Vom Classic zum Tati

Bezirksamt Mitte

Grenz­gänge IV

Mein letz­ter Spazier­gang (Grenz­gänge III) endete bei Faust. Da passt es, dass mein heuti­ger im Clas­sic beginnt. Das ist ein ange­neh­mer Ort an der Grenze von Fried­richs­hain zu Mitte, er hat also gar nichts Grenz­haf­tes: ein Cafe­haus.
Ein Kind wählt unter den Eissor­ten. “Bedenke, du hast bloß einen klei­nen Magen”, sagt der Groß­va­ter, viel­leicht kann er sich nicht an die Zeit erin­nern, als er sechs Jahre alt war, viel­leicht hat er auch als Kind niemals ein Eis-Ange­bot erlebt wie das hier.
Über meinen Milch­kaf­fee beob­achte ich den Straus­ber­ger Platz. Die vielen Autos nehmen ihm viel von seiner Platz­haf­tig­keit. Plätze entste­hen durch Geschlos­sen­heit, der Straus­ber­ger Platz ist zu offen. Zu groß für Menschen zu Fuß. An den Ampeln muss man lange warten. Ich empfinde den Platz trotz­dem als schön. Man könnte Schla­ger über ihn schrei­ben wie über die Champs-Elysee.
“Coca-Cola” steht hoch an dem einen, “Vereins­bank” hoch an dem ande­ren Entree­haus, nach Mitte ein weiter Blick auf den Turm des Forum-Hotels und den Fern­seh-Turm: Da haben wir alle Insi­gnien der gülti­gen Alltags­kul­tur.
Der grün-weiß geka­chelte Gewer­be­hof, der im Rücken von Karl-Marx-Allee 49 übrig geblie­ben ist, bezeugt eine Stadt­zeit, die hier so vergan­gen ist, dass sie kaum noch wirk­sam bezeugt werden kann. Die Brand­mauer ist eindrucks­voll, die Back­steine haben in ihr Indi­vi­dua­li­tät, über­haupt: dass Back­steine zu sehen sind, nicht nur breit­flä­chige, farbige Fassa­den; vorm Tor des verfal­len­den Gara­gen­häus­chens wächst eine kleine Weide, die ster­ben müsste, wenn man die verbret­terte Tür öffnen wollte. Sie bleibt geschlos­sen.

Dieses Zeiten­ge­misch im Rücken der Allee, wie man hier abkürzt, im ruhig-weiten Innen­hof, der das bürger­li­che Gegen­stück bildet zum staats­re­prä­sen­ta­ti­ven Straus­ber­ger Platz, würde ich unter Denk­mals­schutz stel­len, damit alle Vorüber­ge­hen­den wüss­ten: Es gibt nicht nur die zeit­lose Gegen­wart, in deren kloniger Ähnlich­keit man sich verir­ren kann, ohne dass Bilder und Eindrü­cke sich änder­ten.
Die Weyde­mey­er­straße verhält sich zur Karl-Marx-Allee wie Joseph Weyde­meyer zu Karl Marx. Als früher Sozia­list hatte der Ex-Offi­zier Weyde­meyer an der Zeitung von Karl Marx gear­bei­tet, ehe er in USA in dem grau­sa­men Bürger­krieg gekämpft hat, aus dem die Welt­macht entstand; als die Cholera sein Leben been­dete, war er Finanz­stadt­rat von St. Louis: vom Krieg abge­se­hen ein guter Lebens­lauf für einen Sozia­lis­ten, am Ende geht es darum, Einnah­men und Ausga­ben ins Verhält­nis zu brin­gen.

Weyde­mey­ers Straße erschließt im Rücken der Pracht­stra­ßen­häu­ser an der Allee des Meis­ters nied­rig-geschos­sige Lauben­gang­häu­ser. Aus ähnli­chen wollte Hans Scharoun das ganze Quar­tier erneu­ern, er nannte sie “Wohn­zel­len”, da bin ich froh, dass die Geschichte ihm in den zeich­nen­den Arm gefal­len ist. Einige dieser Häuser der Weyde­mey­er­straße reno­viert Bärbel Knobel in blas­sen Farben, grün­lich, rötlich, bläu­lich: die Bläss­lich­keit ist in, man sieht sie hier­in­nen mehr­fach, auch die Wohnungs­bau-Gesell­schaft Mitte bevor­zugt sie; das gibt dem Areal etwas Lich­tes: so freund­lich wie — beispiels­weise — die meis­ten Friseu­sen freund­lich sind: Man geht gerne hin.

Manche Wege in diesem weiten Innen­stadt­ge­viert bezeich­nen sich als Privat­wege. Was öffent­lich ist und was privat, vermischt sich hier, wir könn­ten sozio­lo­gi­sie­ren. Am Kunst­ra­sen-Sport­platz kann man beob­ach­ten, dass die Korb­jä­ger von Alba bereits Alltags­wir­kun­gen hinter­las­sen: An vier Stel­len versu­chen die Jugend­li­chen, Bälle durch Körbe zu beför­dern, die Fußball­tore stehen unbe­nutzt.
Der Schul­hof der neun­ten Grund­schule an der Bero­lina­straße, die als eine Stra­ßen­al­ter­na­tive zu KMA und Moll­straße das Gelände durch­quert, wird neu gestal­tet, viel­leicht ein biss­chen über­ge­stal­tet; die Kinder haben Ferien. Die Kinder­bil­der an den Schul­fens­tern zeigen Dorf­idyl­len. Ist das ein Kommen­tar der Kinder zu dem, was sie hier mit Augen sehen? Oder einfach Plan­erfül­lung nach Lehrer­auf­trag?
Mit drei Beton­ker­nen wächst das Haus, das das Bezirks­amt schon vorab von Trigon gemie­tet hat. Die Baustelle wirkt wohl geord­net. 80 Pfen­nige müssen die Bauar­bei­ter im blauen Contai­ner für einen Kaffee zahlen. Einer singt ein grie­chi­sches Lied. Von den Bauar­bei­ter-Protes­ten heute in der Stadt merkt man hier nichts.
Die Bero­lina­straße heißt nach der 1889 aus Gips und Ton, 1895 aus Kupfer gegos­se­nen dicken Frau, die schließ­lich auf dem Alex stand und die Stadt selbst symbo­li­sie­ren sollte. 1942 hat man sie einge­schmol­zen, um Kano­nen aus ihr zu bauen, mit der man die Nach­barn bombar­die­ren konnte.

Aus Nr. 10 kommt ein schö­nes, mittel­al­tes Paar, lustig, Mann und Frau, als ob sie eben eine nach­mit­täg­li­che Liebes­stunde zuge­bracht hätten. Am schöns­ten ist Liebe am Nach­mit­tag, nach­her geht das Leben gleich weiter.
Am Haus mit den lang­ge­zo­ge­nen roten Balko­nen komme ich auf die Magis­trale zurück. Sie heißt hier nach Joseph Moll, er war erst 35 Jahre alt, als er 1849 sein Leben ließ für eine deut­sche Repu­blik; er hätte lieber in London blei­ben sollen, wohin er schon geflo­hen war vor den deut­schen Rich­tern.

Die Stra­ßen­kreu­zung Moll-/Otto-Braun-Straße hat etwas Wüstes. Der Tunnel, der stadt­ein­wärts die Straße und die Autos unter der Grun­er­straße verschluckt, beru­higt.
Ich biege in die Wadzeck­straße ein. “Haupt­ein­gang vom Hof” steht an den Häusern, der Weg hinten herum ist also der rich­tige. “Dann musst du es hinten­rum versu­chen”, sagte meine Groß­mutter, wenn man auf regu­lä­rem Weg nicht bekom­men hatte, was man brauchte.
In Contai­nern vor dem dunkel-schö­nen Kraft­ver­kehrs­amt werden Auto­ver­si­che­run­gen und Auto­schil­der ange­bo­ten, hier gibt’s, was man braucht, um an der heili­gen Beweg­lich­keit regu­lär teil­neh­men zu können.
Der Eingang in die Lini­en­straße von der Karl-Lieb­knecht-Straße wirkt fast privat. Der Hof des Hauses Nr. 13 bildet ein zuge­mau­er­tes, aber durch private Tür zugäng­li­ches Eckgrund­stück: eine Verbin­dung der Gegen­sätze, würdig des Denk­mal­schut­zes, aber Denk­mals-Sena­tor Strie­der wird mich nicht ernst nehmen.
Die Lini­en­straße führt ins Ruhige, durch die Weydin­ger­straße (über die ich weiter oben schon geschrie­ben habe) komme ich zum Tati. Dort im Poel­zig-Haus neben dem Baby­lon beende ich meinen heuti­gen Spazier­gang.
An der grünen Schreib­ta­fel über den Urina­len des Bistros steht heute: “Der Tod vereint alle, niemand nimmt ihn”, ein Kommen­ta­tor schreibt: “Trotz­dem freu ich mich auf Weih­nach­ten”.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Molgreen, CC BY-SA 4.0

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