Nachts am Leo

Rich­tig ruhig wird am Leopold­platz nie, dafür sorgen schon die beiden großen Durch­gangs­stra­ßen. Aber die Hektik ist weg, wenn man sich zwei Stun­den nach Mitter­nacht einen Platz sucht und beob­ach­tet. Jetzt fällt einem erst auf, wie dunkel und bedroh­lich das Kauf­haus ist, seine Fassade wirkt wie die Mauer einer Burg. Aus dem Fens­tern fällt kein Licht, man sieht keine rufende Werbung — nachts lohnt es sich nicht, den Strom dafür anzu­schal­ten.

Die weni­gen Taxis stehen davor, als würden sie schla­fen. Sie sind dunkel, nur das Taxi­schild tut so, als warte hier jemand auf Kund­schaft. Ob man den Fahrer erst wecken muss, wenn man seine Dienste in Anspruch nehmen will? Auch in den Autos brennt kein Licht, viel­leicht beob­ach­ten die Taxi­fah­rer die Straße, bewa­chen die Burg, vor der sie stehen.

Gegen­über der eigent­li­che Platz ist eben­falls fins­ter. Auf dem Weg, die Schul­straße über­que­rend, kommt man an dem klei­nen nack­ten Männ­chen aus Metall vorbei. Er erin­nert mich an ein Erleb­nis, eben­falls nachts, hinter der Kirche. Aber da ist norma­ler­weise nichts los.
Der Platz ist ruhig, auf einer Bank sitzt ein einzel­ner Mann, bestimmt ein Obdach­lo­ser, eine Flasche liegt neben ihm. Er beob­ach­tet mich, ich störe ihn. Viel­leicht bin ich eben durch sein Schlaf­zim­mer gelau­fen, ohne es zu merken. Mir wird bewusst, wie kost­bar es ist, nach Hause gehen zu können. Wenn man eines hat. Er ruft mir irgend­was nach, lallt, ich verstehe es nicht. Viel­leicht meint er aber auch die junge Frau, die neben mir an der Bushal­te­stelle steht und wartet. Ihr Gesicht ist müde, offen­bar kommt sie von der Arbeit, Spät­schicht. Sie tippt etwas in ihr Handy, schickt eine Nach­richt. Ich freue mich, denn sie hat jeman­den, dem sie schrei­ben kann. Der viel­leicht schon in der Wohnung auf sie wartet. Sie sieht nicht sehr reso­lut aus.
Die drei Jugend­li­chen, die ein paar Meter weiter eben­falls auf den Bus warten und sich laut­stark über sie unter­hal­ten, igno­riert sie. Was hätte sie auch für eine Chance? Selbst tags­über laufen hier die meis­ten teil­nahms­los an sich vorbei, nachts würde ihr wohl erst recht niemand helfen. Ein lautes Hupen, ein BMW bremst, die drei Hormon­bun­ker rennen hin und stei­gen ein. Für wenige Momente wird es ruhi­ger.

Der Bus kommt und während sie vorn einsteigt, kommen an der Seite drei Schwarze heraus. Sie sehen sich auf dem Platz um, blei­ben noch ein paar Minu­ten stehen, reden, lachen. Es sieht aus, als kämen sie gerade aus einer Kneipe, viel­leicht einer Kultur­ver­an­stal­tung, ihre gute Laune ist nicht zu über­hö­ren, sie steckt auch an. Schein­bar haben sie einen schö­nen Abend gehabt. Als sie sich vonein­an­der verab­schie­den, erkennt man im Licht ihre blauen Over­alls. Also Kolle­gen, keine Kultur.

Durch die Müllerstraße schreien plötz­lich Sire­nen, sie gehö­ren zu vier Feuer­wehr­au­tos, die von Norden kommend Rich­tung Mitte fahren. Warum tönen sie mit ihren Martins­hör­nern herum, wenn die Ampel für sie doch Grün zeigt und ihr flackern­des Blau­licht alle Aufmerk­sam­keit auf sich zieht? Haben sie Angst, dass doch noch ein müder Nacht­spa­zier­gän­ger unab­sicht­lich und unvor­sich­tig die Fahr­bahn betritt und dann selber einen Kran­ken­wa­gen braucht?

Ein paar Meter weiter ist alles hell erleuch­tet. An der Ecke zur Luxem­bur­ger Straße können die Passan­ten gleich zwischen sieben “Restau­rants” wählen. Es sind die Nach­fah­ren derje­ni­gen, die einst aus dem Süden und Südos­ten nach Deutsch­land gekom­men sind, um hier ihr Glück zu machen. Heute heißen die Läden “Kaplan”, die enden auf “alan” oder “ilik” und haben alle helle, bunte Leucht­stoff­wer­bung über ihren Läden. Einer nennt sich “Süßwa­ren­la­den”, ist aber doch ein Imbiss. Und leer, wie die meis­ten.
Neben der Apotheke wohnt jemand. Er hat all sein Hab und Gut um sich herum verteilt, liegt an der Haus­wand und beob­ach­tet die nächt­li­chen Passan­ten. Viel­leicht fühlt er sich von ihnen, uns, bedroht.

Ein türkisch­stäm­mi­ger Junge, höchs­tens 12 Jahre alt, sitzt auf der Bank vor dem Döner-Imbiss, bis der Wirt ihn verscheucht. Lang­sam schleicht er in die Müllerstraße, nach ein paar Minu­ten ist er wieder am Platz, ziel­los beob­ach­tet er die Gegend und die weni­gen Leute. Wie ich.
Wenn ein Doppel­de­cker­bus den Platz anfährt, dann kommt für Sekun­den Leben in die Bude. Das Licht des Ober­decks erhellt den Bürger­steig, fünf oder zehn Perso­nen stei­gen aus und verschwin­den sofort in alle Rich­tun­gen. Auf dem Leopold­platz hält man sich nachts nicht auf, wozu auch.

Dabei ist er ein klei­nes Zentrum. Tags­über sowieso, aber auch nachts. Wenn man im Wedding jeman­den sucht, wartet man am besten hier, am Leo. Alle, die unter­wegs sind, kommen irgend­wann hier vorbei. Der Platz ist vor allem funk­tio­nal, tags­über Markt­platz oder Alki-Treff, nachts Umstei­ge­sta­tion, und für den einen oder ande­ren auch Nacht­la­ger.

Die alte Naza­reth­kir­che war schon kurz nach ihrem Bau zu klein, der große Bruder tritt unauf­fäl­lig in die zweite Reihe zurück. Nachts bemerkt man ihn nicht. Während­des­sen wird das alte Kirchen­haus ange­strahlt, in sanf­tem Schein hat es etwas Versöhn­li­ches, Beru­hi­gen­des. Mitt­ler­weile liegen auf drei Bänken Menschen, anschei­nend alte Männer. Obdach­lose, zumal nachts, sehen immer alt aus. Das liegt sicher an ihrer Situa­tion. Oder an dem ängst­li­chen Blick auf sie, der dem Betrach­ter sagen will: So wirst Du nie enden. Hoffent­lich.

Ein Poli­zei­wa­gen fährt lang­sam Streife, er kommt die Schul­straße entlangt, fährt um den ganzen Platz und dann lang­sam auch quer drüber. Aber die Staats­macht sucht heute Nacht keine schla­fen­den Obdach­lo­sen, höchs­tens Auto­kna­cker. Aber hier auf dem Platz gibt es keine Autos — außer das der Poli­zei.

Der Taxi­stand hat sich geleert, erst ist eine Frau in den ersten Wagen einge­stie­gen, gleich danach fuhren die beiden ande­ren Taxen los. Nun ist die Burg unbe­wacht.

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