Das Grün der Erinnerung

Der Ort hat etwas Magne­ti­sches. Er ist wirk­lich ein Schwer­punkt. Er zieht an. Wenn man einmal da war, will man wieder hin; wenn man ange­fan­gen hat, ihm Gedan­ken zu widmen, will man sie ordnen und unter den unge­wis­sen Eindrü­cken die gewis­sen finden.
Wenn die Bezirks­gren­zen nach dem Abge­ord­ne­ten­haus-Beschluss neu bestimmt sind, liegt der Jüdi­sche Fried­hof Weißen­see zwar immer noch an der Grenze zu Hohen­schön­hau­sen, das dann Hohen­schön­hau­sen-Lich­ten­berg ist, aber seine südli­che Mauer bezeich­net keine Grenze mehr. Prenz­lauer Berg und Weißen­see werden poli­tisch nicht mehr unter­schie­den.
Als ich gestern im Grün der Bäume und Wiesen auf dem Trüm­mer­berg in dem Volks­park Prenz­lauer Berg stand, dachte ich: Zwischen diesen Berg aus dem Schutt des Alex­an­der­plat­zes und dem Jüdi­schen Fried­hof gehört wirk­lich keine Grenze. Ein blauer Bär sah mir zu, senkte den Kopf, viel­leicht ist meine Empfin­dung über­trie­ben. Eine Gefühls­be­deu­tung hat die Grenze zwischen der Kolo­nie Grön­land und dem Jüdi­schen Fried­hof ja eigent­lich nie gehabt. Oder?
Als diese Klein­gar­ten­ko­lo­nie am Fuße des Trüm­mer­ber­ges gegrün­det wurde, war der Trüm­mer­berg noch nicht da. Den Jüdi­schen Fried­hof gab es schon seit fast einem Vier­tel­jahr­hun­dert. Die grünen Fried­hofs­bäume waren 24 Jahre jünger. Ihr Grün wuchs noch nicht so dicht und dunkel hervor wie jetzt, wenn man von der Berges­höhe hinüber­blickt. Die gelbe Mauer zog eine grüne Grenze.

Grön­land heißt Grün­land. Als die Kolo­nie entstand, dem Jüdi­schen Fried­hof gegen­über, am Anfang des [vori­gen] Jahr­hun­derts, zitierte der Name den grünen Traum für das eisige Land. Traum und Wirk­lich­keit sozu­sa­gen regel­mä­ßig gewech­selt, vermi­schen sich schließ­lich. Schließ­lich wuchs das Eis. An der gelben Back­stein­mauer des Jüdi­schen Fried­hofs hoben sich die Eisschol­len zerbro­che­ner Nach­bar­schaft­lich­keit empor. Es ist ein warmer Sommer­tag, die Trüm­mer der Welt­stadt­mitte hart am Süden Grön­lands sind schon mehr als 30 Jahre begrünt, man weiß gar nicht mehr, dass es Trüm­mer sind, die Kinder laufen die Hänge herab und lassen sich von ihren Müttern juch­hei­send auffan­gen. Die gelb-braune Back­stein­mauer ist immer noch dieselbe, ich errei­che sie hinter dem Park­platz des Grün­flä­chen­am­tes, das ich so gerne Wiesen­amt nennen möchte, hinter dem Recy­cling-Hof der Stadt­rei­ni­gung, wo die Straße endet; die klei­nen Gehölze sind sorg­fäl­tig gero­det, ich kann an die Mauer heran­tre­ten, ich versu­che zu erfüh­len, ob der Stein der Hand ein beschreib­ba­res Gefühl vermit­telt. Warm, von der Sonne, ein biss­chen rau, freund­lich, italie­nisch, wie es sich der Archi­tekt in den 1880er Jahren auch gedacht hatte, er träumte von der Toskana, als er sich bei der Jüdi­schen Gemeinde als Fried­hofs­bau­meis­ter bewarb, später wurde er Stadt­bau­rat in Leip­zig und baute dort einen christ­li­chen Fried­hof, der ganz ähnlich aussieht, sagt man.
Eine weiß-schwarz gerin­gelte Schne­cke kriecht die Mauer empor; das heißt: ich denke mir, dass sie kriecht, ich sehe es nicht, der Fort­schritt ist eine Schne­cke, sagte Grass, man sieht nicht, dass er kommt. Ach doch, ein biss­chen sieht man. An der Fried­hofs­mauer führt ein Spazier­weg entlang, “geschützte Grün­an­lage” nennt sie das grün-umran­dete Drei­eck, das das rot-umran­dete Halte-Schild nach­macht und mit seinem Geset­zes­zi­tat immer ein biss­chen komisch wirkt.

Die Plat­ten­bau­ten vorne kehren dem Fried­hof ihre fens­ter­lose Well­blech-Seite zu, erst die hinte­ren die Balkons, auf denen die Wäsche trock­net. Wenig vor der Pucci­ni­straße schwenkt die gelbe Mauer recht­wink­lig nach Süden, da steht ein Grab­tem­pel­chen, dessen dach­pap­pen-hölzer­nes Reno­vie­rungs­dach über die Mauer herüber­ragt. Es gäbe einen Tram­pel­pfad, der weiter eng an der Fried­hofs­mauer entlang führte; aber er ist mit einem Draht­git­ter abge­sperrt, ich wandere also an der Lern­be­hin­der­ten-Schule vorüber, an der schön reno­vier­ten BVG-Ausbil­dungs­stätte, einem verlas­se­nen Werk­hof und an einer Gummi­wa­ren-Fabrik durch die Pucci­ni­straße auf den Markus-Reich-Platz zu. Jedide Ilmin, Freunde der Taub­stum­men: der Namens­ge­ber dieses Halb­plat­zes, der erst mit dem Fried­hofsin­nen­platz ein ganzer wird, hat die Israe­li­ti­sche Taub­stum­men­an­stalt gegrün­det, gelei­tet, Weißen­see, Park­straße; 1943 sind alle Anstalts­pfleg­linge, Kinder, Jugend­li­che depor­tiert, vernich­tet, ermor­det worden, die Stum­men schreien. Wer die Gräber sieht, muss der Unbe­gra­be­nen geden­ken.

“Um fünf wird geschlos­sen”, sagt der Fried­hofs-Wärter, “hier ist die Bewa­chung streng, hinter­her muss man noch Poli­zei holen.” Ich gehe den schö­nen Weg südwärts, der eng an der Mauer entlang­läuft, auf deren ande­rer, welt­li­cher Seite ich eben herauf­ge­kom­men bin, wieder hinun­ter bis zu dem doppel­ge­wölb­ten Grab­tem­pel, an dem ich eben die Mauer sich wenden sah, als ich von Grön­land Grün­land kam.
Meyer-Michae­lis heißen die Toten, die hier ruhen, Pflege 69. Das ist die Hoff­nung. Dass die Häuser der jüdi­schen Toten die Namen noch hoch­hal­ten, dass es noch viele Stät­ten des indi­vi­du­el­len Geden­kens gibt, nicht nur die Kollek­ti­vi­tät, die durch die Essen gezo­gen und auf dem Grunde der Weich­sel versun­ken ist. Shalom.
Auf dem Weg wach­sen die Gräser durch die klei­nen Pflas­ter­steine und von den Rändern, die zart­grü­nen Halme stehen im leich­ten Wind, sie verviel­fäl­ti­gen sich durch ihre eige­nen Schat­ten. Jeder Zeitungs­schrei­ber, der hier vorbei­kommt, muss an Theo­dor Wolff denken, Feld A1 — das ist jetzt seine Adresse. Einer der größ­ten deut­schen Jour­na­lis­ten, in Wahr­heit und Irrtum, selbst seine tödli­chen Irrtü­mer waren hoch­her­zig. Das sind so Worte, sage ich mir. Erst über­fällt mich ein Gefühl mit würgen­der Plötz­lich­keit, dann fallen mir ein paar Wörter ein, bilden Worte, dann schei­nen sie mir hohl, wie ja oft heute, was uns gestern aus der Feder, aus dem Compu­ter geflos­sen und Drucker­schwärze gewor­den ist, ehe wir noch einmal geprüft haben, ob ihre Distanz zur Wirk­lich­keit nicht zu groß ist.

Ich bin pünkt­lich, ein paar Minu­ten vor Fünf am Ein-Ausgang zurück, der Fried­hofs­wär­ter steht vor seiner Tür, nickt mir freund­lich zu, ich lege die Hand an die Krempe des Stroh­hu­tes, unter dem ich mich vorschrifts­mä­ßig vor Gott verbor­gen habe, rechts die beglau­bigte Asche aus Ausch­witz, als ob es gefälschte Erde geben könnte. Gewiss: hier ist ein Schwer­punkt des Bezirks, der Stadt, des Landes, aber auch seine grüne Seite, ein Teil davon: Komm an meine grüne Seite.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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