Bahnhof Friedrichstraße

Abbild des Abbil­des des geteil­ten Deutsch­lands

Als es noch die Mauer gab, empfand ich den Bahn­hof Fried­rich­straße als die Mitte Berlins, denn er war Berlin im Klei­nen. Genauer gesagt: er verhielt sich zu Berlin wie Berlin zu Deutsch­land. Mathe­ma­ti­ker nennen so etwas ein Frak­tal.
Deutsch­land war geteilt, und die soge­nannte Zonen­grenze zwischen den beiden Hälf­ten gehörte zu den unüber­wind­lichs­ten Gren­zen über­haupt. Mitten in der Osthälfte lag Berlin, das seiner­seits geteilt war. Die Berli­ner Mauer um West-Berlin herum gehörte eben­falls zu den unüber­wind­lichs­ten Gren­zen über­haupt. Dennoch waren West-Deutsch­land und West-Berlin über ein paar Tran­sit­stre­cken mitein­an­der verbun­den. Einer­seits wurde erstaun­lich gut für freien Verkehr zwischen West-Deutsch­land und West-Berlin gesorgt, ande­rer­seits war es für Menschen in Ost-Deutsch­land nahezu unmög­lich, über diese Tran­sit­stre­cken nach West-Deutsch­land oder West-Berlin zu flüch­ten.
Mitten in Ost-Berlin aber lag der Bahn­hof Fried­rich­straße, der seiner­seits geteilt war, und der undurch­dring­lich abge­schot­tete West-Teil war mit West-Berlin über einige Bahn­li­nien verbun­den. Menschen aus West-Berlin konn­ten dort unge­hin­dert einkau­fen und zwischen Fern­bahn, S‑Bahn und U‑Bahn umstei­gen, doch war es für Menschen in Ost-Berlin unmög­lich, über diese Tran­sit-Bahn­li­nien nach West-Berlin oder in den West-Teil des Bahn­hofs zu flüch­ten.
Mit dem rich­ti­gen Visum konnte man aber von West-Berlin in die DDR und vom West-Teil des Bahn­hofs nach Ost-Berlin kommen und umge­kehrt.
Der Bahn­hof war also sowohl ein Abbild des geteil­ten Berlins als ein Abbild des geteil­ten Deutsch­lands.
Das kam erstens dadurch, dass Berlin die Haupt­stadt Deutsch­lands und der Bahn­hof Fried­rich­straße schon immer der zentrale Knoten­punkt des Berli­ner S‑Bahn-Netzes war. Hier kreuzt die Stadt­bahn zwischen West-und Ostkreuz die Nord-Süd-Bahn zwischen Gesund­brun­nen und Südkreuz. Später kam auch noch eine nord-südli­che U‑Bahn-Linie hinzu. Zwei­tens kam es dadurch, dass Berlin im östli­chen Teil des geteil­ten Deutsch­lands und der Bahn­hof im östli­chen Teil des geteil­ten Berlins lag. Die drei west­li­chen Alli­ier­ten hatten darauf bestan­den, dass alles weiter funk­tio­niert, auch nach­dem sich die DDR einge­mau­ert hatte.
Der Bahn­hof hatte oben auf dem Viadukt Bahn­steige für die S‑Bahn und Fern­bahn nach Osten und streng davon getrennt solche für die S‑Bahn und Fern­bahn nach Westen sowie unter dem Grund für die S‑Bahn und die U‑Bahn nach Westen. Das Deut­sche Histo­ri­sche Museum besitzt ein liebe­voll aus Karton gebas­tel­tes Modell des Bahn­ho­fes, an dem Stasi-Beamte lernen konn­ten, wie was mitein­an­der verbun­den war. Das Ganze konnte nur funk­tio­nie­ren, weil jeder Bahn­steig schon vor der Teilung durch mehrere Trep­pen erreich­bar war und weil man einen Extra-Tunnel ange­legt hatte, der die unter­ir­di­sche West-S- und ‑U-Bahn mitein­an­der verband.
Die West-Linie auf dem Viadukt war einge­zäunt. Die West­ler fuhren in den Bahn­hof Fried­rich­straße wie die Tiger in die Zirkus­arena gelei­tet werden. Die unter­ir­di­schen Linien hatten in allen Rich­tun­gen einige unter­ir­di­sche Bahn­höfe im Ostteil der Stadt, bevor die im Norden und Süden wieder den Westen erreich­ten. An diesen soge­nann­ten Geis­ter­bahn­hö­fen hiel­ten die Züge nicht. Die Eingänge waren bis auf einen zuge­mau­ert. Auf dem Bahn­steig stand immer ein Volks­po­li­zist mit Maschi­nen­ge­wehr.
In der West-Hälfte des Bahn­ho­fes gab es Platz für einen der DDR gehö­ren­den Laden. Dort konnte man anfangs gegen D‑Mark die Schrif­ten von Marx und Engels erwer­ben, die im Westen zwar nicht verbo­ten, aber doch irgend­wie nicht gern gese­hen waren. Die haben der DDR aber kaum Devi­sen einge­bracht und auch nicht hinrei­chend dazu beigetra­gen, dass der Westen kommu­nis­tisch gewor­den wäre. Eines Tages hatte sich das Ange­bot radi­kal verän­dert: Nun konnte man gegen D‑Mark steu­er­freie Ziga­ret­ten kaufen. Die waren im Westen zwar verbo­ten, aber gern gese­hen und haben der DDR viel Geld einge­bracht, das der Bundes­re­pu­blik fehlte. Außer­dem waren sie schön schäd­lich für die Gesund­heit der West­deut­schen. Das stand aber damals noch nicht drauf.
Als dann die Mauer fiel, brauchte man nur ein paar zuge­mau­erte Durch­gänge aufzu­bre­chen und die Volks­po­li­zis­ten abzu­zie­hen, und schon nach weni­gen Tagen funk­tio­nierte das Netz wieder wie vor der Teilung. Auf einem Umgang oben in der Bahn­hofs­halle, wo immer Volks­po­li­zis­ten patrouil­lier­ten, wurde ein Marl­boro-Mann ange­bracht, auch eine Ikone unifor­mier­ter Männ­lich­keit mit Schuss­waffe.
Danach wurde der Bahn­hof eingrei­fend umge­baut. Über­all kamen Läden hin. Man konnte sich etwas zu essen kaufen oder für die vernach­läs­sigte Ehefrau eine Hand­ta­sche oder Hals­kette, wie das an metro­po­li­ta­nen Bahn­hö­fen so ist. Den Läden geht es nun schlecht, und das hat mit einem ande­ren Bahn­hof zu tun.

Aus: Suche nach der Mitte von Berlin

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