Spaziergänge in Berlin

„Spazier­gänge sind das gar nicht. Lerngänge, Touren durch die Emotionen, zu denen sich Gegenwart und Geschichte verbinden; Gedanken und Gefühle, Kopf und Herz in heftigem Dialog.“

Am 23. September 1999 starb Diether Huhn im Alter von 64 Jahren. Der einstige Richter am Amtsgericht war in seinen letzten Jahren Mitherausgeber des Bezirks-Journals, einer kostenlosen Zeitschrift, die die Berliner jede Woche auf eine Reise in die Geschichte und Orte ihrer Stadt mitnahm. Huhn schrieb seine Spaziergänge durch die 90er Jahre erst für diese Zeitung, später wurden sie in insgesamt vier Büchern veröffentlicht.  Die Spaziergänge beobachteten die damals sich ständig verändernde Stadt, wenige Jahre nach der Wiedervereinigung. Dabei schaute er nicht nur auf die Gebäude oder Straßen, sondern setzte das Gesehene auch immer in einen Zusammenhang. Sei es mit der Geschichte, sei es mit der damaligen Gegenwart, die mittlerweile auch wieder zur Geschichte geworden ist.
Seine Witwe sowie der Verlag Koehler & Amelang haben mir die Erlaubnis gegeben, die 250 Spaziergänge von Diether Huhn nochmal zu veröffentlichen.  Mir ist es wichtig, dass die Geschichten nicht in Vergessenheit geraten, deshalb vielen Dank dafür! Die Texte wurden hier schon einmal vor zehn Jahren veröffentlicht.

„Berlin ist eine unheimliche Stadt. Wo man ein bißchen am Sichtbaren ritzt, tritt das Furchtbare ans Licht.“

[ ZU DEN SPAZIERGÄNGEN ]

Der Autor und sein Fotograf

Oft sprachen wir bei den Spaziergängen von unserer gemeinsamen Herkunft aus Lübeck.
Aber Lübeck war nur eine Herkunft. Diether Huhn kam eigentlich, durch den Krieg verschoben von Städtchen zu Städtchen, aus Thüringen, ich eigentlich aus Danzig, aus Elbing, aus Pommern – wie das mit den Flüchtlingskindern so war.
Wir wurden in Lübeck reserviert aufgenommen, sahen aber unsere neue Heimat auch reserviert. Aus diesem Heimatgefühl für Lübeck – mit reservatio mentalis – entstand z.B. in dem von Diether Huhn oft zitierten Knaben-Gymnasium Katharineum eine Kabarett- und Schultheater-Gang, wie sie Lübeck damals noch nicht kannte.
Theater- und Kabarettdirektor: Primaner Diether Huhn. Nur ein Teil der Lehrer lachte mit, der andere nahm übel.
Nach dem Abitur trennten sich unsere Wege. Über Jahrzehnte schrieben wir uns unregelmäßig regelmäßig Postkarten. Vor zwei Jahren bot er mir an, für seine Spaziergänge zu fotografieren. „Ich möchte nirgendwo anders wohnen, als in Berlin“, schrieb Diether Huhn am Ende einer Aufzählung aller seiner Wohnungen, die er in seinem Leben gemietet hatte. Das glaubten ihm die Leser seiner „Spaziergänge“, in denen er liebevoll und mit unglaublichem historischen und kulturellen Wissen Hintergründe aufhellte und Vordergründiges unterhaltsam, listig und liebevoll ausbreitete. Jedem Bezirk bestätigte er glaubhaft, dass er eigentlich Berlin war. Am Ende wurde natürlich klar, dass eben nur die Vielfalt insgesamt das eigentliche Berlin ausmachte.
Verwirrend ist es schon. Die Vielzahl der Aspekte, die der Leser zu berücksichtigen hatte. Langweilig war es nie!

Manfred Jagusch, Herbst 1999

Sein letzter Spaziergang

Am letzten Wochenende des Sommers 1999 ging Diether Huhn, wie so oft in den zurück liegenden drei Jahrzehnten, zu den Friedhöfen am Halleschen Tor in Kreuzberg. Er sammelte Eindrücke für einen seiner Spaziergänge, die unnachahmlich seine Beobachtungen mit persönlichen Erinnerungen und historischen Reflexionen verbinden. Über 250 dieser literarischen Köstlichkeiten, die den Jura-Professor nicht nur als einen Mann der besinnlichen wie streitbaren Feder, sondern auch als exzellenten Kenner der Architektur-, ja überhaupt der Geschichte ausweisen, hat das Bezirks-Journal in seinen verschiedenen Ausgaben gedruckt.
Der Spaziergang zu den Kreuzberger Friedhöfen sollte Diether Huhns letzter sein. Er brachte das Geschaute und Durchdachte zu Papier, las und verbesserte den Computer-Ausdruck mit der ihm eigenen Sorgfalt. Als der Herbst erst wenige Stunden alt war, ist BJ-Herausgeber Professor Diether Huhn, 64-jährig, gestorben.
In den letzten Monaten hat ihn der nahe Tod auf seinen Spaziergängen gelegentlich begleitet. Diether hat das unauffällig, fast beiläufig und auf eine uns anrührende Weise in seine Texte einfließen lassen. Die Spaziergänge des Sommers 99 sind deshalb das Wichtigste, weil Persönlichste, was der Autor Diether Huhn uns hinterlassen hat.
In redaktionellen Runden haben wir oft darüber gesprochen, dass wir die „Spaziergänge“ am liebsten nicht nur in den Ausgaben gedruckt sehen wollten, in denen der Autor sie territorial ansiedelte. Aber der blieb konsequent: Ein neuer Text für jedes neue Heft, davon ließ er, solange seine Kräfte reichten, nicht ab.
Jetzt, da er auf dem Jerusalem-Kirchhof am Mehringdamm begraben wird, soll auch der Leser in Spandau erfahren, mit welchen Augen der Spaziergänger Marzahn sah, und der in Pankow, was es in Neukölln zu entdecken gibt.
Diether Huhn wird also, wie all die Jahre zuvor, bei uns sein, doch wir vermissen ihn sehr.

Diethard Wend, Bezirks-Journal

Diether Huhn

Geboren am 10. April 1935 im Thüringischen Sonneberg. Aufgewachsen ist er in Lübeck, 1961 kam er als junger Jurist nach Berlin. Zunächst war Huhn als Richter tätig, u.a. am Amtsgericht Wedding, am Kammergericht und als Vorsitzender Richter am Landgericht, später als Professor. Außerdem als Hochschul-Rektor, zeitweise Beauftragter für das Hochschulwesen des Landes Berlin.
Zudem war er Vorstandsmitglied des Sozialpädagogischen Instituts Berlin.
Am 23. September 1999 starb Diether Huhn unerwartet im Alter von 64 Jahren in Berlin.

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