„2015 darf sich nicht wiederholen“

Flüchtlinge auf dem Weg zur griechischen Grenze (2015). Foto: Ggia (CC BY-SA 4.0)

Es ist kaum zu glau­ben, was einem derzeit wieder entge­gen­brüllt, wenn man die Nach­rich­ten anschaut. Abge­hen vom total ange­sag­ten Thema Corona dreht sich alles um die Flücht­linge, die derzeit versu­chen, von der Türkei nach Grie­chen­land zu gelan­gen. Wie schon vor fünf Jahren verfal­len zahl­rei­che Poli­ti­ker und Medien wieder in die rassis­ti­sche Spra­che von 2015, als von einer „Flücht­lings­schwemme“ die Rede war. Natür­lich wittert die AfD wieder Aufwind, die CDU schließt sich an, selbst aus der SPD und Teilen der Grünen wird die „Vertei­di­gung der Grenze“ in Grie­chen­land gelobt. Es ist nur wider­lich, wie erneut vor einer „Gefahr“ gewarnt wird, die „uns“ droht. Von Menschen, die vor dem Krieg in Syrien geflo­hen sind, darun­ter etwa ein Drit­tel Kinder und Jugend­li­che. Menschen, die oft schwer trau­ma­ti­siert sind, teil­weise schon seit Mona­ten in unbe­heiz­ten Lagern in der Türkei geses­sen haben und nun von Erdo­gans Regie­rung Rich­tung EU geschickt wurden.

Paral­lel dazu wird von „Erpres­sung“ durch die Türkei gespro­chen. Dabei ist das EU-Türkei-Abkom­men, der soge­nannte Flücht­lings­pakt vom März 2016, auf vier Jahre begrenzt gewe­sen, läuft jetzt also sowieso aus. Und dass die Türkei sich durch den Vertrag verarscht fühlt, ist nach­voll­zieh­bar. 6 Milli­ar­den Euro sollte sie in der Zeit bekom­men, um eine Infra­struk­tur aufzu­bauen. Bisher sind jedoch nur 4 Mrd. geflos­sen. Teilt man dieses Geld durch die 4 Millio­nen Flücht­linge, die die Türkei aufge­nom­men hat sowie die vier Jahre, blei­ben pro Flücht­ling gerade mal 250 Euro pro Jahr übrig oder 70 Cent am Tag. Die Türkei hat mehr Kriegs­flücht­linge aufge­nom­men, als alle Länder der EU zusam­men. Sie mit dieser winzi­gen Summe allein zu lassen und dann als Erpres­ser hinzu­stel­len, ist mehr als schein­hei­lig.

Natür­lich lehne ich das Vorge­hen Erdo­gans ab, die Menschen nun als poli­ti­schen Spiel­ball zu nutzen und nach Grie­chen­land zu trei­ben. Wobei auch da die Zahlen bisher eher lächer­lich gering sind. Seriöse Schät­zun­gen gehen von 5000 bis 10.000 Flücht­lin­gen aus, die derzeit versu­chen, nach Grie­chen­land zu kommen, wesent­lich weni­ger als bisher gedacht.

Trotz­dem entblö­den sich Medien und viele Poli­ti­ker in Deutsch­land und auch dem Rest der EU nicht, gleich wieder das Gespenst einer Inva­sion an die Wand zu malen. Es ist so erbärm­lich, wie versucht wird, Menschen zurück­zu­sto­ßen, die alles verlo­ren haben, an Besitz, an Hoff­nung, an Zukunft und oft an Verwand­ten. Anstatt ihnen wenigs­tens eine Möglich­keit zu geben, irgendwo in Sicher­heit ihr Leben wieder neu zu finden, irgend­eine Perspek­tive, für die es sich zu leben lohnt – nein, sie werden als Inva­so­ren behan­delt, als Feinde und poten­zi­elle Terro­ris­ten.

Sie sagen, „2015 darf sich nicht wieder­ho­len“. Damit meinen sie, dass so viele Menschen nach Europa kommen, die das bei uns veran­kerte Recht auf Asyl in Anspruch nehmen wollen. Wozu haben wir dieses Recht denn sogar in unse­rem Grund­ge­setz stehen? Oder ist es nur Maku­la­tur, damit man seine angeb­li­che Mensch­lich­keit vor sich hertra­gen kann? Das ist nur verlo­gen!

Nach neus­ten Zahlen haben von den Flücht­lin­gen, die 2015 nach Deutsch­land gekom­men sind, 100.000 eine Ausbil­dung begon­nen und sie teil­weise bereits abge­schlos­sen. Mehr als doppelt so viel haben eine Arbeits­stelle gefun­den und stüt­zen damit die deut­sche Wirt­schaft. Sie sind keine Terro­ris­ten, Schma­rot­zer oder was ihnen sonst noch vorge­wor­fen wird.

Ich glaube auch nicht, dass es denje­ni­gen, die solche Argu­mente vorbrin­gen, wirk­lich darum geht. Ich denke, dass sie damit einfach nur ihren Rassis­mus pfle­gen. Sie wollen nicht, dass Menschen aus teil­weise ande­ren Kultur­krei­sen in unser Land kommen. Aber dann sollen sie es auch offen sagen und nicht ihre verlo­ge­nen Sprü­che machen.

Sie haben über­haupt kein Recht haben, diese hilfe­su­chen­den Menschen abzu­wei­sen, denn es ist eine mensch­li­che Pflicht, ande­ren zu helfen. Dass sie selber viel­leicht in Deutsch­land gebo­ren wurden, ist keine Leis­tung, sondern Zufall. Es macht sie in keiner Weise zu besse­ren Menschen oder zu welchen, die höhere Rechte hätten. Wären sie auch nur 100 Kilo­me­ter östlich von Berlin zur Welt gekom­men, würden sie plötz­lich als „Pola­cken“ gelten. Der Zufall des Geburts­or­tes und der ange­bo­re­nen Natio­na­li­tät gibt ihnen nicht das Recht, sich als was Besse­res zu betrach­ten.

Im Gegen­teil: Wer mit solchen Privi­le­gien wie wir Deut­schen aufge­wach­sen ist, die wir größ­ten­teils keinen Krieg mehr im eige­nen Land erlebt haben, die fast alle eine Wohnung haben und ausrei­chend zu essen – wir sind mora­lisch verpflich­tet dafür zu sorgen, dass es auch Menschen aus ande­ren Ländern gut geht. Zumal gerade die West­deut­schen ihren Wohl­stand denje­ni­gen verdan­ken, die nach dem 2. Welt­krieg die deut­sche Wirt­schaft massiv unter­stützt haben. Nach 1945, vor allem ab 1949, wurde die Bundes­re­pu­blik von Aber­mil­li­ar­den Dollar wieder­auf­ge­baut. Deutsch­land wäre heute noch ein vermut­lich armes Agrar­land, wenn die eins­ti­gen „Feinde“, allen voran die USA, aber auch Frank­reich und Groß­bri­tan­nien, nicht den Wieder­auf­bau bezahlt hätten.

Wir haben als Deut­sche allen Grund, uns gegen­über den Menschen ande­rer Länder finan­zi­ell und mensch­lich groß­zü­gig zu verhal­ten, wenn sie unsere Hilfe benö­ti­gen. Es ist arro­gant, groß­kot­zig und zutiefst erbärm­lich, wie jetzt wieder viele so tun, als würde uns von den paar tausend Flücht­lin­gen, die nun nach Europa drän­gen, irgend­eine Gefahr drohen. Dahin­ter steckt Rassis­mus, nichts ande­res!

Und bevor wieder jemand mit der Terro­ris­mus­keule kommt: Ja, es gab in der Vergan­gen­heit auch Krimi­nelle und Terro­ris­ten unter den Flücht­lin­gen. Sie machen einen winzi­gen Teil aus und sind sicher genauso gefähr­lich wie der Nazi-Terro­ris­ten des NSU, der Mörder von Kassel, Halle und Hanau. Aber wenn die Behör­den auf diesem Auge blind sind und direkte Hinweise stän­dig igno­rie­ren oder verharm­lo­sen, braucht man sich nicht wundern, wenn solche Leute immer wieder zuschla­gen können. Aber so wie die Neona­zis nur einen sehr klei­nen Teil der Gesell­schaft stel­len, so gibt es auch unter den Flücht­lin­gen nur wenige, die gefähr­lich sind. Terro­ris­mus muss natür­lich verfolgt werden, egal aus welcher Rich­tung er kommt, egal ob poli­tisch oder reli­giös. Aber das eine (Terro­ris­mus) hat nichts mit dem ande­ren zu tun, also dem Recht, hier bei uns in Sicher­heit zu leben!

Es macht mich aber froh, dass trotz aller Ressen­ti­ments zahl­rei­che Menschen ihre Soli­da­ri­tät bewei­sen. Bürgermeister*innen von bundes­weit 140 Städ­ten haben sich dazu bereit erklärt, die Menschen aufzu­neh­men, die jetzt an die Grenze klop­fen. Trotz der AfD-Gefahr haben sie ihre Mensch­lich­keit nicht dem poli­ti­schen Oppor­tu­nis­mus geop­fert. Danke dafür nach Pots­dam und ins Rote Rathaus!

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4 Kommentare

  1. So trau­rig die verschie­de­nen Schick­sale dieser Menschen an der griechisch/türkischen Grenze aktu­ell auch sein mögen, so falsch ist aller­dings auch die Aussage, daß es sich dort alles um Syrer handelt. Sie stel­len zwar die größte Flücht­lings­gruppe in der Türkei insge­samt, halten sich größ­ten­teils aber nicht im genann­ten Grenz­ge­biet auf.

    Die aller­ge­ringste Prozent­satz dort sind aktu­ell Syrer, sondern viel­mehr Afgha­nen, Marok­ka­ner, Iraker und Iraner, Bangla­de­schisch, Menschen aus allen Teilen Schwarz­afri­kas und sogar Türken.

    Das sind gesi­cherte Erkennt­nisse verschie­de­ner NGOs vor Ort und des UNHCR.

    Bitte etwas besser recher­chie­ren.

  2. Hallo„
    mora­lisch müssen spätere Gene­ra­tio­nen die Igno­ranz der reichs­ten Staa­ten der Welt über das Igno­rie­ren der Flücht­linge und der hungern­den Kinder beur­tei­len. Auch wir werden dann wohl gerne behaup­ten, von allem nix gewusst zu haben.
    Dabei, lieber Peer ist mir persön­lich total egal, ob diese Menschen in Not aus Kanada, Syrien, Polen, Taka­tu­ka­land oder Soma­lia kommen. Es sind Menschen verdammt noch mal, die aus welchen Grün­den auch immer so in Not sind, dass sie ihre Heimat verlas­sen haben. Dank Inter­net, Twit­ter und Co. hat sich auch dort rumge­spro­chen, dass das Leben bei uns kein Zucker­le­cken ist.
    So lange die Welt nicht gewähr­leis­tet, dass alle Menschen ausrei­chend saube­res Trink­was­ser bekom­men und zwar nicht über­teu­ert in Flaschen von Nestle, und genug zu Essen haben, werden sich Menschen auf den Weg machen, um diese Grund­ver­sor­gung zu bekom­men.
    Gruß Frank

  3. Danke Aro, danke Frank. Ja, es wirk­lich egal wer sich dort warum in Sicher­heit brin­gen möchte. Da hat Peer wohl etwas dane­ben gegrif­fen, als er diese Zustände in Grie­chen­land als “trau­rig” bezeich­nete. Trau­rig ist es, dass die Reichen welt­weit einfach nicht teilen wollen. Tragisch ist es, dass es sich niemals ändern wird. Sind halt keine Engel sondern nur Menschen die diese Welt kaputt machen. Und sich selbst dazu. Da hilft nur beten! ;-)

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