Wollank, Prinzen, Pank

Über den S‑Bahnhof Wollank­straße freue ich mich jedes Mal. Heute gibt es dafür einen zusätz­li­chen Grund. Ein mittel­al­tes Ehepaar, der Mann saß mit Akten­ta­sche im selben S‑Bahnwagen seit Pots­da­mer Platz, seine Frau erwar­tete ihn am Bahn­steig. Sie küss­ten sich zärt­lich, freu­ten sich, sich wieder­zu­se­hen. Um solche Seelen­freu­den komme ich, ich kann nicht auf den S‑Bahnzug pünkt­lich sein.
Ich folge den Zärt­li­chen, die zur Wollank­straße hinun­ter­stei­gen, und laufe dann die Nord­bahn­straße zurück zu dem nörd­li­chen Bahn­hof­sein- und ‑ausgang; das ist gera­dezu eine S‑Bahn-Villa, schön reno­viert; es ist aber vor allem der Durch­gang, der das Berli­ner Herz erhebt: Heute führt er nur von Wedding nach Pankow, aber gerade dieses “nur” ist das Erhe­bende: Wo die Welten sich gegen­ein­an­der abschlos­sen, begeg­nen sich jetzt die Bezirke; indem wir das “nur” einfü­gen, äußem wir unse­ren klei­nen bürger­li­chen Triumph über die Welt­ge­schichte.
Der Platz, der sich an diesem Bezirks­durch­gang auf Weddin­ger Seite auftut, von Nord­bahn- und Stern­straße gebil­det, ist eine Berli­ner Sehens­wür­dig­keit. Das ehema­lige Restau­rant zur Nord­bahn ist zwar nur noch ein Name über dem geschlos­se­nen Tor, aber die präch­tige Eckbe­bau­ung erin­nert noch an die Glanz­zei­ten der Eckknei­pen. In der dunkeln­den Pracht­fas­sade erhal­ten sich die Einschuss­lö­cher vergan­ge­ner Schlach­ten.
Über Stem- und Gott­schalk­straße durch eine städ­ti­sche Wohn­zim­mer-Atmo­sphäre zurück zur Wollank­straße. Gegen­über gestat­tet die Martin-Luther-Gemeinde den Durch­gang zum Elisa­beth- und Sophien-Kirch­hof, eine viel­bän­kige “Erho­lungs­stätte”, Pfar­rer Zimmer­mann und Heid­run Brzenska unter­rich­ten auf einer Schau­ta­fel über die Haupt­da­ten der Stra­ßen­ge­schichte.

Die Kirchen-Gemeinde war grenz­über­schrei­tend; die von der Welt­ge­schichte verur­sachte Gemeinde-Tren­nung hat die Mauer aber wohl über­dau­ert; die Weddin­ger Luther-Gemeinde heißt Pankow West.
Den Fried­hof auf diesem Wege zu betre­ten, berei­tet mir an diesem späten Sommer­abend eine über­ra­schende Herz­er­grei­fung. Es ist ein schö­ner, nicht über­pfleg­ter Fried­hof. Er erstreckt sich weit nach Osten. Im Rücken der Häuser, die auf die typisch berli­ni­sche Fried­hofs­art dem Toten­acker die Höfe zuwen­den, ist man mit einem Mal in einem weiten Park land­schaft­li­cher Ruhe.
Natür­lich hört man das Auto-Hin-und-Her der beleb­ten Wollank­straße noch, aber es lärmt in einem emotio­na­len Außen­vor. Alte Frauen sitzen auf den Bänken in den schö­nen Alleen und lassen ihre Erin­ne­run­gen an sich vorüber­zie­hen. Arm in Arm kommt ein altes Ehepaar herein, sie blicken um sich, als betrach­te­ten sie ihren künf­ti­gen Ruhe­platz, spre­chen leise zuein­an­der und lächeln.
Ich gehe durch die Wollank­straße der Toten und suche mir einen Spruch, ein Zeichen, an dem ich die Gefühle fest­ma­chen kann, die mich über­wäl­ti­gen wollen.
Auf dem Grab­stein von Horst Pahl sehe ich ein Kreuz, Ähren und einen Volley­ball mit Schlä­ger, oder ist es ein Tennis­schlä­ger?
Der Grab­stein dane­ben zeigt zwei junge Liebende in knien­der Umar­mung, ein alter Mann hat ihn für seine alte Frau gesetzt mit dem schluch­zend schö­nen Rilke­vers: “Wie soll ich meine Seele halten / daß sie nicht an deine rührt? / Denn alles, was uns anrührt / dich und mich / nimmt uns zusam­men / wie ein Bogen­strich / der aus zwei Saiten / eine Stimme zieht”.
Der süße Engel am Marmor­kreuz von Pela­gia Fuchs und den Ihren ruft in mir Erin­ne­run­gen wach an den großen Graben­gel, den der Roman “Schau heim­wärts, Engel” im Namen führt; dieses Lite­ra­tur-Stück hat meine Jugend in einer gewis­sen Nach­kriegs­zeit erschüt­tert. Ich dachte es jeden­falls; viel­leicht war es aber nur die Puber­tät. Heute abend will ich anfan­gen, das zu über­prü­fen.

An dem über­kreuz­ten Haupt­ein­gang, durch den ich den Gefühl­spark verlasse, stehen zum Aussu­chen die Grab­stein-Modelle, ich könnte viel­leicht sagen: den dort dort­hin, und darauf ins Imper­fekt den Vers: “Die Schwal­ben strei­fen die Fluten…” Die Gast­stätte am Fried­hof gleich nebenan, nur ein paar Schritte, bietet sich an für unsere Feier, auch das Cafe Wollank gegen­über steht “zu jeder Feier­lich­keit zur Verfü­gung”.
Ich laufe durch den schma­len Vorstadt­park, der bis zu dem Rund­weg um den theo­re­ti­schen See, das Panke­be­cken, nächst der Kolo­nie Panke, und über einen Spiel­platz zurück um den Kirch­hof der Fran­zö­sisch Refor­mier­ten Gemeinde herum­führt und mir mehr­mals vorspie­gelt, dass es auch von hier einen Eingang in diesen Fried­hof gäbe.
Es gibt aber nur den Eingang von der Wollank­straße, Nr. 50. Gegen­über liegen hier auf der östli­chen Stra­ßen­seite die sog. Posa­dowsky-Häuser, nach einem Reichs-Innen­mi­nis­ter benannt; für den “Vater­län­di­schen Bauver­ein” Anfang des Jahr­hun­derts, vor WK 1, errich­tet von Carl und Walter Köppen, symme­trisch um drei Höfe, der äußere offen zur Straße, hinter hohem Schmie­de­zaun.
Der Weg zum Fried­hof wäre also recht­wink­lig zur großen Straße fast eine Verlän­ge­rung des Eingangs­wegs zu diesen Minis­ter­häu­sern, die sich vornehm abgit­tern.
Am Eingang des Fried­hofs der Huge­not­ten­kir­che stehen die kirchen­ge­setz­li­chen Vorschrif­ten über die Fried­hofs-Benut­zung, weni­ger ausschwei­fend als auf manch ande­rem Toten­gar­ten, aber: “Unbe­auf­sich­tigte Kinder stören den Frie­den”: kann diese Behaup­tung nicht über­prüft werden?
Norbert Elias hat uns doch darauf hinge­wie­sen, dass die Toten nicht lärm­emp­find­lich sind. Der Fried­hof reicht ziem­lich eng an die schma­len Vorgär­ten der Wollank­straße heran, eine Frau sprengt ihren Rasen, eine junge elegante Frau begärt­nert ein Grab, dessen Toter schon seit den 80er Jahren hier ist. Das wünsche ich mir, dass an meinem Grab einst auch eine junge Frau kniet, die meiner mit Freund­lich­keit gedenkt; ich stelle mir die schöne kluge Kolle­gin vor, mit der ich eben juris­ti­sche Probleme erör­tert habe, beim Abschied­neh­men regis­trierte sie die Wärme meiner Hand. Es ist sechs Uhr am Abend, Glocken schla­gen, letzte Sommer­sonne wärmt mich

Halt! Jetzt aber weg, unter die Leben­den! Die Glocken kamen von der Stepha­nus-Kirche, von ihrem kräf­tig nach oben ziehen­den Back­stein­turm.
Nun bin ich in der Straße, die nach den Prin­zen heißt, wie früher der ganze Stra­ßen­zug, der sich oben erst später zur Wollank­straße verbür­ger­licht hat. Vorüber an dem 20er-Jahre-Bau der still­ge­leg­ten Groter­jahn Malz­bier­braue­rei, Bruno Buch hieß der Archi­tekt.
Die Fabrik Osber Straße, über deren alte­ma­tive Geschichte ich lange Geschich­ten erzäh­len könnte, die nicht nur Erzäh­lun­gen von erfüll­ten Träu­men sind. An der Ecke zur Osloer Straße die expres­sio­nis­ti­sche Spitz­bo­gen-Fassade, die Hans Müller nicht für einen Seelen­tem­pel, sondern für die Bewag gebaut hat.
Und Nr. 74 ein Gebäude, an dem mein Herz hängt, weil hier die mit poli­ti­schem Anspruch so genannte Abtei­lung “Ausnahme und Regel” des Sozi­al­päd­ago­gi­schen Insti­tuts ihren Sitz hat; mit diesem europa-berühm­ten Unte­meh­men bin ich nun wer weiß wie lange inner­lich und recht­lich verbun­den, dass sie sich viel­leicht schon fragen: Was will der Alte denn noch…
Die Geschäfte schlie­ßen, der Abend senkt sich, ich steige an der Pank­straße hinab in die Bahn, die mich von der Prin­zen­al­lee zur Prin­zen­straße bringt, in deren Nähe ich jetzt diesen Text geschrie­ben habe.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: © A.Savin, Wiki­Com­mons

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