Radeland

Das schmale Stadt­stück zwischen Schön­wal­der Allee, Stadt­park und Fried­hof “In den Kisseln”, das sich nach Westen von Klein­gar­ten­ko­lo­nie zu Klein­gar­ten­ko­lo­nie bis in die Mittel­heide verlän­gert, hat auf der Karte etwas Abge­schlos­se­nes, Eige­nes, fällt aber sonst durch nichts auf. Das Rück­grat dieser Stadt­ge­gend bildet die Rade­land­straße. Rade­land — gero­de­tes Land. Das passt. Ein Stadt­stück zwischen den Grüns. Der Stadt­park bis zur Ostha­vel­län­di­schen Bahn und dann der Forst Span­dau ist ein schö­nes Wald­stück. Misch­wald, Kiefern, Erlen, Eichen, gepflegte Wander­wege. Auf der ande­ren Stra­ßen­seite der Fried­hof “In den Kisseln”, 200.000 Quadrat­me­ter groß, der größte im Westen der Stadt.

Wir biegen am Klin­keplatz ein in dieses Stadt­ge­biet. “Das glaub ich sicher­heits­hal­ber nicht”, sagt L. bei Betrach­tung des Denk­mals von Pionier Klinke, der, die bren­nende Lunte am Leibe, sein Leben in die Düppe­ler Schanze schlug, 1864, im Krieg der Preu­ßen, also auch der Berli­ner, gegen die Dänen. L. hat recht. Die Geschichte stimmt nicht; Klinke ist nicht so kami­ka­ze­haft umge­kom­men. Das Denk­mal ist Ideo­lo­gie.

Die Rade­land­straße südli­cher Teil beginnt also mit Pionier­ka­ser­nen, an denen noch ein Fetz­chen vom Mantel der Geschichte hängt (und mit dem Stadt­bad von 1911, Paul und Legert, die Archi­tek­ten, 28x12 Meter Becken, 23 Wannen‑, 23 Brau­se­bä­der, oder so: aus einer Zeit als noch eine ganz andere Wasch- und Bade­kul­tur herrschte; ein Thema für sich.) Weiter oben, da, wo jetzt die Poli­zei irgend­et­was tut, war zur Zeit des Stadt­bad­baus das könig­lich-preu­ßi­sche Lehrer­se­mi­nar, seit 1921 die preu­ßi­sche Hoch­schule für Leibes­übung und seit 1933 eine Napola, natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Erzie­hungs­an­stalt: drei sehr unter­schied­li­che Geschichts­rö­cke, die die Gegend da anhat. Diese Hoch­schule für Leibes­übun­gen war eine Grün­dung des “Reichs­aus­schus­ses für Leibes­übun­gen”, mit dem sich der Sport in Deutsch­land erst­mals eine anspruchs­volle Form gab. Carl Diem hieß der führende Mann. Später hat er sich auch von Hitler einkau­fen lassen. Vor der ehema­li­gen Sport­schule eine Marmor­fi­gur als Denk­mal für Jahn, den soge­nann­ten Turn­va­ter, ein nack­ter Jüng­ling, der pathe­tisch aus einer Erdspalte empor­steigt. “Ein echtes Jung­tum”, wird Jahn zitiert, “ein echtes deut­sches Jung­tum wollte ich durch die Turn­kunst errin­gen”, noch 1929 konnte man solchen Sozi­al­kitsch also anstands­los zitie­ren. Da ist mir der Sport, der sich sein Schnel­ler-höher-weiter bar bezah­len lässt, lieber — er ist unge­fähr­li­cher.

Dann kommt weiter in der Rade­land­straße — wie gesagt — der Fried­hof, im letz­ten Drit­tel des 19. Jahr­hun­derts ange­legt, nicht gera­dezu ein Park, aber ein freund­li­ches Gelände für eine Groß­stadt von Toten; 100.000 warten hier auf die Aufer­ste­hung oder sind einfach nur tot. Dann das Kran­ken­haus­ge­lände, darun­ter das Wald­kran­ken­haus und damit wieder ein Ort, der nur deshalb harm­los aussieht, weil man seine Geschichte verges­sen hat. “Erin­ne­run­gen ermög­li­chen und bewah­ren”, hat mein Freund Johann Geist in der bedeu­ten­den Arbeit von ihm und Klaus Kürvers über den “Tatort Berlin”, die Befehls­zen­trale Albert Speers, des Kriegs­ver­bre­chers, geschrie­ben, Erin­ne­run­gen ermög­li­chen und bewah­ren als ersten Schritt, um mit der Geschichte ange­mes­sen umzu­ge­hen. Ich weiß nicht, ich bin unsi­cher. Solange wir nicht wissen, was ange­mes­se­ner Umgang mit der Geschichte ist, soll­ten wir viel­leicht auch mit der Erin­ne­rung vorsich­tig sein. Sollen wir uns daran erin­nern, dass die ursprüng­li­chen, nach und nach verschwun­de­nen Bara­cken des Wald­kran­ken­hau­ses das Arbeits­la­ger für die “Einhei­ten” umfass­ten, die Adolf Hitlers und Albert Speers “Große Halle” am Platz der Repu­blik bauen soll­ten, über drei­hun­dert Meter hoch, dass die höchs­ten Bauten Berlins dane­ben wie Spiel­zeuge wirken soll­ten und das “Chaos Berlin” been­det würde in der Welt­haupt­stadt Germa­nia? Sollen wir uns wirk­lich daran erin­nern? Dann müss­ten wir uns auch daran erin­nern, dass Albert Speers obers­ter Verwal­tungs­lei­ter, verant­wort­lich auch für diese Arbei­ter­stadt hier in Span­dau, keines­wegs zur Verant­wor­tung gezo­gen, sondern im Bonner Staat zu hohen Ehren gekom­men ist. Er war Staats­se­kre­tär im Bonner Finanz­mi­nis­te­rium, ist noch gar nicht so lange tot, der dama­lige Finanz­mi­nis­ter Waigel hat ihm ehrende Worte nach­ge­ru­fen. Verges­sen, verges­sen! Verges­sen ist besser als erin­nern.

Nun ist aber auch zu Ende, was an der Rade­land­straße allen­falls Geschichte ist. Wir sind da ange­kom­men, wo sie an einem Reiter­hof endet und als Wald­weg hinüber­führt nach Falken­höh. Wir drehen um, um uns die nörd­li­che Stadt­ge­gend zu betrach­ten, die eigen ist, privat und dennoch typisch. Erst Klein­gar­ten­ko­lo­nien, Wald­frie­den, Brei­tes Fenn, Sand­wie­sen, Klein­gar­ten­park Rade­land; am Krämer­weg biegen wir hinüber in die Klein- und Einfa­mi­li­en­haus­an­lage, die sich bis zur König­straße erstreckt.
Das ist eine Verschie­den­haus­an­lage: ange­nehm bürger­lich, ebenso indi­vi­du­ell wie kommu­ni­ka­tiv und grün, über­all Grün. Königs­ker­zen, die schöns­ten Bäume, Birken, Kiefern, Erlen, Linden. Und Walnuss­bäume, die reich­lich tragen. Das Gebäude, das die Gegend am besten charak­te­ri­siert, ist das Doppel­haus Marwit­zer Straße 37 und 37a; Johan­nes und Gernot Nalbach sind die Archi­tek­ten, aber die Bauher­ren haben da gewiss mitge­baut und Vorschläge gemacht. “Bei der Außen­raum­ge­stal­tung bezie­hen sich die Archi­tek­ten auf die frühere Nutzung des Grund­stücks; ein Gewächs­haus, Pergo­len sowie Spalier­kon­struk­tio­nen sollen auf das ehema­lige Schre­ber­gar­ten­ge­lände verwei­sen”, heißt es im Archi­tek­tur­buch. Das würde Nalbach, der — glaube ich — unter­des­sen Profes­sor ist, selbst viel­leicht elegan­ter formu­lie­ren. Es muss bloß Land­schaft und Haus in Bezie­hung gebracht und ausge­drückt werden, dass niemand, der hier­zu­lande einen Stein auf den ande­ren legt, am Anfang anfängt, sondern dass hier über­all Geschichte herein­ragt, ob man sie erin­nert oder nicht. Das ist hier gut gelun­gen. Auf eine gesetzte und beschei­dene Weise.

Die Stadt­ge­gend gefällt uns gut. Da brauchte sie gar nicht hinter der König­straße in Span­daus erstes Villen­vier­tel über­zu­ge­hen, das sich nach König und Kaiser und nach Hohen­zol­lern­prin­zen nennt, die wir wohl am besten auch alle vergä­ßen, wenn wir sie jemals gekannt hätten.
Bei Klin­kes Denk­mal biegen wir wieder in die große Straße ein.
“Da springt von achtern einer vor: / Ich heiße Klinke, ich öffne das Tor!’ … (dann die Legende, dann:) Solchen Klin­ken für und für / Öffnet Gott selber die Himmels­tür.” Ein furcht­ba­res Gedicht. Von Theo­dor Fontane. Es ist gewiss besser für seinen Ruhm, dass man es vergisst und gar nicht erst lernt. Wahr wäre es nicht, wenn ich jetzt L. zitie­ren ließe, auch von Fontane, sagen wir einfach: von dem ande­ren: “Erscheint dir etwas uner­hört, / Bist du tiefs­ten Herzens empört, / Bäume nicht auf, versuch’s nicht mit Streit, / Berühr es nicht, über­lass es der Zeit.” Über hundert Jahre?

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