Umwege von U‑Bahn zu U‑Bahn

Wer von der U‑Bahn-Station Frank­fur­ter Allee — zum Beispiel von dort — kommt, muss die Müggel­straße erst mal suchen. Sie beginnt (wie später die Kreut­zi­ger) an der Frank­fur­ter Allee ganz privat. Neben dem “Vitamin-Bazar” und dem über 50-jähri­gen Bestat­tungs­haus Ellrich geht es durch einen Haus­durch­gang wie auf einen Hof, aber es geht in ein ande­res Stadt­stück, 30 Schritte und die belebte Frank­fur­ter Allee ist — so deut­lich sie auch noch zu hören ist — anderswo; ich bin in einer ruhi­gen Wohn­straße, in der sich — könnte ich mir einbil­den — die Menschen kennen, die auf dem großen Boule­vard eben noch anein­an­der vorbei­ge­has­tet sind, als wohn­ten sie alle woan­ders.
Das inter­es­san­teste Haus in dieser Gegend ist das Haus Finow­straße 3–4 oder das Ensem­ble, das es mit dem Nach­bar­haus 2/2a bildet, gerade an der Stelle, an der die Straße einen elegan­ten Bogen nach Westen macht; der lang­lau­fende Dach­ge­schoss-Balkon von Nummer 2 gibt dem ganzen sogar etwas südli­chen Anschein, Italien in Fried­richs­hain… das wäre natür­lich zu viel gesagt. Die Straße, nach Norden leicht anstei­gend, macht einen ruhi­gen Eindruck, die unru­hige Geschichte der Indus­trie­me­tro­pole Berlin ist noch spür­bar, aber die Unruhe ist außer­halb, hier sieht man sich schon besser als dicht nebenan, hier war’s nie wie in Scharn­we­ber­straße 37, Ecke Colbe­straße: allein im Keller­ge­schoss sieben Miet­par­teien, ein einzi­ger Raum für eine Fami­lie mit vier Kindern, feucht, dunkel, wenig Wasser­stel­len, Fäka­li­en­ei­mer.

Mein Ziel ist jetzt die Glat­zer Straße. Es ist eine kurze, dunkle Straße, brei­ter als sie wirkt, mit dünnen Bäumen im Jüng­lings­al­ter, deren Stämme vom Regen fast schwarz sind. Neben der “Auto Put Erleb­nis­bar” steht das Haus, dessent­we­gen ich gekom­men bin. Nummer 6a. “In diesem Haus wohnte der anti­fa­schis­ti­sche Wider­stands­kämp­fer Werner Seelen­bin­der, geb. am 2.8.1904, von den Faschis­ten ermor­det am 24.10.1944 in Bran­den­burg, Ehre seinem Andenken”. Ehre seinem Andenken. Warum sagt das Schild aber nicht, dass das der bekannte Sport­ler Seelen­bin­der war, viel­fa­cher deut­scher Meis­ter, Ringen grie­chisch-römisch; 1936 bei der Nazi-Olym­piade hieß es noch: “Seelen­bin­der, Deutsch­land”. Schon 1933 zum ersten Mal verhaf­tet, “von den Faschis­ten ermor­det”, von deut­schen Poli­zis­ten, deut­schen Rich­tern, deut­schen Justiz­be­am­ten: Seelen­bin­der, Deutsch­land, ermor­det von Deutsch­land: Was bringt Lands­leute, Nach­barn dazu, Lands­leute, Nach­barn umzu­brin­gen?
Wer aus der Geschichte etwas lernen will, aus der so schlecht etwas zu lernen ist, der muss darauf Antwor­ten beibrin­gen. Ein junger Mann, der in der Erleb­nis­bar verschwin­det, blickt mich prüfend an, während ich mir den Text der Gedenk­ta­fel abschreibe, und guckt dann auch kurz hin, als ob er es zum ersten Mal täte. Die auf dem Wismar­platz zulau­fen­den Miets­haus­blocks sind noch ziem­lich grau und verbraucht, nur am Nord­west-Ende des Plat­zes das Gold-Hotel leuch­tet, eher gelb, als golden.

Ich schwenke ein in die Main­zer Straße. Es ist eine schnur­ge­rade Straße, die Fassa­den reihen sich anein­an­der wie ange­tre­ten. Die Straße hat eine linke Anmu­tung. Die ummau­er­ten und umzäun­ten Bauar­ran­ge­ments, die Park­plätze von der Straße abtren­nen, geben ihr zugleich etwas Gemüt­li­ches; der lustige goldene Löwe am Kopf der Löwen­apo­theke, über der die Fassade mit neuar­ti­gen Teil­bo­gen-Balko­nen bis hinauf zu den Dach­ap­par­te­ments steigt, hat etwas Janosch-haftes, wirkt wie das Acces­soire einer alter­na­ti­ven Kinder­er­zie­hung. Nun zwei­mal links und ich bin durch den Haus­durch­gang in der Kreut­zi­ger­straße.
Lange wird es diese Hinter­hof­ein­bli­cke nicht mehr zu besich­ti­gen geben. Vor Nr. 24–27 stehen schon die Kräne, die vor die Reste dieses denk­mals­wür­di­gen Fuhr­be­triebs­en­sem­bles aus Remi­sen, Stäl­len, Schmiede, ein moder­nes, wohl post­mo­der­nes Wohn- und Geschäfts­haus setzen werden, wie unten am ande­ren Stra­ßen­ende schon eines gebaut ist. Es wird nicht mehr lange dauern, bis die Straße ihren alter­na­ti­ven Charak­ter verlo­ren hat.
Zwischen Main­zer und Kreut­zi­ger­straße, Eingang Boxha­ge­ner Straße, liegt der Fried­hof IV der evan­ge­li­schen Geor­gen- und Paro­chi­al­ge­meinde; 1867 erste Beer­di­gung, Kapelle im Schin­kel­stil 1879 einge­weiht. Berlin hat viele Fried­höfe von hoher Symbol­kraft. Dieser ist einer der eindrucks­volls­ten. Seine breite Allee, die zwischen den Höfen von Main­zer und Kreut­zi­ger­straße verläuft, die Toten­straße zwischen den Stra­ßen der Leben­den, die Straße der Ruhe zwischen den Stra­ßen des Lärms, die Avenue der Endgül­tig­keit inmit­ten der Stra­ßen der Vorüber­ge­hen­den; der haupt­städ­ti­sche Wohn­ort der Toten zwischen den Quar­tie­ren der Leben­den, die bloß aus ihren Küchen­fens­tern zu blicken brau­chen, um zu wissen, wie alles endet… nein, nein, alles endet ja keines­wegs so, in würdi­ger, gesam­mel­ter Ruhe: Als dieses Vier­tel hier entstand, war’s kaum noch eine halbe Gene­ra­tion, und es war aus damit, dass ein ruhi­ges Grab unter Efeu und Blumen ausreichte fürs alltäg­li­che Memento; getö­tet im Krieg der ande­ren, erschla­gen, ermor­det, in Lagern verhun­gert, andere in Lagern verhun­gern lassend, totschla­gend, umbrin­gend… Nach dem barm­her­zi­gen Sama­ri­ter heißt die U‑Bahn-Station, in der ich in der Erde verschwinde; der Name verheißt, worauf man sich auch keines­wegs verlas­sen kann: “Hier ruht in Gott/ der Eigentümer/ Richard Lude­wig”, gestor­ben 1909, Eigen­tum als Beruf. Das ist geblie­ben. Eigen­tum macht frei. Daran hat sich nicht viel geän­dert.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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