Die ganze Stadt und Treptow

Es ist Sonn­abend. Dieser Spazier­gang fängt also zu Hause an, in Halen­see. Mit der S45 nach Baum­schu­len­weg. Was ist denn beson­ders an dieser S‑Bahn-Stre­cke? Ach, was Beson­de­res gibt es da eigent­lich nicht, es ist eben Berlin; einer der vielen Quer­schnitte, die man mit S‑Bahn-Hilfe anle­gen kann, um die Stadt sozu­sa­gen von innen zu betrach­ten. Ein städ­ti­sche­res Vergnü­gen gibt es nicht, als mit der S- und U‑Bahn durch die Stadt zu trödeln.
Aus der Bahn sehe ich: den Engel am Bundes­platz, stehend auf einem Dach­first, als sei er gerade gelan­det; die Höfe, die kurz vor der Station Schö­ne­berg wie Reiß­ver­schlüsse offen zur Bahn sind, von der ande­ren Seite ist das die geschlos­sene Südfas­sade der Ebers­straße; den Flug­ha­fen Tempel­hof, der im halb durch­sonn­ten Novem­ber­ne­bel so harm­los daliegt, wie er für nieman­den ist, der lange genug in Berlin gelebt hat; dann der Gaso­me­ter vor der Pape­straße, ein leeres Kunst­ge­häuse; hinter Hermann­straße ange­sprayt: “Die Welt ist eine Zeit­bombe”; Estrel, Berlins größ­tes Hotel, wie ein umge­kehr­tes Schiff, Wellen- oder Eisbre­cher; Köll­ni­sche Heide heißt schließ­lich eine Station, um uns daran zu erin­nern, dass von hier bis ans Wasser sich eins­tens wirk­lich Heide entlang zog, Wald und Gesträuch, abge­holzt 1829 bis 1840, damit das Quar­tier Baum­schu­len­weg entstünde, das seinen Namen nach der Baum­schule erhielt, die Franz Ludwig Späth in der Mitte der 1860er Jahre hier begrün­dete mit schnel­lem inter­na­tio­na­len Namen.
Wenn man auf der Station Baum­schu­len­weg ange­kom­men ist, hat man schon eine Menge von Berlin erlebt, was nicht in den Büchern steht und deshalb typi­scher ist als mancher Baede­ker-Point.

Die Station Baum­schu­len­weg liegt über der Baum­schu­len­straße, die als “Abla­ge­weg” von Böhmisch-Rixdorf zur Spree ihre frühe Karriere begann. Nach Süd-Westen hin geht sie in die gewun­dene Späth‑, dann nach der Neuköll­ner Blasch­ko­al­lee in Grade- und Ullstein­straße über, um am Teltow­ka­nal zu enden, nach Nord-Osten bildet sie das Rück­grat dieses ganzen Kiezes, ehe sie in der Idyl­lik der Kiehn­wer­der­al­lee am Eier­häus­chen vorbei, in dem in Fonta­nes Weis­heits­ro­man, dem “Stech­lin”, bedeu­tende Worte gespro­chen werden:
“Aus Begeis­te­rung und Liebe fließt alles. Und es ist etwas Schö­nes, dass es so ist in unse­rem Leben. Viel­leicht das Schönste.”
“Hat eine Verlo­bung statt­ge­fun­den?”
“Nein … noch nicht.”
Sobald man diese Straße ein Stück­chen in Rich­tung Kief­holz­straße geht, sieht man rechts hinten die Schweif­hau­ben-Kirch­türme der Vater­haus­kir­che von den Rathaus-Archi­tek­ten Rein­hard & Süßen­gluth, 1910 bis 1911 gebaut; für diesen Archi­tek­tur­stil gibt es in den Büchern die phan­ta­sie­volls­ten Bezeich­nun­gen, am besten gefällt mir: “Expres­si­ver Realis­mus”; vorstel­len könnte ich mir frei­lich nichts darun­ter, wenn ich die Kirche nicht gese­hen hätte, die aussieht, als ob sie aus Bayern wäre.
Die Archi­tek­tur­leute sind ja über­haupt einfalls­rei­che Wort­schöp­fer und Sprach­klin­gler. Wie werden sie wohl das Haus nennen, das heute ein erstes Trep­tower Ziel ist: Baum­schu­len­straße 92; die Köpe­ni­cker Bank war der Bauherr, deshalb die Sand­stein­plas­tik des Merkur oder Hermes, des Gottes der Kauf­leute und der Diebe, der vor dem Eingang zu der Bank­fi­liale, die es jetzt dort nicht mehr gibt, Geld und Wert­pa­piere ausschüt­tet; fast denke ich, dass sich der Bild­hauer — er hieß Kreu­ßel — 1927 einen ironi­schen Witz erlaubt hat; den Stil des Hauses nennt das Buch “art deco”, ein ande­res “Expres­sio­nis­mus”: Zick­zack­bän­der, Medail­lons, Palet­ten­mo­tive, auf dem Dach Drei­ecks­gau­ben; die Archi­tek­ten hießen Brink­mann und Melzen­bach; ich kenne sie sonst nicht; sie können sich sehen lassen.
Aus der glei­chen Zeit, 1927/28, ist um die Ecke der gerade halb­wegs reno­vierte Baublock zwischen Ludwig-Klapp- und Mosisch­straße, Bauherr: Gemein­nüt­zige Bauge­sell­schaft Ost mbH, eine 100-prozen­tige Toch­ter der Stadt Berlin, deren sozial-demo­kra­ti­scher Baustadt­rat Martin Wagner am Ende der 20er Jahre ganz gewal­tige Wohnungs­bau-Leis­tun­gen in Berlin zu Stande brachte; nicht erreicht seit­dem.

Unter den Bauge­sell­schaf­ten der Zeit war die größte und dem Neuen am meis­ten aufge­schlos­sene die Gehag, dieselbe, von der sich die Stadt Berlin jetzt trennt: darüber kann man sich Gedan­ken machen, aber man macht sie sich nicht.
Von der Trojan­straße auf der ande­ren S‑Bahnseite, zur Köpe­ni­cker Land­straße und zwischen dieser weiten Straße und der Neuen Krug­al­lee zum Damm­weg hinun­ter erstreckt sich das Ende der 20er Jahre umbaute weite Areal, das in den Büchern Afa-Hof genannt wird, nach dem Bund allge­mei­ner freier Ange­stell­ter, einem Toch­ter-Unter­neh­men der Gehag.
Bruno Taut, der berühmte, viel­leicht über­haupt Berlins größ­ter Wohnungs­bauer, war der Haupt­ar­chi­tekt der Gehag, seine Vorstel­lun­gen von Stra­ßen- und Hoff­ron­ten liegen auch hier zugrunde; der ausfüh­rende Archi­tekt hieß Ladis­laus Forst­ner, manche meinen, der Mann habe Förs­ter gehei­ßen: das Verges­sen hat begon­nen: “Keine Eigen­brö­de­lei, sondern große Anla­gen aus einem Guss!” rief der Gehag-Vorsit­zende, “wir sind eine vorwärts stre­bende Bewe­gung!”
Man ist also nicht irgendwo, wenn man — etwa von Lake­grund aus — durch die verschlun­ge­nen Wege geht, die die weite Innen­flä­che dieses “Hofes” durch­que­ren, ganze Klein­gar­ten-Kolo­nien liegen inmit­ten; manche Fassa­den reno­vie­rungs­be­dürf­tig, manche schon reno­viert; später sind weitere Blocks mitten hinein gebaut, auch eine Schule: eine ganze Innen­stadt, die der Auto­fah­rer drau­ßen nicht sieht, die sich fast bis zum Rathaus Trep­tow hinun­ter zieht: da merkt man, dass dieses Rathaus gar nicht so abseits liegt, wie der ober­fläch­li­che Betrach­ter glaubt.

Vor dem Rathaus steige ich in den Bus 265, der eine Trep­tower Zentral­stre­cke entlang fährt, an Zenner vorbei, an der Stern­warte, durch den berühm­ten Park, in dem die große Gewerbe-Ausstel­lung statt­fand und in dem die Sozia­lis­ten­füh­rer vor Tausen­den spra­chen, schließ­lich durch die Straße, die für mich die schönste Straße Berlins ist, die Plata­nen­al­lee, die nach Pusch­kin benannt ist; nach Kreuz­berg, zum Schle­si­schen Tor; U15 auf der berühm­ten ersten deut­schen Hoch­bahn-Stre­cke, Siemens’ Para­de­pro­jekt, bis Uhland­straße, im 119er nach Hause nach Halen­see.
“An einem Vormit­tag habe ich Trep­tow und die ganze Stadt gese­hen.”
Ach, längst nicht! Aber als ich an meinem Schreib­tisch in der West­fä­li­schen Straße diesen Text zu schrei­ben beginne, bren­nen mir noch die Ohren vor Berlin.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

print

Zufallstreffer

Weblog

Erster Weltkrieg beendet

Zeit­gleich mit dem 20. Jahres­tag zur deut­schen Einheit ist auch der Erste Welt­krieg been­det, aller­dings finden beide Ereig­nisse unab­hän­gig vonein­an­der statt. An diesem Tag wird die letzte Rate der Repa­ra­ti­ons­zah­lun­gen über­wie­sen, die letz­ten 70 Millio­nen […]

Bücher

Berlin 1968

Mythos 68er — Von den ersten Höhe­punk­ten der Proteste 1967, dem Einfluss des SDS und der Kommune 1, der auf die Schah-Krawalle folgen­den poli­ti­schen Krise in West-Berlin mit dem Sturz von Hein­rich Albertz bis zum […]

Schreibe den ersten Kommentar

Hier kannst Du kommentieren

Deine Mailadresse ist nicht offen sichtbar.


*