Wasser-Weg

Diese Spazier­gänge begin­nen am Schreib­tisch und in Büchern. Seit langem beschäf­tige ich mich mit “Wasser­bau­ten”. Meine Studen­ten habe ich schon oft aufge­for­dert, sich Berlin vorzu­stel­len ohne flie­ßen­des Wasser in den Häusern und ohne Kana­li­sa­tion.
Wie hat sich (zum Beispiel) Theo­dor Fontane gewa­schen und — direkt gefragt — wie hat er geschis­sen? Gerade habe ich mit Anfän­ger-Studen­ten “Frau Jenny Trei­bel” gele­sen, weil man aus dem Buch eine gute Vorstel­lung davon gewin­nen kann, wie in den “herr­schen­den Krei­sen” gelebt und gedacht wurde zu der Zeit, als das Bürger­li­che Gesetz­buch geschrie­ben wurde, das immer noch gilt.
Was Jenny Trei­bel über Ehe, Fami­lie und Liebe gedacht und vorge­ge­ben hat, wissen wir ganz gut, haben auch einige Kennt­nisse darüber, was sie geges­sen und getrun­ken hat, aber: wie sie abge­führt hat, darüber kein Wort. Wir müssens wohl auch nicht wissen. Aller­dings: In einer Stadt ohne flie­ßen­des Wasser und ohne Kana­li­sa­tion wird auch leicht, ich meine: schnell gestor­ben; vor allem die Kinder­sterb­lich­keit ist hoch. Der fort­schritt­li­che Virchow, Arzt wie Poli­ti­ker, war es, der dem unbe­wäs­ser­ten, nicht kana­li­sier­ten Berlin die hygie­ni­schen Notwen­dig­kei­ten vorhielt.

Am Sonn­tag bin ich — zur Vorbe­rei­tung auf den heuti­gen Montag in Hohenschönhausen/Lichtenberg von meiner Wohnung in der West­fä­li­schen Straße das kleine Wegstück über die Kurfürs­ten­damm­brü­cke zum Rathen­au­platz gegan­gen und von dort den Fußgän­ger­weg, der dicht über der rasen­den Stadt­au­to­bahn entlang­führt, direkt auf die Brücke zu, auf der man über dem Auto­fluss stehen und das Gefühl genie­ßen kann, zu fahren, ohne sich zu bewe­gen.
Dieser verbor­gene Weg heißt Gill­weg, nach einem engli­schen Inge­nieur: Henry Gill. Vor dem Bau der Stadt­au­to­bahn war dieser Weg eine rich­tige Grune­wald­straße, genauso wie die Paral­lel­straße, von der die Stadt­au­to­bahn gar nichts übrig gelas­sen hat und die nach James Ludolf Hobrecht hieß: Hobrecht- und Gill­straße neben­ein­an­der — das hatte um 1890, als diese Stra­ßen entstan­den und benannt wurden, aktu­elle Bezie­hung: Gill: erster Direk­tor der Berli­ner Wasser­werke, Hobrecht: Erbauer der Berli­ner Kana­li­sa­tion; man kann sie zu den Schöp­fern des moder­nen Berlin zählen.

Erst das Trink­was­ser, dann die Kana­li­sa­tion — so war die histo­ri­sche Reihen­folge. Erstes Trink­was­ser­werk 1855, am Stra­lauer Tor, rech­tes Spree­ufer, betrie­ben von einer engli­schen Privat­firma und gebaut von unse­rem Henry Gill, im Jahr darauf: Spei­cher­an­lage auf dem Wind­müh­len­berg: Wasser­turm Prenz­lauer Berg, ist heute noch da; zwei­tens: Wasser­werk Tegel (1877), dann das große Wasser­werk am Großen Müggel­see, Wasser­werk Fried­richs­ha­gen, ab 1889, und für dieses Werk die Anlage, an deren langer Back­stein­mauer ich nun die Lich­ten­ber­ger Vulkan­straße entlang nord­wärts gehe, bis ich in der Lands­ber­ger Allee 230 vor dem präch­ti­gen Tor stehe, als begänne hier eine Burg- und Fürs­ten­an­lage: Zwischen­pump­werk Lich­ten­berg, denn das Wasser aus Fried­richs­ha­gen muss unter Druck­erhö­hung nun in das städ­ti­sche Rohr­netz gepumpt werden: 1890 bis 1893, das letzte tech­ni­sche Werk unse­res Gill, 1893 ist er, noch keine sieb­zig Jahre alt, gestor­ben: erster Direk­tor der Berli­ner Wasser­werke. “Darf ich die Gebäude mal besich­ti­gen?” “Für welchen Zweck?” “Ich will sie beschrei­ben. Lassen Sie mich nur fünf Meter rein, bitte!” “Na ja, aber nur fünf Meter”, sagt der Portier von “Secu­ri­tas”, der dann heraus­kommt, auf mich aufpasst und schließ­lich sehr freund­lich ist.
Eindrucks­voll — das ist noch das mindeste, was man von diesen Gebäu­den sagen kann, fast möchte ich sagen: schön. Der Archi­tekt hieß Schultze. Sechs Maschi­nen­häu­ser, zugleich sach­lich und reprä­sen­ta­tiv; es war eben was — und es ist was — gutes Wasser für die Millio­nen.

Während ich nun die windige Lands­ber­ger Allee ostwärts gehe, die wie ein Strom zwischen Pump­werk und den Hoch­häu­sern auf der Nord­seite liegt, über­denke ich, was ich gestern Abend über Wasser­werke in dem Hand­wör­ter­buch der Volks­wirt­schaft von 1909 gele­sen habe, dem damals führen­den wissen­schaft­li­chen Werk über Wirt­schaft und Wirt­schafts­po­li­tik.
Die Londo­ner und wohl auch die Berli­ner Wasser­ver­sor­gung sei ein Beispiel dafür, dass solche lebens­wich­ti­gen Betriebe auf die Dauer eben nicht in konkur­rie­ren­der priva­ter Hand blei­ben könn­ten: Verstäd­te­rung, Entpri­va­ti­sie­rung sei das Gebot der wirt­schaft­li­chen Vernunft.
Das haben wir also nun auch hinter uns. Nach­dem der “wirt­schaft­li­chen Vernunft” von damals schließ­lich Folge geleis­tet war, hat sich die Vernunft umge­dreht und sagt nun wieder, was sie ganz anfangs sagte: Priva­ti­sie­rung ist das Gebot; nun werden die Wasser­werke demnächst verkauft werden vom Land Berlin an … was weiß ich an wen … es gibt mehrere Konkur­ren­ten, die Finanz­se­na­to­rin inter­es­siert sich nur für den Preis.
Da stelle ich mir Henry Gill vor, was der wohl denkt, wenn er herun­ter­schaut auf sein Werk: wahr­schein­lich empfin­det er Stolz; die tech­ni­sche Leis­tung stimmt. Ob auch die jewei­li­gen poli­ti­scheb Leis­tun­gen stim­men, ist viel unsi­che­rer.

Damit bin ich auf der ande­ren Seite der Lands­ber­ger und beginne den Spazier­gang, den ich mir vorge­nom­men habe: vom Kunst­was­ser — sozu­sa­gen — zum Natur­was­ser, ich will den Ober­see errei­chen, um das einge­mau­erte Wasser an der Lands­ber­ger zu verglei­chen mit dem Natur­was­ser nahe der Suer­mondt­straße. Denn Suer­mondt hieß der Speku­lant aus Aachen, auf den das moderne Hohen­schön­hau­sen zurück­geht.
Nein, das kann man nicht sagen! Das moderne Hohen­schön­hau­sen ist das, was sich Hoch­haus für Hoch­haus (zum Beispiel) von der Lands­ber­ger nach Norden hinzieht. Wer erst mal drüben und hinter der ersten Haus-Front ist und etwa durch Zech­li­ner und Neustre­lit­zer Straße aufwärts geht, der wird über­rascht sein, von der geschlos­se­nen und ruhi­gen Stim­mung, die Höfe und Innen­stra­ßen mit Bänken, Spiel­plät­zen, Spazier­we­gen verbrei­ten: es ist — wenn man von der Lands­ber­ger her kommt — beinahe eine Über­ra­schung, es wird kräf­tig reno­viert, von manchen Häusern hängen die grauen Planen, aber das Gebiet macht einen frischen, sowohl städ­ti­schen wie manch­mal fast priva­ten Eindruck, vorne sieht man in rot, gelb, blau fast mondria­ni­sche Farben.
Unver­se­hens bin ich über die Goeck­straße hinüber, in der Fluss­pferd­sied­lung von Mebes und Emme­rich, den Groß­woh­nungs­bau­meis­tern aus der Weima­rer Repu­blik, hier noch in den 30er Jahren von Phil­ipp Holz­mann baulich verwirk­licht.
Mit der Werneu­che­ner Straße über­quere ich die Konrad-Wolf-Straße, durch die Roedern­straße, und plötz­lich, hinter der noch hoch­ra­gen­den Schule hat sich die Gegend ins Einfa­mi­lien- und Kolo­nie­hafte verwan­delt; an der trau­rig verwais­ten Gärt­ne­rei in der Manet­straße vorbei, habe ich den Ober­see nun vor mir; er ist zuge­fro­ren, es dunkelt schon, der Park verliert sich nach Osten.

Ich bin 40 Minu­ten durch den Dezem­ber gegan­gen: die Stadt­szene ist völlig verän­dert. Als ich am Stadion Busch­al­lee in die Tram steige, friere ich zwar, aber mein Kopf ist ganz heiß von der Zeit­reise, die ich durch die Stadt gemacht habe. Und während die Tram Nr. 18 mit mir Rich­tung Haupt­straße schnurrt, wo ich umstei­gen und in sechs­und­zwan­zig Minu­ten den Rosa-Luxem­burg-Platz errei­chen werde, versu­che ich — um dem Fonta­ne­schen Gebot gerecht zu werden — Berlin “an der Welt drau­ßen zu messen”. Das versu­che ich immer, wenn ich voller Berlin bin, und es gelingt mir nie. Berlin braucht nicht vergli­chen zu werden.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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1 Kommentar

  1. Berlin und sein Be- und Entwäs­se­rungs­sys­tem, ein span­nen­des Thema. Bis heute. Gut gemacht Herr Huhn, die Kritik an dem Priva­ti­sie­rungs­wahn.
    Sehens­wert auch das Museum im Wasser­werk in Fried­richs­ha­gen.

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