Von Süd nach Nord durch Friedrichshain

Ausstieg links, die beiden Wörter haben einen ganz neuen Klang im Munde der beiden chinesischen Jungen, die auf der U-Bahn-Bank knieen, mit vielen Ohs und Ahs hinaussehen und der automatischen Stimme nachsprechen: „Ausstieg links“. Links steige ich also aus im U-Bahnhof Warschauer Straße. Hier will ich meinen ersten professionellen Spaziergang durch Friedrichshain beginnen. Mitten durch den Bezirk, die große Magistrale entlang, die von Kreuzberg als Skalitzer Straße, durch Friedrichshain als Warschauer, Petersburger Straße, als Dimitroff-Danziger und Eberswalder durch Prenzlauer Berg und als Bernauer Straße durch Wedding führt, bis sie als Chaussee- und Friedrichstraße zu der Ost-West-Durchquerung zurück führt und einen großen Halbkreis um die Mitte der Metropole geschlagen hat.
James Ludolf Hobrecht hieß der große Ingenieur, der als junger Mann den Straßenplan gezeichnet hat, aus dem Berlin eine Stadt des 19. Jahrhunderts in Glanz und vielem Elend hervorstieg, sich aufblähte, verfiel und sich nun vielleicht wieder erhebt. Noch keine 130 Jahre ist diese Geschichte alt vom Beginn bis jetzt.
Die Warschauer Straße ist von der Warschauer Brücke an ein Boulevard, ein Jedermann-Boulevard, viele kleine Geschäfte für uns alle. Wo der Boulevard beginnt, treffen Helsingforser und Marchlewskistraße aufeinander, die Straßen der Vereinigung, hier ließen, hörte ich, die Propagandisten die Statistenkolonnen zusammentreffen, die SPD und KPD darstellend sich hier vereinigten zur SED.

Gegenüber am verödeten Nutzhäuschen steht: „Stalin lebt“. Das soll ein Witz sein. Stalin lebt nicht. Die Geschichte, der er angehörte, ist gestrichen. Die Denkmäler sind fort, damit es nicht doch eine unzulässige Erinnerung gibt. Denkmalsschutz schützt nicht Denkmäler, sondern die herrschenden Ansichten. Am Haus Nr. 60 denkt eine Tafel an Heinrich Thieslauk, ermordet am 4. März 1937. Die frühesten Widerstandskämpfer gegen die Nazis waren bereits umgebracht, als die, die später den Ruhm ernteten, noch Mittäter waren. Keine Blumen in dem tönernen Blumenkasten vor der Denktafel; der Tod von T. bleibt auf die Mitteilung beschränkt; selbst die Zustimmung zu seinem Widerstand, die ein paar Stiefmütterchen ausdrückten, ist der herrschenden Erinnerung zu viel Zustimmung.
Eine andere Tafel am Nachbarhaus Nr. 61 erinnert an den „Sieger im Friedenswettbewerb der Gastfreundschaft Berlin 1951“, heute: McPaper & Co, Der Schreibmarkt, der manche Mark spart. Neben dem Video Erotik Shop steht an der Wand: „Nieder mit der Lohn- und Geschlechts-Sklaverei“. Die Sprayzüge verraten, dass derselbe Denker auch den Text an „Erika’s Imbiss“ auf der Straßenmitte, Ecke Grünberger Straße verantwortet: „Staaten gehören abgeschafft“. Ja – aber was statt dessen? Etwa die Familie?
Das habe ich selbst erlebt; 1945, im Sommer, war in Deutschland der Staat ziemlich abgeschafft, die Familien überlebten. Alte Leute wie ich wissen das noch. Die Familie ist ihnen deswegen nicht weniger unheimlich. Sie hat auch manchen auf dem Gewissen.

Kurz vor der Frankfurter Allee endet die Warschauer Straße mit einem Condomaten, mit Ruhnkes Jedermann-Eleganz und mit McDonalds. Am Fuße der Säulen, die die Ein- und Durchgangshalle hinter den Wohnpalästen tragen, Taubenschiss. Die Wände sind in mehreren Schichten farbig besprayt, überwiegend „I love“-Aussagen, aber auch die zu kreativem Mittun auffordernde Inschrift: „Die Gewalt geht immer von … aus“, das Dativobjekt fehlt. „Keine Macht für niemand“ zitiert jemand eine Uralt-Parole; in den frühen 70er Jahren war sie in Westberlin häufig zu lesen; Günter Gaus, der nach seiner Diplomatenzeit in der DDR Wissenschaftssenator war in Westberlin und sich in diesem Amt sichtlich unwohl fühlte, philosophierte oft über dieses Spray-Axiom. Niemandem Macht – das geht eben nicht, dachte der Senator. Ob er das jetzt noch denkt, oder ob er unterdessen wieder träumt?

Die Henselmann-Türme, die hier das Frankfurter Tor bilden, sind schön; ich wollte schreiben „einfach schön“, aber einfach ist das Schönheitsempfinden, das an sie anknüpft, eben gerade nicht. Die städtebauliche Anlage, die hier beginnt und einen Höhepunkt hat, ist ein Glanzstück des Städtebaus in Berlin. Die ideologischen Brillen sind abgenommen. Wer kurz nach dem zweiten europäischen Weltkrieg die historisierenden Fassaden betrachtete, von denen Berlin voll war aus dem 19. Jahrhundert, der erkannte den Geist, der Geschichte vorgegeben, aber Imperialismus und Ausbeutung gemeint hatte. Da wollte man glatte Fassaden. Heute wissen wir nichts mehr von der Geschichte. Da können wir in Ruhe wieder ein bisschen altertümeln und imitieren. Die Karl-Marx-Allee hat es als Stalin-Allee schon in den 50er Jahren getan. Sie hat historisch recht gehabt. Und Hans Scharoun, der in den endenden 40er Jahren mit vielen Laubenganghäusern aus Friedrichshain eine „Wohnzelle“ und aus der Stadt eine Landschaft machen wollte, hatte unrecht. Die Planer der Stalin-Allee dagegen wussten, dass am Ende des Jahrhunderts die Geschichte aus dem Alltagsbewusstsein verschwinden würde. (Genau genommen haben sie es natürlich nicht gewusst, aber das Ende der Geschichte hat ihnen recht gegeben auch da, wo sie unrecht hatten). Ich gehe auf das Humana Second Hand Kaufhaus zu: Das Menschliche – schon etwas gebraucht. Unten ist angesprayt: „BRD Bullenstaat – Wir haben dich zum Kotzen satt“. O.k. – was ihr nicht wollt, das weiß ich jetzt. Sprayt doch mal an, was ihr wollt. Vielleicht ist es ein Traum, den wir gemeinsam träumen können.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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