Danzig, Wins, Jablonski

Die Winsstraße hat mir von drinnen gefallen, aus dem Friedhof an der Rollerstraße. Hinter der Mauer zog sie sich so gerade hin. Das kam mir als ein guter Charakterzug vor, als ich in sentimentaler Stimmung war. Ich wollte die Straße wieder und ganz sehen.
An der Eberswalder Straße verließ ich die U2, diese Berliner U-Bahn-Attraktion, die die Fremden unter und über vielem entlang fährt, von dem sie aus Büchern, wir aber aus der Wirklichkeit wissen: das ist Berlin. Berlin ist Name, Namen.
Die Dimitroffstraße heißt jetzt Danziger Straße; wer „wieder“ sagt, weil die Straße von 1874 bis 1950 nach Danzig hieß, knüpft an eine Vergangenheit an, die nicht zur Zeit der meisten gehört, die hier wohnen. Bestimmte Leute dürfen ihr Geschichtsverständnis in und mit der Stadt ausdrücken; das ist offenbar wichtiger, als dass sich die Normalbürger in der Stadt zurecht- und wiederfinden. Aber vielleicht täusche ich mich. Dimitroff ist jedenfalls (auch) eine Gestalt der deutschen Rechtsgeschichte. Die Rolle, die er vor dem Reichsgericht gespielt hat, wo deutsche Juristen ihn fertigmachen sollten, ist erinnerungswürdig. Damals gab es den Volksgerichtshof noch nicht. Ich weiß schon, dass der auf meinem heutigen Spaziergang auch noch vorkommen wird.
Die breite D-Straße, eine Avenue, ein Volksboulevard, ist eine zeittypische Berliner Straße: typisch für viele Zeiten Berlins, auch für die Zwischenzeit, in der wir jetzt leben. Viele kleine Läden, Kneipen, viele junge Frauen, die mir selbstbewusst, clever, ausgeschlafen vorkommen, viele Männer, die mir ausgebrannt und müde vorkommen: da sehe ich wohl durch die Brille meines eigenen Zeitverständnisses.
Vorbei an den renovierten Fronten der Hagenauer Straße, der Husemann-, der Kollwitzstraße: klassisches Berlin-Gelände; die Video-Shops wirken auch als postmodern gestylte Video-Centers surreal in dieser sich von unten her erneuernden Straße.

Aber natürlich ist das eine Video-Welt: eine Welt der Träume, Einbildungen, Grausam- und Glücklichkeiten, Horror und Aerobic-Erotic: unsere Gefühlswelten werden nicht in den Straßen hergestellt, in denen wir wohnen. Sie werden geliefert, wer weiß woher, an unseren Gefühlen verdienen andere schweres Geld. Ich überquere die Prenzlauer Allee, gehe die angenehm abfallende Chodowieckistraße hinunter, die sich als Dietrich-Bonhoeffer-Straße hinter der Greifswalder wieder anhebt. Chodowiecki, der ein Franzose sein wollte und eher ein Pole war, passt gar nicht zu diesem Berlin des Ausbeutungskapitalismus, der diese Straße gebaut hat, sich nur wenig Mühe gebend mit den Fassaden; nun sind die meisten Antiken auch abgeschlagen und hinter strengem Verputz vergessen. Nummer 37 noch eine nackte Frau und zwei Paare, die sich weit oben gegenseitig die ohnehin spärlichen Kleidungsstücke ausziehen.
Die Straße ist ruhig, fast privat, die Jablonskistraße auch, in die ich von der Greifswalder, nun aufwärts gehend, einbiege. Mitten in dieser Gegend des Volkes sind zwei Straßen nach Akademiepräsidenten benannt: Chodowiecki, der berühmte Kupferstecher, war ein paar Jahre lang Präsident der Akademie der Künste; Jablonski, der nicht berühmt ist und von dem man gar nichts mehr weiß, ein Theologe, war Akademie der Wissenschaften, da saßen sie am Pariser Platz und dienten dem jeweiligen König.
Die Winsstraße hat ihren Namen nach Thomas, Nicolaus, Valentin, Jacob, Christoph Wins, die hintereinander im 15. Jahrhundert Bürgermeister von Berlin waren. Auch das waren Männer, die im 19. Jahrhundert, als diese Straßen ihr heutiges Gesicht erhielten, für die Leute, die hier wohnten, gar nichts bedeuteten. Auch heute bedeuten sie nichts.

Die Namensgeber erinnern an nichts. Aber die Namen erinnern an viel. Die Ecke Jablonski-/Winsstraße ist der Eingang in einen Zeittunnel; Kinderzeichnungen trösten die graue Garagenwand; die gegenüber liegenden Garagengrundstücke gehören der Zeit an, in der Berlin zwar in den Weltnachrichten heftig vorkam, aber das Berlin, das hier lebte, war das nicht.
Das ist eine Gegend, in der die Geschichte die Opfer sucht. „Die Briefträgerin Eva Kluge steigt langsam die Stufen im Treppenhaus Jablonskistraße 55 hoch. Sie ist nicht nur deshalb so langsam, weil ihr Bestellgang sie ermüdet hat, auch weil einer jener Briefe in der Tasche steckt, die abzugeben sie hasst“: Der Sohn der Quangels in der dritten Etage ist in Frankreich gefallen. Das macht seine Eltern Anna und Otto Quangel aus der Jablonski 55 zu Widerständlern gegen Hitler. Die Gestapo fasst sie, der Volksgerichtshof verurteilt sie, der Scharfrichter der Stadt Berlin köpft den Werkmeister Otto Quangel, der für Gerechtigkeit war, Anna Quangel kommt bei einem Bombenangriff auf Berlin in der Todeszelle um.
„Jeder stirbt für sich allein“: Das ist der letzte Roman Hans Falladas, der erste deutsche Roman über den Widerstand gegen die Nazis, 1946 geschrieben, Fallada war schon tot, als er erschien. Eine wirkliche Geschichte liegt der fiktiven zu Grunde, die wirklichen Helden lebten im Wedding. Ich kenne die Gründe nicht, die Fallada dazu bewogen haben, sie in der Jablonskistraße wohnen zu lassen, in einem Haus, das es nicht gibt, aber in einer Gegend, die zu ihnen passt; ist Fallada kurz nach WK II hier gewesen? Wie sah es damals hier aus? Woran erinnerten sich die Menschen? „…ein düsteres Gemälde… aber mehr Helligkeit hätte Lüge bedeutet“.

Ich sitze im „Titanic“, Ecke Christburger Straße. Ich habe nicht den Eindruck, dass das Schiff untergeht, auf dem wir gemeinsam fahren, immer noch in unterschiedlichen Klassen. Aus den unteren Schiffsklassen kamen mehr Menschen um, als das große Schiff sank, als aus den oberen.
Es kommt keiner von den Kapitänen und entschuldigt sich. Es geschieht alles ebenso wieder. Nazis raus! Diese Sprayparole ist in der Gegend oft zu lesen. Hier passt sie besonders gut.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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