Von Straßburg in die Teupitzer Straße

Fast zweieinhalb Hundert habe ich jetzt von diesen Texten geschrieben, die in den ver­schiedenen Nummern des Bezirksjournals „Spaziergänge“ durch Berlin heißen. Das Wort „Spaziergang“ klingt mir jetzt eigentlich zu harmlos. Das Wort hat etwas Touristisches oder Feiertägliches. Hinundherlaufen in Berlin, in der Stadt herumlaufen, auf regelmäßigen oder unregelmäßigen, unbekannten oder oft schon gegangenen Wegen und über die Bezie­hungen nachdenken, die das, was wir sehen, zu dem hat, was wir nicht sehen, was uns aber beschäftigt und – das glaube ich – mit unserer sichtbaren Umwelt in einem Zusammenhang steht, den wir meistens übersehen oder für unwichtig halten. Als ob es z.B. für mich egal wäre, ob ich die gestrige Europawahl für Brüssel und Straß­burg in Neukölln oder in Schwabing erlebt hätte. Und was hieße hier „erlebt“? Wie nahe ist jenes politische Ereignis mir und meinem persönlichen Leben?
Den Spaziergang, den ich hier heute beschreiben wollte und zu dem die interessanten Bilder von Manfred Jagusch gehören, […] habe ich nicht unternommen. Eine Krankheit, die sich – wie der Arzt sagte – schon lange in mir eingenistet hat, hat sich zu erkennen gegeben und warf mich plötzlich nieder. (So kann, was lange wird und heranwächst, doch plötzlich plötzlich sein: die Existenz und ihre Erkenntnis sind so sehr zweierlei, dass das Nichterkannte oft als etwas Nichtexistierendes erscheint.) Da hatte ich Man­fred Jaguschs Bilder von dem Obdachlosenheim in der Teupitzer Straße 36-42 schon gesehen. Das Gebäude ist aus den Jahren 1928/29. Der Architekt – damals im Dienste der städtischen Bauverwaltung Neukölln – ist Karl Bonatz. Karl Bonatz und sein berühmterer Bruder Paul Bonatz waren Elsässer. Sie stammten aus der schönen Landschaft um Straßburg. Über sie gibt es Geschichten, die in den 30er, 40er und sogar noch in den 50er Jahren spielen, nein, nein: nicht Geschichten, sondern Stücke von Geschichte, die überall da erinnert sein will, wo ein Gebäude dieser Baumeister steht. Beide Brüder Bonatz, der eine ein charismatischer Architektur-­Lehrer, der andere, unser Neuköllner Bonatz, eher ein Baubeamter, waren mit der Nazi-Architektur und ihrem Kommandeur, Albert Speer, verbunden und verstrickt – und nicht zufällig und plötzlich, sondern infolge von Ideen, die sich schon früher in ihnen eingenistet hatten. (So kann man sagen, vor allem, wenn man Geschriebe­nes liest. Aber man kann, was in der einen Betrachtung konsequent erscheint und von innerer Logik, in einer anderen auch zufällig nennen. Der Zeitgeist weht nicht nur in eine Richtung. Mancher meint, Gedanken gefolgt zu sein, die doch nur Rechtfertigungen waren.) In den 30er Jahren arbeitete Karl B. im Hauptplanungsamt des Berliner Magistrats. 1938/39 entwarf er das Wohngebiet Charlottenburg-Nord. 1940 wurde er Abteilungsleiter bei Albert Speer, hauptsächlich für das Bunkerbauprogramm zuständig, „Oberbunkerbaurat“ sagte Speer, der Kriegsverbrecher, der so vielen bürgerlichen Intellektuellen so sehr glich, dass sie ihn im mehr oder weniger Stillen für einen Ehrenmann hielten. Speer war noch nicht als Hauptkriegsverbrecher verurteilt, da war sein Abtei­lungsleiter Karl B. schon wieder Stadtbaurat, in Steglitz. 1947 nach der ersten demokratischen Nachkriegswahl in Berlin entließ der Wahlsieger, die SPD, den berühmten Hans Scharoun, den die Sowjets eingesetzt hatten, aus seinem Amte als Stadtbaurat von Berlin und machte – Karl B. zu seinem Nachfolger. Ab Januar 1949 war er der erste Stadtbaudirektor von Berlin-West. Sein Nach­folger war Rolf Schwedler, der als Senator noch weit in den Brandt-Senat hineinragte. (Karl B. war übrigens nicht der einzige Speer-Mann, dem die SPD eine leitende Baurolle in West-Berlin zuwies. Wie hängt das zusam­men? Ganz leicht ist die Antwort nicht; denn selbst wenn man ironisch sagte, die SPD hat Karl B. bloß mit seinem berühmten Bruder Paul verwechselt, hätte man mit der Antwort ja noch nicht angefangen.)

Das ist das eine Geschichtsstück, von dem ich ein Stück auf meinem nicht unternommenen Spaziergang in die Teupitzer Straßen zu sehen hoffte. Das andere ist eher theoretischer Art und lässt sich – mal ganz juristisch gesprochen (was meine eigentliche Profession ist) – so beschreiben: Die Obdachlosigkeit kommt aus dem Zivilrecht, Privatrecht, bürgerlichem Recht. Eine Wohnung kann jeder haben, der sie bezahlen kann, bezahlen kann sie jeder, der eine entsprechende Arbeit hat. Die Einnahmen hat der Vermieter und also auch den Einnahmeausfall, wenn der Mieter nicht zahlt. Wie man jemandem ein Dach über dem Kopf schafft, der trotzdem keine Wohnung hat, das ist öffentliches Recht, ein ganz anderes Rechtsgebiet, heißt: darum hat sich der Staat zu kümmern, die Kosten tragen also wir alle, die wir den Staat bezahlen. Der Staat repariert. Der Staat als Repara­turbetrieb des Kapitalismus – das sagt natürlich heute niemand mehr und wer es früher gesagt hat, in dessen Biografie ist es unterdessen untergegangen wie … wie die Speerbunker in der Biografie des Stadtbaudirektors Karl B. Aber darum geht es hier auch gar nicht, sondern um die Zuständigkeit. Das Obdachlosenheim baute Karl B. hier also in öffentlichem Auftrag. Sparsam und möglichst aufgabengerecht, das Flachdach ist – lese ich – „programmatisch“. Der Bau sei „ein gelungenes Beispiel des sachlich-rationellen Bauens der 20er Jahre.“

Aber – wie gesagt – das kann ich nicht bestätigen. Ich war nicht da. Ich habe die Gegend nicht auf ihre Stim­mungen befragt und die Farben nicht beobachtet, die sie den Leben vielleicht verleiht, die hier verlaufen. Ich lag im Bett. Ich dachte über mich nach und hatte Kummer.
„Dichtung und Wahrheit“ ist auch ein Buch, in dem jeder, der Kummer hat, alle Tage ein bisschen lesen sollte. Eine meiner Lieblingsstellen ist der Beginn des Neunten Buches. Man weiß schon, was kommt und dass am Ende der Weltautor steht, der seine eigene Sprache spricht und doch von allen verstanden werden kann. Goethe kommt in Straßburg an. Gleich besteigt er den Münsterturm, von dem noch niemand weiß, dass er in gotischem Baustil erbaut ist. Er blickt herunter auf die schöne Gegend „mit herrlichen dichten Bäumen und durchflochtenen Auen … ein neues Paradies … man wird mein Entzücken begrei­fen, mit dem ich mein Schicksal segnete, das mir für einige Zeit einen so schönen Wohnplatz bestimmt hatte.“ Und nun kommt die Stelle, derentwegen ich das hier geschrieben habe: „Eine Ahnung dessen, was kommen wird, beunruhigt das Herz, und ein unbefriedigtes Bedürfnis fordert im Stillen dasjenige, was kommen soll und mag, und welches – das ist es! – auf alle Fälle, es sei nun Wohl oder Weh, unmerklich den Charakter der Gegend, in der wir uns befinden, annehmen wird.“ So wird man also das Münster in Straßburg, von dem Karl B. vielleicht auch eines schönen Tages auf seine Heimat herabgeblickt hat, in eine Verbindung bringen mit dem Obdachlosenheim, das er hier gebaut hat, als sich, was kommen soll und mag, schon ankündigte.
Aber wer ist wirklich Zeitgenosse seiner eigenen Zeit? Dass man dabei war, heißt nicht, dass man verstan­den hat. Dass das meiste unverstanden bleibt, heißt nicht, dass die Verständnis-Versuche aufgegeben werden dürfen. Morgen ist nicht heute, obwohl sie beide auf dem Gestern ruhen.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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