Night on Earth (4)

Ich erin­nere mich noch an ein Gespräch mit meinem lieben Taxi-Kolle­gen Klaus, der vor knapp einem Jahr gestor­ben ist. Es ging um den Mara­thon­lauf, der einmal im Jahr die Berli­ner Innen­stadt lahm legt. Er mochte diesen Tag, weil er mit eini­gen Tricks gut durch die Stadt kam, während viele Kolle­gen lieber frei nahmen, aus Angst vor etli­chen Staus.
Letz­ten Sonn­tag war der dies­jäh­rige Mara­thon schon einige Stun­den vorbei, die meis­ten Stra­ßen waren wieder frei. Ich freute mich auf die Schicht (ja, das kommt manch­mal vor).
Kaum hatte ich mich im Taxi ange­mel­det, ich rollte gerade auf die Straße, um zum Haupt­bahn­hof zu fahren, klin­gelte mein Handy. Ein lieber Freund war dran, der bei der Regis­trie­rungs­stelle für Flücht­linge arbei­tet, ehren­amt­lich und seit zwei Mona­ten fast täglich zwischen 12 und 16 Stun­den. Wenn er um Hilfe bittet, dann kriegt er sie von mir auch.
“Kannst du vorbei kommen? Wir haben eine Fami­lie, die muss zur Poli­zei gebracht werden.”
Ich habe das in den ganzen Wochen stän­dig gemacht, einzelne Flücht­linge, manch­mal ganze Fami­lien in irgend eine Sammel­un­ter­kunft gebracht, zu Privat­woh­nun­gen oder auch in eine Zelt­stadt. Es gibt viel zu wenig Plätze, an denen die Hilfe­su­chen­den erst­mal unter­ge­bracht werden können, und am Wochen­ende hat das Lageso sogar geschlos­sen und kann nieman­den vermit­teln. Behör­den eben.

Die Poli­zei­wa­chen in Berlin sind ange­hal­ten, gerade in Notfäl­len wie am Wochen­ende oder wenn Kinder dabei sind, zu helfen. So sollte auch diese acht­köp­fige syri­sche Fami­lie zur Wache in der Perle­ber­ger Straße gebracht werden. Dort schließt sich eine Kaserne an, es gibt ausrei­chend Platz.
Zusam­men mit einer Bran­den­bur­ger Helfe­rin mit eige­nem Auto fuhr ich die Fami­lie zur Poli­zei­wa­che. Doch als wir ausge­stie­gen waren und klin­gel­ten, wurden wir sofort aggres­siv abge­wie­sen. Was wir hier woll­ten, wer wir über­haupt seien, die Fami­lie könnte hier nicht blei­ben, höchs­tens drau­ßen vor der Wache. Die Flücht­linge wurden nach Auswei­sen gefragt und als sie das nicht verstan­den brüllte der Poli­zist sie an. Als wenn sie schwer­hö­rig seien. Die Helfe­rin und ich sind dann dazwi­schen und haben versucht zu vermit­teln, denn niemand aus der Fami­lie sprach Englisch oder Deutsch. Wir konn­ten klären, dass sie keine Pässe hatten, keine Ausweise, kein Geld. Der Poli­zist trieb sie nun in den Vorraum und versuchte uns raus­zu­drän­gen. In einem Neben­satz sagte er, dass die Flücht­linge nun erkenn­tungs­dienst­lich behan­delt würden, das werde einige Stun­den dauern. Wir muss­ten dann das Gebäude verlas­sen. Stun­den später, in der Nacht, sah ich die Fami­lie bei 3 Grad Außen­tem­pe­ra­tur auf dem Bürger­steig vor der Wache liegen.

Wütend begann ich meine eigent­li­che Schicht. Auf dem Weg zum Haupt­bahn­hof erhielt ich einen Funk­auf­trag, Hotel Stei­gen­ber­ger, gleich dort um die Ecke. Fünf Bayern woll­ten zur Lemke-Braue­rei am Char­lot­ten­bur­ger Luisen­platz. Viel­leicht woll­ten sie sich mit dem Berli­ner Bier trös­ten, dass sie nicht dahoam auf dem Okto­ber­fest sein konn­ten. Mir war nach dem Erleb­ten nicht zum Reden zumute, aber als sie mich dazu dräng­ten, erzählte ich, was zuvor passiert war. Sie waren ehrlich empört und erzähl­ten, dass die Groß­el­tern einst eben­falls Flücht­linge gewe­sen seien, die 1945 aus Schle­sien nach Bayern gekom­men waren. “Na, dös war’n Vertrie­bene, aber das ist eigent­lich das Glei­che.” Schön, wenn man solche Anteil­nahme von Leuten erfährt, die man eigent­lich so wahr­nimmt, dass sie nur feiern wollen.

Gleich nach dem Ablie­fern der Bayern klin­gelte der nächste Funk­auf­trag an. Kaise­rin-Augusta-Allee. Die Bar kenne ich nur von außen, sie macht einen unse­riö­sen Eindruck. Aber egal, Zuhäl­ter und Koks­dea­ler wollen ja auch leben. Meine Fahr­gäs­tin gehörte vermut­lich nicht dazu, dummer­weise wusste sie auch nicht genau, wohin sie wollte. “Zum Schloss Char­lot­ten­burg erst­mal, dann weiß ich weiter.” Dies sind nicht die Anga­ben, die einen Taxi­fah­rer beru­hi­gen. Letzt­end­lich war die Fahrt aber nur fünf Minu­ten lang, nach­dem sie plötz­lich meinte: “Ach, da vorne wohne ich ja!”.
Gut, wenn man sein Zuhause wieder­erkennt.

Norma­ler­weise würde ich von hier aus in die City West fahren, aber sonn­tags ist der Haupt­bahn­hof eine ganz gute Adresse. Auf dem halben Weg dahin kam das nächste Ange­bot ins Auto: Seyd­litz­straße, das Bonzen-Spa, wo vorher das Frei­bad war, in dem die Moabi­ter Kinder ihren Sommer verbrin­gen konn­ten. An der Einfahrt stand ein Fahr­gast, wie ich ihn mir jeden Tag wünschte: Der schwarze Englän­der war zwischen 1,90 und 2 Meter lang, sehr schlank und hatte eine extrem kurze Turn­hose an. Dann setzte er sich auch noch direkt neben mich, ich musste mich zwin­gen, auf den Verkehr zu achten. John erzählte mir, dass er vormit­tags den Mara­thon gelau­fen ist und sich in dem Spa gewun­dert hat, dass dort alle nackt herum laufen. Ich machte mir so meine Gedan­ken…

Nach­dem ich ihn in seinem Hotel nahe des Kudamms abge­lie­fert hatte, spran­gen mir vier extrem nervige Rhein­län­der ins Auto, die Tour zum Hotel Berlin war sehr laut und unan­ge­nehm. Dort wurde ich von fünf Iren ange­spro­chen, die ein Restau­rant in der Köthe­ner Straße such­ten. Der Name sagte mir nichts, aber glück­li­cher­weise hatten sie die Haus­num­mer. Dumm nur, dass die Straße gar nicht so lang ist, eine 60er Nummer gibt es dort nicht. Das irische Englisch war nicht wirk­lich zu verste­hen Dann tauch­ten noch die Versio­nen Kott­bus­ser oder Kobur­ger Straße auf, aber auch die sind nicht so lang.
Wir über­leg­ten hin und her, nach eini­gen Minu­ten fiel mir auf, dass einer von ihnen versuchte, den Namen vom Handy­dis­play abzu­le­sen. “Show me the cell phone”, sagte ich, und alle fingen an zu lachen. Daran hatten sie nicht gedacht. Das Rätsel löste sich schnell, wir muss­ten in die Chori­ner Straße im Prenz­lauer Berg. Das war dann schnell erle­digt und ihr Trink­geld fiel unge­wöhn­lich hoch aus.

Danach erreichte ich endlich den Haupt­bahn­hof, ich musste nur kurz warten. Die folgende Tour brachte mich nicht weit, Emde­ner Straße in Moabit. Auf der kurzen Fahrt erzählte mein Fahr­gast von seinem Umzug nach Berlin, aus einem 100-Leute-Dorf direkt in den Moloch, wie er das nannte. Sein Stra­te­gie ist, Berlin in lauter einzelne Dörfer oder Klein­städte aufzu­tei­len, so ist das leich­ter zu über­schauen. Und letzt­end­lich ist das auch: Die Stadt­teile Berlins sind ja einst tatsäch­lich aus vielen einzel­nen Gemein­den entstan­den.

Als er gerade ausge­stie­gen war, kam der nächste Funk­auf­trag: Restau­rant Neumanns, fünf Perso­nen. Dies waren Dänen, die zum Azimut woll­ten und mir ausgie­big erklär­ten, wo sich das Hotel befin­det. Mit “ikke Problemer” erklärte ich in ihrer Spra­che, dass ich das Azimut kenne. Doch während der gesam­ten Fahrt woll­ten sie mir erklä­ren, wie ich dort hin käme. Am Hotel ange­kom­men lobten sie sich dann selbst dafür, dass sie mir den Weg so gut erklärt haben.
Ich kam wieder nicht weit. Nach 200 Metern winkte mich der Door­man des Waldorf Asto­ria und ins Auto stieg eine jüngere Frau. Die Tour ging nach Fried­richs­hain und war auf andere Art sehr unter­halt­sam. Sie hat heute mit Musik­ver­an­stal­tern zu tun, die ich vor über 20 Jahren von meiner dama­li­gen Arbeit kannte. Wir tausch­ten unsere Erfah­run­gen mit denen aus und läster­ten über sie. Das war sehr erfri­schend.

Sonn­tags im Fried­richs­hain bedeu­tet Kund­schaft am Berg­hain. Die fünf Moabi­ter Jungs woll­ten in die Turm­straße und läster­ten die ganze Zeit darüber, dass einer von denen im Berg­hain von einer Frau ange­bag­gert wurde, aber nicht ange­bis­sen hat. Nicht weil er schwul wäre oder keine Lust gehabt hätte, sondern er war einfach zu schüch­tern.
Fast am Ziel ange­kom­men meinte einer der ande­ren, dass neben ihm auf dem Klo ein Mann “mit so einem Leder­dings” stand, vorn nur mit Eier­be­cher und hinten offen. Und der hätte ihn wohl sehr inter­es­siert ange­starrt.
Mehr erzählte er nicht, aber es war klar, dass die ande­ren darauf einstie­gen: “Und, was haste gemacht?”
Doch der Kerl sagte nur: “Was im Berg­hain passiert, bleibt auch im Berg­hain.” Wie die ande­ren habe ich das nur als Spruch aufge­nom­men, aber wer weiß…

Am abend­li­chen Haupt­bahn­hof komm­ten sonn­tags die Pend­ler an, junge Solda­ten, Ange­stellte der Minis­te­rien, Studen­ten, die das Wochen­ende bei Mami vebracht haben. Die Sekre­tä­rin war eine eher graue Maus, die vermut­lich in ihrem Job alles über­blickt und beherrscht, ohne mit eige­nen Ideen aufzu­mu­cken. Jeden­falls kenne ich jetzt nicht nur das Char­lot­ten­bur­ger Hotel, in dem sie derzeit wochen­tags wohnt, sondern auch so ziem­lich alles, was ihren Job betrifft. Man merkte wie gut es ihr tat, dass mal jemand zuhörte. Aber mir blieb ja auch nichts ande­res übrig. Ich verstehe aber nicht, wieso sie seit fünf Jahren jede Woche von Hanno­ver nach Berlin pendelt, anstatt ganz hier her zu ziehen. Und auch nicht, wieso sie die angeb­lich so verhasste Arbeit nicht hinschmeißt und sich was ande­res sucht. Als sie dann sagte, dass sie ja nicht ande­res kann und das schon seit 30 Jahren macht, staunte ich doch. Immer­hin hatte ich sie auf Mitte 30 geschätzt. Der miese Job scheint jung zu halten.

Danach war erst­mal Flaute. Gegen Mitter­nacht cruiste ich durch die City West, Schö­ne­berg, Mitte. Ein Blick aufs Display zeigte mir, dass am Haupt­bahn­hof gleich drei ICEs aus München, Hamburg und Köln ankom­men würden. Das lohnt sich um diese Zeit auf jeden Fall. Ins Taxi purzelte mir dann ein junges Pärchen, das nach Kreuz­berg musste. Leider war deren Laune sehr schlecht und ich gab mir alle Mühe, dass das nicht auf mich abfärbte. Es ist beein­dru­ckend, wie sich Stim­mun­gen oft recht schnell über­tra­gen obwohl man mit der Ursa­che der Laune gar nichts zu tun hat. Das gilt für gute, wie für schlechte Stim­mun­gen. Aber ich bin schon froh, wenn niemand versucht, mich armen Taxi­fah­rer in der gegen­sei­ti­gen Anma­che auf seine Seite zu ziehen.

Die Fahrt dauerte nur wenige Minu­ten und kaum waren sie ausge­stie­gen, klin­gelte mein Tele­fon und ein lieber Freund war dran. Er wollte, dass ich zu ihm komme, wir was zusam­men essen und noch ein biss­chen Spaß zusam­men haben. Bevor ich mich aber entschei­den onnte, stieg ein Mann ein, der mir sein Fahr­ziel nannte und den es offen­bar auch nicht inter­es­sierte, dass ich gerade tele­fo­nierte. Aber so ist das manch­mal, nur wir Taxi­fah­rer haben wirk­lich gute Manie­ren.
Da das Ziel wieder fast am Bahn­hof lag, habe ich dort noch eine letzte Runde gedreht, der letzte Zug aus Zürich war schon seit eini­gen Minu­ten durch, danach läuft da nicht mehr viel.

Von wegen: Bestimmt 50 Leute stan­den am Taxi­stand, kein Kollege in Sicht. So hab ich es gern. Und unge­wöhn­li­cher­weise haben die Fahr­gäste sogar eine Schlange gebil­det, was dort wirk­lich selten vorkommt. Ganz vorn stand eine ältere Dame. Als ich gerade anhielt, sprang aber ein jünge­rer Mann von der ande­ren Seite ins Auto und sagte nur unfreund­lich “Schö­ne­berg”. Ein solch rück­sichts­lo­ses Verhal­ten mag ich nicht und erst recht nicht, wenn man einen wehr­lo­sen Menschen zur Seite drückt. Also entgeg­nete ich im selben motzi­gen Ton “Ausstei­gen!”
Er glaube nicht rich­tig verstan­den zu haben, aber ich drehte mich um und sagte laut: “Raus!” Das hat ihn über­zeugt, schimp­fend stieg er wieder aus dem Auto.
Ich ging um den Wagen herum, nahm der Dame den Koffer ab und fuhr mit ihr nach Mari­en­dorf. Auf dem Weg lobte sie mich für mein Verhal­ten, obwohl eigent­lich nicht so beson­ders war. Und gelohnt hatte es sich ja für mich auch.
Nach der Fahrt war ich so müde, dass ich die Fackel und den Funk abschal­tete und Rich­tung Bett­chen fuhr. Erst dann fiel mir ein, dass ich mich ja eigent­lich mit dem Freund tref­fen wollte. Aber dafür war es jetzt zu spät.

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3 Kommentare

  1. Holla, schön mal wieder so ausführ­lich von einer ganzen Nacht zu lesen. Hab ich mir zur gegen­tei­li­gen Zeit in der Sonne auf den Trep­pen der Stutt­gar­ter Oper zu Gemüte geführt. :)

    Unter Night on Earth habe ich glaube ich einen meiner Lieb­lings­bei­träge aus deinem Buch in Erin­ne­rung, auch wenn diese Nacht ganz anders war.

    Mich würde inter­es­sie­ren was du damals mit Musik­ver­an­stal­tern zu tun hattest…

    Auf die Arbeit freuen ist gut, Freunde tref­fen aber auch. Nächs­tes Mal wieder.

    Grüße von der Sonne in die Nacht

  2. Das mit den Musik­ver­an­stal­tern findet auch mein Inter­esse ;)
    Und ja, wirk­lich schön ausführ­lich. Die Behand­lung der Flücht­linge ist (mal wieder) unmög­lich. Aber an Wehr­lo­sen kann man ja seine Wut auslas­sen …

    “Was im Berg­hain passiert, bleibt im Berg­hain” ;) Und sich anbag­gern lassen von einer Frau und nicht anbeis­sen? Eijei­jei.

  3. Den gemein­sa­men Veran­stal­ter kannte ich noch aus den 1980er Jahren, wir haben Konzerte und Touren mit osteu­ro­päi­schen Künst­lern gemacht, meist Pop/Rockbands.
    Später habe ich noch ne Weile fürs SO36 gear­bei­tet, aber nur ein Jahr oder so.

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