Drei Schulen, drei Kirchen, ein Naja

Die Stadt­ge­gend, die sich nörd­lich der Frank­fur­ter Allee bis zur Fried­richs­hai­ner Bezirks­grenze erstreckt, wird seit Ende des [vor]vorigen Jahr­hun­derts von der Rigaer Straße durch­quert und von ihr zugleich zusam­men­ge­hal­ten, kann man sagen, auf den Bersa­rin­platz konzen­triert und von diesem in die Peters­bur­ger Straße hinge­führt, die als eine Grat­straße auch denje­ni­gen Teil des Kiezes hinauf­zieht, der sich in den nach Süd-Westen abfal­len­den Stra­ßen entwi­ckelt.
Die Gegend hat über­haupt etwas Bergi­ges oder wenigs­tens etwas Anstei­gen­des. Rein geogra­phisch könnte man natür­lich auch sagen: etwas Abfal­len­des, Absin­ken­des; aber das ist eben nicht der Eindruck; stadt­äs­the­tisch (oder soll man sagen: stadt­ge­füh­lig?) fühlt man sich erho­ben, ange­ho­ben, aufge­ho­ben im doppel­ten Wort­sinn.
Metro­po­len, denke ich, dürfen nicht flach liegen. Es muss ein Hinauf und Hinab geben. Ich frage mich, wo ich dieses Gefühl her habe; viel­leicht: Paris, Rom, irgend­eine andere Haupt­stadt; aber Berlin ist nicht ableit­bar. Hier jeden­falls — sagen wir mal: von Sama­ri­ter- bis Eckert- und Haus­burg­straße — ist es beson­ders typisch. (Um nicht falsch verstan­den zu werden: Auch um den Alice-Salo­mon-Platz, die Marzah­ner Prome­nade, den Anna-Siem­sen-Weg ist Berlin beson­ders typisch, auch wenn es dort ganz anders aussieht als hier. Es gibt viele Wege in die Seele der Berli­ner. Warum hat sie trotz­dem eine so wieder­erkenn­bare Struk­tur?) Viel­leicht liegt das an den Kirchen.

In meinem heuti­gen Spazier­gangs­ge­biet liegen drei buch­be­rühmte Kirchen, die Sama­ri­ter-Kirche (1892 bis 1894 gebaut), die Pfingst-Kirche (1906 bis 1908) und die Gali­läa-Kirche (1909 bis 1910), die beiden ersten lasse ich heute links und rechts liegen; sie sind mir geläu­fig, ich habe Vorstel­lun­gen über sie, der Pfar­rer der Sama­ri­ter­kir­che hat sogar schon mit mir gestrit­ten, viel­leicht, weil er mich für röter hielt, als ich bin.
Die Kirchen sind ziegel­rote Lehr­stü­cke der Archi­tek­tur­ge­schichte: das war die Zeit, in der die Baumeis­ter Histo­ri­ker waren und zugleich Pädago­gen, die den Leuten zeigen woll­ten, wie frühere Archi­tek­ten gebaut hatten: Histo­ris­mus, Prunk mit der Vergan­gen­heit, Deutsch­land wollte Welt­macht werden, da mach­ten alle mit, der König von Preu­ßen in seiner schim­mern­den Wehr war der oberste Chef dieser Kirchen, der Bischof. Ob die Archi­tek­ten also für Gott bauten und seine Kinder oder doch für ein ganz ande­res Inter­esse … nein, das braucht man sich heute nicht mehr zu fragen. Die Erbauer der Gali­läa-Kirche hießen Paulus und Dinck­lage; ganz hervor­ra­gende Archi­tek­ten, mehrere Groß-Kirchen in Berlin sind von ihnen, auch ein schö­ner U‑Bahnhof: Alles­kön­ner im besten Sinne (und gewiss auch mit einem spie­le­ri­schen Gemüt, man sieht es in der Rigaer Straße 9–10 den roten Ziegeln an, dem Spitz­bo­gen­por­tal, dem verkup­fer­ten Spitz­helm, dem Trep­pen­türm­chen mit Kegel­dach, den aus dem Gemein­de­haus drei­sei­tig hervor­tre­ten­den Erker, dem stern­ge­wölb­ten Chor­po­ly­gon und der gebro­che­nen Kasset­ten­de­cke, durch die das Ober­licht Gottes herein­strömt).

Als Paulus und Dinck­lage mit ihrer Kirche in der Rigaer Straße fertig waren, war weiter vorne, Nummer 81/82, Ludwig Hoff­mann schon lange fertig. Die Hein­rich-Hertz-Schule dort (früher hieß sie nach dem Wider­stands­kämp­fer Herbert Baum, nein, nein: die Hein­rich-Hertz-Schule hieß schon immer nach Hein­rich-Hertz, aber sie hat nicht immer in diesem Gebäude hier gewohnt, aus dem die Herbert-Baum-Schule in die Nicht­exis­tenz ausge­zo­gen ist, und noch früher hießen die Schu­len an diesem Platze wahr­schein­lich noch anders und davor ganz anders: Schul­na­men gehö­ren wie viele Stra­ßen­na­men den Jewei­li­gen; ich würde sagen: Ludwig-Hoff­mann-Schule, aber das brächte nichts, denn alleine nach­her, in diesem ein-und-demsel­ben Kiez, werde ich noch zwei andere Schu­len besich­ti­gen, die Ludwig Hoff­mann gebaut hat, diese hier 1901 bis 1902) ist ein erst­klas­si­ges Beispiel… wofür? Dafür, was in Berlin offi­zi­ell los war zu Beginn des Jahr­hun­derts, dessen Ende wir demnächst hoffent­lich in Frie­den erle­ben werden, auch der Anfang sah aller­dings fried­lich aus; hätte man aus Bauten wie aus diesem Schul­schloss entneh­men können, dass die feuri­gen Dämpfe unter der Stadt schon koch­ten? Ludwig Hoff­mann war der Berli­ner Stadt­bau­rat, im Stadt­ge­sicht Berlins hat er Runen hinter­las­sen, die bis heute sicht­bar sind… nein, Runen, das ist wirk­lich nicht das rich­tige Wort; was Germa­ni­sches hatte Hoff­mann nicht, für Schul­bau­ten liebte er die Renais­sance beson­ders, den Barock, die vergan­ge­nen Stile, die er den Berli­nern gerne vormachte, damit sie wüss­ten, was gewe­sen war: das bekann­teste Beispiel ist das Märki­sche Museum: ein Stück aus dem Lehr­buch: die Stadt als Volks­schul­leh­rer. Der Vorgän­ger Hoff­manns (er hieß Blan­ken­stein und war wohl der größte Schul­bau­meis­ter Berlins) hatte für Schu­len einen märki­schen Einheits­stil entwi­ckelt, Hoff­mann dage­gen wollte jeder Schule ihr eige­nes Gesicht geben: sowohl histo­risch­lehr­haft, wie indi­vi­du­ell-ästhe­tisch — ein archi­tek­tur­po­li­ti­sches Programm, über das sich reden lässt, aber war es nicht in seiner tiefs­ten Wirk­lich­keit das Welt­stadt­pro­gramm, das Welt­macht­pro­gramm, zu dem sich Deutsch­land mit seiner Protz­haupt­stadt Berlin am Jahr­hun­dert­be­ginn aufblies, als ob es nicht hätte wissen können, dass das das Unter­gangs­pro­gramm war? “Nu über­treib mal nich!”, sagt meine Lebens­freun­din, während wir uns auf den Weg machen in die Haus­burg­straße: Nummer 20: die nächste Hoff­mann-Schule, in ihrer ange­spit­zen Fassade eben­falls unver­kenn­bar, und schließ­lich im plötz­li­chen Febru­ar­schauer — an den berühm­ten Wohn­häu­sern des Hoff­mann-Freun­des Messel in der Weis­bach­straße vorüber (weiter unten in der Pros­kauer könn­ten wir noch andere sehen: die knappe Gegend hier ist in all ihrer Gegen­wär­tig­keit wirk­lich ein Frei­luft­mu­seum … nicht nur der Archi­tek­tur!) — in die Eckert­straße. Meine Lebens­freun­din inter­es­siert sich — als ich ihr erzähle, dass der Mann Pflüge konstru­iert hat, Pflug­scha­ren nicht Schwer­ter — mehr für Hein­rich Ferdi­nand Eckert (1819–1875), als für Ludwig Hoff­mann, für dessen Schul­bau in der Eckert­straße 16 sie sich nach meinem Plan inter­es­sie­ren soll. “Schön”, sagt sie ziem­lich gleich­gül­tig, als wir die stei­ner­nen Schmuck­bän­der der Fassade betrach­ten und das ziem­lich schmuck­lose rote Ziegel­haus, das sich in den Hof erstreckt. “Die Häuser der Schu­len baut der Staat, da kann man meist nichts machen, aber was man den Kindern drin­nen erzählt…”, so unge­fähr, denke ich, sollte meine Lebens­freun­din jetzt zu mir reden, denn in einem frühe­ren Leben war sie Lehre­rin; neulich habe ich eine ihrer frühe­ren Schü­le­rin­nen getrof­fen:
“Wie geht’s denn Liesel?” hat sie gefragt; ein Wort und das andere, eine kleine Pause der Erin­ne­rung; dann: “Ziem­lich gute Leis­tung … damals … von denen.”
Genau! Die Pädago­gik der Schul­ge­bäude und die Pädago­gik der Schul­leh­rer … die wollen gut unter­schie­den sein. Wohl dem, der Unter­schiede findet!
“Naja … ” wird meine Lebens­freun­din sagen, wenn sie das hier liest.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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