Der letzte Weg

Am Anfang stehen sie alle da, draußen vor der alten Halle. Niemand schaut in deren Richtung, auch ich nicht. Ich weiß, was dort drin steht, ich will es nicht akzeptieren sondern verdrängen, solange es geht. Manuelas Freund ist da, ihre Kinder, die Geschwister, andere Freunde, Kollegen. Zwei Dutzend Menschen treffen sich auf dem Friedhof, die Stimmung ist gelöst, fast fröhlich. Auch Verdrängung. Es ist heiß, die meisten Männer haben Hemden mit Krawatten an, darüber Jackett, sie schwitzen. Ich finde das gut, ich in meinem schwarzen Pullover schwitze auch, aber ich will mich auch nicht wohlfühlen in diesem Moment. Fast alle tragen Schwarz, nur der Freund der Tochter nicht, er ist im bunten Hemd erschienen, weit geöffnet, so dass seine Brusthaare rausquellen. Mein erster Gedanke ist, dass er vielleicht Zuhälter ist. Dazu passt auch die getönte Brille. Vielleicht ist das auch sein Protest gegen die vorgegebenen Trauerregeln. Egal.

Dann öffnet sich das Tor. Die Gespräche brechen ab, alle gehen in die Kapelle, verteilen sich auf die Sitzbänke rechts und links. Vorn steht der Sarg auf einem Podest, darauf ein riesiger Strauß roter Rosen. Der ist sicher von ihrem Freund. Davor liegt ein Kranz und mehrere Blumensträuße. Als sich das Tor geschlossen hat, spielt die Orgel, dann spricht der Pfarrer von Manuela. Er erzählt ihren Lebenslauf so, als hätte er sie schon immer begleitet. Dabei hat er sie nie lebendig gesehen. Er erzählt von ihren Kindern, von ihren Sorgen, ihrer Krankheit. Und darüber, dass das Leben endlich ist, und dass man die schönen gemeinsamen Situationen nicht vergessen soll. Schließlich ein Gebet und nochmal Musik.
Es ist Zeit zum Nachdenken. Ich wusste vorher nicht, ob der Sarg wohl offen da stehen würde, dann hätte ich sie nochmal sehen können. Aber er war geschlossen. Während der Musik stellte ich mir vor, wie sie darin liegt, und dass sie gleich in der Erde verschwinden würde und nie wieder heraus kommt. Mir gingen die viel zu wenigen Stunden mit ihr durch den Kopf. Wie herzlich sie mich in den letzten Jahren immer umarmt  hat, wenn wir uns sahen. Wie sehr wir ihr weh getan haben, als wir sie gegen ihren Willen ins Krankenhaus brachten.
Bis dahin waren wir alle tapfer. Nun aber kommen die Sargträger, heben Manuela auf den Wagen und fahren über den Friedhof. Dies ist nun wirklich der letzte Weg und jetzt rollen die Tränen. Bei mir, natürlich auch bei meinem Freund, Manuelas Sohn. Alle versuchen, sie zu unterdrücken, aber es geht nicht richtig. Wir trösten uns gegenseitig, und doch ist jeder mit seinem Schmerz allein.

Die Sargträger lassen sie in die Erde hinab, zwei Meter tief. Es ist alles so endgültig. Was habe ich mir denn gedacht? Dass sie noch mal die Möglichkeit haben sollte, rauszukommen? Doch noch mal ein paar Jahre geschenkt bekommt, weil 50 einfach viel zu wenig waren? Da kommt niemand mehr raus, das ist eine so einfache und brutale Erkenntnis. Die Enkelin legt einen Teddy mit ans Grab, der Sohn wirft seine weiße Rose und die Handvoll Sand hinterher. Und noch eine, und noch eine dritte. Als wenn er sie wenigstens eigenhändig beerdigen wollte, wenn er sie schon nicht aufhalten kann.
Dann bin ich dran. Auch ich werfe meine Rose auf den Sarg, flüstere „Tschüss Manuela. Ich wünsche Dir eine gute Reise.“ Dann werfe ich meinen Sand.

Als sich alle verabschiedet haben, stehen wir ein paar Meter weiter, aber alle so, dass sie nicht mehr in das Grab schauen können. Vielleicht ist das ein unbewusster Selbstschutz, keine Ahnung. Die meisten reden miteinander, leise, tauschen Erlebnisse aus, die sie mit ihr hatten.
Der Sohn versucht fröhlich zu kucken, aber seine Traurigkeit scheint von hinten durch. Dann geht er noch mal allein zurück an das Grab, schaut auf den Sarg hinab. Sein allerletzter Abschied.
Dann gehen wir.

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1 Kommentar

  1. Lieber Aro,
    Es giebt wohl keine richtigen Worte für solche Lebensmomente daher möchte ich nur mein echtes Mitgefühl hier ausdrücken.

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