Schluss zu Mutters Füßen

Auf meinem heuti­gen Gang sind Mauern die Attrak­tio­nen und die Wege an Mauern entlang. Die halbe Frie­den­straße ist ein solcher Weg. Die Fried­hofs­mauer an der Frie­den­straße hat drei Eingänge, der letzte (oder der erste) liegt neben dem ehema­li­gen Verwal­ter­haus, aber die Fried­hofs­ver­wal­tung ist ausge­zo­gen, jetzt “Forschungs- und Erkun­dungs­ge­mein­schaft für Kultur, Kunst und Geschichte”. Bei dem Namen lässt sich vieles denken; für meinen Groß­va­ter waren alle Geschäfte, deren Renta­bi­li­tät ihm nicht einleuch­tete, bürger­li­che Verklei­dun­gen von Spio­nage. Aber was gibt es hier zu spio­nie­ren?
Die Geschichte gibt es aufzu­de­cken, die Gegen­wart ist nur Fassade der Vergan­gen­heit. Die Frie­den­straße: einst Euro­pas modernste Braue­rei­straße. Der südli­che Barnim fällt hier­her auf schma­lem Gelände fast 12 Meter ab, das ließ sich nutzen für Bier­kel­ler und andere Aufbe­wah­run­gen.

Als Franz Schwech­ten mit dem Anhal­ter Bahn­hof fertig war, bekam er einen Auftrag von Roesi­cke: ein Grab­mal für den Mann, der Schult­heiß hoch­ge­bracht hat. Da steht es nun: ein Sand­stein­haus, das Archi­tek­ten und Bauherrn über­steht, weil es steht, zuge­gen ist auf dem Fried­hof Nummer V, nahe beim Böhmi­schen Brau­haus, dessen Sudhaus in eine Turn­halle verwan­delt ist.
Wo viele Menschen sind, braucht man viel Bier. Bis in die deut­schen Kolo­nien wurde es trans­por­tiert, der Welt­markt hat begon­nen mit Räube­reien und Trans­por­ten aus der neuen Welt in die alte, er setzte sich auch auf umge­kehr­tem Wege fort. Zwischen den Toten­plät­zen und den Brau­plät­zen: die Massen­kir­che, man hatte sich die Christ­lich­keit des Volkes auf die Dauer massen­haf­ter vorge­stellt. Ich gehe um die Aufer­ste­hungs­kir­che herum, der Platz gefällt mir, die Kirche ins unre­no­viert, Gesträuch und kleine Bäume wach­sen aus dem Gemäuer. Der Turm ist beschnit­ten, die Kirche ist klei­ner als sie mal war, ihre auftrump­fende Präch­tig­keit ist in Notdürf­tig­keit verwan­delt.

Der Weg führt aufwärts, heißt Dies­tel­mey­er­straße, nach einem Poli­ti­ker des 16. Jahr­hun­derts; ohne die Straße wüsste ich von ihm nichts. Und vermisste nichts, aber die Straße vermisste ich, wenn sie plötz­lich geschlos­sen wäre; sie führt am Rücken der Fried­hofs­mauer aufwärts, links Sport und Spiel, rechts Tod und Verwe­sung, die Grab­male sind die Mauer, manche sind durch­sich­tig, die Zeit hat Steine heraus­ge­bro­chen zu über­ra­schen­den Luglö­chern. Ein Stück­chen weiter, ehe sie in die Matthi­as­straße über­geht, verwan­delt sich die Straße vom Weg wieder zum Pflas­ter­stück. Dort liegen die Schwer­hö­ri­gen-Schule und zwei Kitas, die obere heißt Zwer­gen­land mit Spray­bil­dern über die Zwerge. Ich habe Sympa­thie für Zwerge, nicht wegen Dorn­rös­chen, sondern wegen Swift. Nach recht­wink­li­ger Kehre folgen Neubau­ten, Ärzte­häu­ser 1 und 2, Dutzende von Medi­zi­nie­rin­nen und Medi­zi­nern. Da lohnte es sich, mit mehre­ren Mängeln aufzu­tre­ten.

Nun gehe ich an der Mauer des Kran­ken­hau­ses Fried­richs­hain entlang, gegen­über die Fried­hofs­mauer, Zwischen Baustelle Brau und Brun­nen, ehema­li­gen Patzen­ho­fer Braue­rei, und den Fried­hö­fen gibt es jetzt einen zusätz­li­chen Eingang, der — um diesen alten Stra­ßen­na­men zu verwen­den — einmal schöne Kommu­ni­ka­tio­nen erlaubt zwischen Lands­ber­ger Allee und Frie­den­straße.
Dem Kran­ken­haus sieht man es von außen nicht an, dass es einmal Euro­pas modernste Sani­täts­ein­rich­tung war.
Nach Virchow heißt die Straße, in die ich jetzt nach Norden einbiege. Einfach ist dieser Weg zur Zeit nicht zu gehen, der Bürger­steig ist kaum noch für Fußgän­ger, die Stra­ßen­bahn biegt unsen­si­bel um die Ecke. Rudolf Virchow war nicht nur einer der abso­lu­ten Spit­zen­ärzte des 19. Jahr­hun­derts, sondern — wo ist ein vergleich­ba­rer heute? — einer der führen­den deut­schen Oppo­si­ti­ons­po­li­ti­ker, ein Mann, der für Deutsch­lands bessere Möglich­kei­ten stand, Fort­schritt, vergeb­lich.
Aber das Kran­ken­haus ist da, “ein Haus, das keine Ängste einjagt”, sagt der neue Chef­arzt, “ein Platz, wo Geschichte passiert”. Jaja, Geschichte passiert immer, hier sieht man, dass hier Geschichte passiert ist. Rudolf Virchow und der Fort­schritt — erst­mal haben in Deutsch­land die ande­ren gesiegt, dieje­ni­gen, die die Kran­ken­häu­ser belie­fern und die Toten­fel­der.
Ich sitze der dicken Mutter Edmund Goman­skys gegen­über, am Beginn oder — je nach­dem — am Ende des Volks­parks, den ich heute nicht beschrei­ben will, weil er so dick voll ist mit Geschichte, dass die jungen Leute, die im Grase liegen, hoffent­lich nicht allzu viel davon wissen. Verges­sen ist Macht.

Ich bin müde. Ich betrachte die Riesen-Mutter, die ihr Riesen-Kind auf den Knien hält: die Mutter­pose, die das Chris­ten­tum gehei­ligt hat und die der Wirk­lich­keit der Leute so wenig entsprach. Das Denk­mal ist von 1898, das ist das Jahr, in dem mein Vater gebo­ren wurde, gerade heute, am 15. Mai, vor 99 Jahren, ich lag unter den Stachel­beer­sträu­chern 1939, als er abzog, um andere Kinder, Frauen und Männer zu über­fal­len; er ist’s nicht, Adolf Hitler ist’s gewe­sen; abends lag ich im Bett neben meiner Mutter, die auch allein war. Die private Geschichte ist eine ganz andere Geschichte als die öffent­li­che. Aber auch aus der priva­ten Geschichte kann man fast nichts lernen. Sie ist vorbei. Das falscheste Denk­mal kann die rich­tigs­ten Gefühle auslö­sen.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

print

Zufallstreffer

Orte

Anhalter Bahnhof

Es gibt in Berlin einige lang­ge­zo­gene Brach­flä­chen, denen man ansieht, dass hier einmal ein sehr großes Bauwerk gestan­den hat. Direkt am Pots­da­mer Platz ist solch eine Fläche, am Spree­wald­platz in Kreuz­berg und an der Inva­li­den­straße […]

Schreibe den ersten Kommentar

Hier kannst Du kommentieren

Deine Mailadresse ist nicht offen sichtbar.


*