­ren Taten — hat der BRD an der Stelle, an der das Justiz­mi­nis­te­rium stand, ein Wohn­haus hinter­las­sen; “einen Plat­ten­bau”, sagen manche, als ob es hier etwas zu schmä­hen gäbe. Die städ­ti­sche Erin­ne­rung an die Wilhelm­straße, in der die Unter­drü­ckun­gen geplant worden sind und die Kriege, ist ausge­löscht; jetzt wohnen Leute hier, die sich nicht mehr auf den Staat zu bezie­hen brau­chen. In der Voßstraße, wo F. vorbei­ging und ich eben jetzt, hat das BGB, das in diesem Jahr­hun­dert 100 gewor­den ist, das Bürger­li­che Gesetz­buch, seine endgül­tige Fassung und Form erhal­ten; jetzt macht dort viel­leicht, wo Planck aus Hanno­ver das Ehe- und Fami­li­en­recht formu­liert hat, eine Mutter ihrem Kind die Milch warm. Eine Zeit lang hatte die DDR das BGB abge­schafft und durch ein Gesetz­buch ersetzt, das sich lesen lassen konnte, nun ist das BGB, das hundert­jäh­rige, wieder­ge­kom­men; einer von den mehre­ren rechts­ge­schicht­li­chen Witzen, die die Verei­ni­gung geris­sen hat und über die nicht jeder lachen kann. Wenn der 12-jährige Kammer­ge­richts­rats­sohn nun in die Wilhelm­straße einbiegt und ein Stück aufwärts gegan­gen ist, kann er den Platz sehen, an dem 40 Jahre später sein endgül­ti­ger, sein letz­ter Tod beginnt: in der Charité, aller­letzte Stunde in Pankow, allein.

Über die Wilhelm­straße durch die jetzt auch ich gehe, will ich nicht schrei­ben. Ich müsste ein großes Stück deut­scher Geschichte aufschrei­ben. Ich esse ein Eis in “Porta Bran­den­burga”, nicht darüber nach­den­kend, welche Geschichte unter dieser freund­li­chen italie­ni­schen Gela­te­ria einge­gra­ben ist wie Gott­helfs schwarze Spinne. Man hätte der Straße den Namen Grote­wohls lassen sollen. Nichts für Grote­wohl, doch für die Wilhelms doch erst recht nichts. Auch als sie nach dem ehema­li­gen SPD-Vorsit­zen­den hieß, führte die Straße durch die deut­sche Geschichte. Ein Wunsch­kon­zert ist die deut­sche Geschichte nicht. Im Minis­te­rium der silber­blauen Margot werden die Bundes­tags­ab­ge­ord­ne­ten sitzen, wenn sie kommen. Viele blie­ben wohl lieber in Bonn; hier in Berlin kommen sie in eine Umge­bung mit Spal­ten und Ritzen, durch die man schnell hindurch­fal­len kann, und keiner vermisst einen. Links die Akade­mie, der die Lokal­po­li­ti­ker vorschrei­ben möch­ten, wie sie bauen soll, bloß nichts Moder­nes, sondern etwas Nach­ge­mach­tes, Berlin will eine Imita­tion sein, die Imita­tion einer Stadt, die es gege­ben hat und nicht mehr gibt und die auch Berlin hieß. “Es war ein trüber Nach­mit­tag im Novem­ber. Auf dem Mittel­weg unter den mäch­ti­gen Linden klebte das feuchte Laub sich an unse­ren Schu­hen fest”. Der Knabe Fallada kam nun zur Kaiser­pas­sage, und in der Passage ist Kastans Panop­ti­kum. Dort steht jetzt das Grand Hotel. Die Geschich­ten, die hier von der Hotel­ge­gen­wart einge­schlos­sen sind, halten viele Über­ra­schun­gen bereit. Im Pres­tel-Verlag ist vor Kurzem ein Buch des besten deut­schen Bauhis­to­ri­kers darüber erschie­nen, von Johann Geist von der Akade­mie der Künste. Ein Meis­ter­werk der Bauge­schichts­schrei­bung, besser geht es nicht. Da wird die Zeit ausge­klappt und wieder zuge­klappt; nicht nur vom Wachs­fi­gu­ren­ka­bi­nett, in dem der 12-jährige Fallada ene Szene in Wachs sah, die er ein paar Jahre später in den Wäldern über Rudol­stadt selbst erle­ben würde: nach einem wahn­sin­ni­gen Duell lag ein Freund erschos­sen zu seinen Füßen. Nur einer von den vielen Erschos­se­nen, die nicht wuss­ten warum.

Dann waren sie beim Schloss, der Kaiser war nicht da. “Die Fanfare seines Autos: Tatü tata klang all seinen Unter­ta­nen mit ‘bald hier, bald da!’ in den Ohren. Das Schloss lag grau und düster unter dem grauen, düste­ren Himmel.” So wird es auch unter einem Sommer­him­mel da liegen, wenn man es jetzt erneu­ern wollte. Wer keinen König braucht, der braucht auch kein Schloss. Jetzt steht der Palast der Repu­blik da; er ist auch nicht außer­halb der deut­schen Geschichte entstan­den. Wir müssen aufhö­ren, die deut­sche Geschichte nach jedem deut­schen Deba­kel so zurecht­mo­deln zu wollen, wie wir gerne hätten, dass sie verlau­fen wäre. Fallada ab in das Scheu­nen­vier­tel, das nicht mehr da ist, die Reste liegen als Asche am Grund der Weich­sel. Da möchte ich auch davon­lau­fen, wie Fallada damals davon­ge­lau­fen ist. Er ist schließ­lich zu Haus ange­kom­men, und der Kammer­ge­richts­rat hat ihn verhauen. Die Hiebe hat er für die Verspä­tung gekriegt. Ich würde sie fürs Fort­lau­fen bekom­men.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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