Teils, teils

An der Ecke Grünberger/Warschauer Straße habe ich lange gestan­den, nach allen vier Himmels­rich­tun­gen aufmerk­sam geblickt und versucht, den Charak­ter der Gegend zu erfas­sen. Lautes Hin-und-Her, die Grün­ber­ger Straße: eine Durch­gangs­straße für die, die es besser wissen im tägli­chen Kampf um die Minu­ten. Die Fassa­den sind meist grau, keiner scheint sie zu betrach­ten. Ich warte auf den Geist der Gegend. Er will nicht erschei­nen. Die Nach­mit­tags­wärme ist drückend, die Luft schwer. Die Straße führt nicht nach Arka­dien. Je länger ich aber hier stehe, um so bewuss­ter wird mir, dass das eine sehr typi­sche Berli­ner Straße ist. Am dicks­ten war Berlin um 1900. Drei Jahr­zehnte war Deutsch­land eine Welt­macht. Eine bestimmte, ziem­lich offene Schicht machte mäch­tig Geld, die ande­ren hatten nicht den gerech­ten Anteil. Berlin ist Welt­stadt gewor­den durch Unge­rech­tig­keit.
Fried­richs­hain ist kein Quar­tier, das auf der Sonnen­seite der Geschichte gele­gen hätte. Auf Hobrechts Plänen von 1862 heißt die zusam­men­fas­sende Bezeich­nung für die paar Häuser hier “Sied­lung”, ein paar Jahr­zehnte später sind es Miets­ka­ser­nen. Allein Hobrechts Plätze bewäh­ren sich bis heute.

Zuerst der Boxha­ge­ner Platz: ein sehens- und beden­kens­wer­ter Ort. Bei Hobrecht einfach ein bebau­ungs­freies Karree im stei­ner­nen Meer, ein Luft­loch in den grauen Wällen. Dann waren diese Hobrecht-Plätze Auffor­de­run­gen zu städ­ti­scher Reprä­sen­ta­tion, ich betrachte eine Ansichts­karte vom Boxha­ge­ner Platz aus dem Jahre 1916: “grün­der­zeit­li­che Schmuck­an­lage” schrei­ben die Denk­mals-Topo­gra­phen, als ob das hier ein groß­bür­ger­li­ches Wohn­vier­tel wäre. 1916 war der Platz noch keine 15 Jahre alt, es war gerade ein Jahr her, das von hier eine Protest­be­we­gung von Frauen ausge­gan­gen ist, die sich gegen den Hunger wehr­ten, mit dem der Staat jene Fami­lien bestrafte, deren Männer gerade für Kaiser und Vater­land töte­ten und getö­tet wurden. Die “Butter­kra­walle”. Das Wort, mit dem das Ereig­nis über­lie­fert wird, ist schon herab­set­zend: Frau­en­ver­nunft gegen Männer­wahn­sinn — das nennen nur die Krawall, für die die alte Totschlags­ak­tion Vorwand für die neuen sein wird. Davon sieht man auf der Ansichts­karte ein Jahr später natür­lich nichts. Mitten im euro­päi­schen Bruder­mor­den scheint der Boxha­ge­ner Platz im tiefs­ten Frie­den zu liegen.
Der Platz, wie er heute ist, geht dage­gen zurück auf einen Plan aus der Weima­rer Repu­blik. Der Stadt­gar­ten­di­rek­tor Erwin Barth hat ihn 1929 entwor­fen. Er hat die Funk­tio­nen geteilt: Spiel­platz und Erho­lungs­ort, die alten Bäume erhal­ten, neue gepflanzt, Rotdorn, Linden; 1993/94 ist die Anlage restau­riert worden, ich zähle über 20 von den großen weißen um die Wiesen stehen­den Bänken, man kann im Schat­ten sitzen und in der Sonne, sogar das grün­guss­ei­serne Pinkel­häus­chen scheint restau­riert zu werden, eine Selten­heit in Berlin. Der Platz ist reich an Knei­pen, die Gemü­se­ge­schäfte haben ihre blau-weißen und blau-roten Marki­sen ausge­fah­ren, der Getränke-Shop seine gelben, die Friseure ihre roten. Auf den Balko­nen blühen die roten und rosa­ro­ten Gera­nien. Am Eckhaus zur Gabriel-Max-Straße ist ange­sprayt: “Ruhe und Glück gibt’s nur im Grune­wald”. Auf dem Weg zur Knorr­pro­me­nade lese ich die Sprayer-Botschaft: “Ordnung? Nein!”. Im Wider­spruch dazu ist die Knorr­pro­me­nade, ein selte­nes Baudenk­mal bürger­li­cher Wohn­an­la­gen mit Eingangs­be­säu­lung, als ob wir in Paris wären und die Exkai­se­rin Soraya besu­chen woll­ten, ener­gisch um Ordnung bemüht. Mehrere Fassa­den werden reno­viert, andere sind schon fertig, Nr. 2 strahlt in ausge­wo­ge­nem weißen Putz­glanz.

Als ich beim Soccer-Shop — schon dem zwei­ten Fußball­fan­ge­schäft auf meinem heuti­gen Weg — um die Ecke biege — sehe ich den Hele­nen­hof, er strahlt mir mit seinem Eckhaus an der Gryhi­us­straße gera­dezu entge­gen. Dieser Hele­nen­hof — erste nach einer Frau benannte Straße — been­det gerade seine Reno­vie­rung. Er ist eine in den Archi­tek­tur­bü­chern stehende Wohn­an­lage, wenn auch bauge­schicht­lich sozu­sa­gen nur ein Vorspiel. Der Bauherr und Eigen­tü­mer ist bis heute der Beam­ten-Wohnungs­ver­ein BWV, eine einge­tra­gene Genos­sen­schaft, um die [vorletzte] Jahr­hun­dert­wende gegrün­det, eine Orga­ni­sa­tion mit großen Verdiens­ten um die Wohnungs­re­form im “stei­ner­nen Berlin”. Der Archi­tekt, dem der Verein und der dem Verein seinen Ruhm verdankt, war Paul Mebes, der zweite tech­ni­sche Direk­tor des BWV. Der erste hieß Erich Köhn. Von ihm stammt der Hele­nen­hof in seiner nun bald hundert­jäh­ri­gen Vorbild­lich­keit.

Gegen­über am Wühlisch­platz liegt die Max-Kreut­zi­ger-Gesamt­schule, ein Bauwerk aus den 50er Jahren, das auch eine inter­es­sante Geschichte von Absich­ten und Vorstel­lun­gen zu erzäh­len hat und nicht so schlecht ist, dass man es so herun­ter­kom­men lassen sollte. Der Eingangs­flü­gel liegt — anders als beim Vorgän­ger­bau aus Kaisers­zei­ten — zur Böck­lin­straße, so dass er eine Art Platz bildet mit der gegen­über liegen­den Drei­fal­tig­keits­kir­che, die Wilhelm Frydag unge­fähr zu der Zeit fertig­ge­stellt hat, als die Boxha­ge­ner Frauen sich zu den Butter­pro­tes­ten formier­ten. Es ist nichts davon gemel­det, dass die Pfar­rer sie in ihrer Hungers­not wirk­lich gestützt hätten.
Aber viel­leicht weiß ich das nur nicht, denke ich, um mich zu beru­hi­gen, während ich durch die Holtei­straße davon gehe. Dieser Holtei war ein Operet­ten­dich­ter, mit weit bekann­ten Schla­ger­tex­ten: “Und wenn die letzte Kugel kommt / Ins preuß­sche Herz hinein / Lieber Mantel, lasse Dich mit mir begra­ben / Weiter will ich von Dir nichts mehr haben / In Dich hüllen sie mich ein” Fontane nennt dieses Gedicht erschüt­ternd und meint es leider ernst.

Damit lange ich auf dem Trave­platz an. Er ist viel weni­ger gepflegt als der Boxha­ge­ner Platz. Er wartet erst noch auf Restau­ra­tion. Die Fassa­den sind grau-schwarz, nur das auto­nome Haus schön bunt, keine Knei­pen, kaum Geschäfte. Der Platz selbst funk­tio­niert aber. Ich setze mich neben eine zeitungs­le­sende Alters­ge­nos­sin.
“Wohnen Sie auch hier in der Nähe?” fragt sie mich bald.
“Nee, aber ich habe mehr als 10 Jahre an der Trave selbst gewohnt, da dachte ich…”
“Ach … und wie isses da? Da war ich noch nie. In Paris wohl. Mit TUI.”
“Ach … und wie isses da?”
“Schön. Hier isses aber schö­ner.”
“Lieber am Trave­platz als an der Trave”, sage ich, sechs Fens­ter der Wohnung, die ich in Lübeck hatte, blick­ten auf die Trave. Ein gemüt­li­cher Fluss. Der Trave­platz ist auch gemüt­lich. Aber irgend­wie ist er auch anders. Oder jeden­falls, wie meine Bank­nach­ba­rin sagt -:
“Teils, teils”.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Sascha Kohl­mann, CC BY-SA 3.0

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