Mehr Mut zum Hochhaus

Hansaviertel

Früher mit ihren Miets­ka­ser­nen verpönt, erfreuen sich Grün­der­zeit­vier­tel heute großer Beliebt­heit. Was kann Berlin daraus für den moder­nen Städ­te­bau lernen?

Städte haben in Deutsch­land keinen guten Ruf. In Mittel­al­ter und begin­nen­der Neuzeit machte Stadt­luft noch frei, doch ab der Indus­tri­el­len Revo­lu­tion galten Städte als Horte von Schmutz, Elend und natür­lich der Entfrem­dung des Menschen von der Natur. Um den schlech­ten Ruf der Stadt aufzu­po­lie­ren, versuch­ten sich Stadt­pla­ner im 20. Jahr­hun­dert daran, den urba­nen Raum neu zu denken – losge­löst von der drecki­gen Vergan­gen­heit.

In dieser archi­tek­to­ni­schen Nach­kriegs­mo­derne zwischen Wieder­auf­bau und 80ern entstan­den neue Gebäu­de­for­men, futu­ris­tisch-grüne Stadt­vier­tel und neue, brei­tere Stra­ßen­züge. Die Quar­tiere der Grün­der­zeit, die zum Beispiel den Prenz­lauer Berg oder Fried­richs­hain prägen, galten als über­kom­mene Fossi­lien der Indus­tria­li­sie­rung. Statt­des­sen baute man lieber aufre­gende neue Quar­tiere wie das Hansa­vier­tel in den 1950er- und 60er- oder das Märki­sche Vier­tel in den 1970er-Jahren, die statt drecki­ger Luft der Indus­tria­li­sie­rung die frische Luft der Moderne atme­ten.

Blickt man auf die gegen­wär­ti­gen ökono­mi­schen und ökolo­gi­schen Heraus­for­de­run­gen, hat sich diese Abkehr von der tradi­tio­nel­len Quar­tier­pla­nung als Fehler heraus­ge­stellt. Denn Bedro­hun­gen der Gegen­wart wie der Klima­wan­del oder ökono­mi­sche Unge­rech­tig­kei­ten lassen die alten Grün­der­zeit­vier­tel in einem neuen, besse­ren Licht erschei­nen.

Ein Blick zurück

Archi­tek­ten, Stadt­pla­ner und Urba­nis­ten soll­ten, anders als ihre Vorgän­ger im 20. Jahr­hun­dert, nicht die archi­tek­to­ni­sche Vergan­gen­heit verach­ten, sondern einen Blick zurück wagen und erken­nen, wie sich die gehass­ten Kieze der indus­tri­el­len Grün­der­zeit zu Vorbil­dern für eine ökono­misch erfolg­rei­che und grüne Stadt gemau­sert haben.

Betrach­tet man die Miet­preise, gehö­ren in Berlin die mit viel Vorschuss­lor­bee­ren verse­he­nen Hoch­haus­quar­tiere der Nach­kriegs­mo­derne wie das Märki­sche Vier­tel im ehema­li­gen West-Berlin oder Marzahn im Osten zu den unbe­lieb­tes­ten Stadt­tei­len. Die tradi­tio­nel­len Grün­der­zeit­vier­tel in Prenz­lauer Berg, Fried­richs­hain oder Teilen von Mitte erfreuen sich hinge­gen stei­gen­der Beliebt­heit.

Das ist beson­ders über­ra­schend, wenn man die wech­sel­volle Geschichte der alten Quar­tiere betrach­tet: Zu Hoch­zei­ten der deut­schen Indus­tria­li­sie­rung wurden die Quar­tiere in hals­bre­che­ri­scher Geschwin­dig­keit für eine wach­sende Zahl an Arbei­tern in die Höhe gezo­gen. Es gab kaum Regu­lie­run­gen für die Dichte der Bebau­ung, geschweige denn für Sani­tär­an­la­gen. Menschen teil­ten sich in großer Zahl kleinste Wohnun­gen, Toilet­ten gab es höchs­tens auf dem Flur. Fast die Hälfte der Berli­ner lebte zu dieser Zeit in Wohnun­gen mit nur einem beheiz­ten Raum.

Kurzum: Die Arbei­ter­quar­tiere der Grün­der­zeit hatten einen schlech­ten Ruf – beson­ders unter den aufge­klär­ten, bürger­li­chen Stadt­pla­nern. Der abwer­tende Begriff „Miets­ka­serne“ für die Massen­be­hau­sung für die neue Arbei­ter­schicht Berlins stammt aus dieser Zeit. Werner Hege­mann, einer der bedeu­ten­den Stadt­pla­ner der Weima­rer Repu­blik, sprach mit gerümpf­ter Nase vom „stei­ner­nen Berlin“. Der schlechte Ruf folgte den Quar­tie­ren über den Krieg hinweg in die archi­tek­to­ni­sche Nach­kriegs­mo­derne: Im Westen galten sie als dreckige Molo­che der Arbei­ter­schaft und im Osten als das Ergeb­nis bour­geoi­ser Ausbeu­tung eines glück­li­cher­weise über­wun­de­nen bruta­len Lais­sez-faire-Kapi­ta­lis­mus.

In den Augen der moder­nen Archi­tek­ten und Stadt­pla­ner in Ost und West galt es, diese Vier­tel abzu­rei­ßen und die Stadt „groß­zü­gig“, „orga­nisch“ und „funk­tio­nell“ zu erneu­ern – wie es der einfluss­rei­che Archi­tekt und Stadt­pla­ner Hans Sharoun ausdrückte. Dem unheil­vol­len Geist der indus­tri­el­len Grün­der­zeit, zu Stein gewor­den in den Arbei­ter­sied­lun­gen Berlins, sollte es mit moder­ner Archi­tek­tur an den Kragen gehen: mehr Ordnung, Sauber­keit und Grün. Die Planer brachen die alte Archi­tek­tur um die Stra­ßen­flucht auf und warfen statt­des­sen Punkt­hoch­häu­ser und Wohn­schei­ben locker in die Land­schaft, wie zum Beispiel im Hansa­vier­tel im Westen Berlins.

Um Ordnung zu schaf­fen, trennte man streng zwischen Wohn- und Gewer­be­im­mo­bi­lien. Unter­bro­chen wurden die Mehr­fa­mi­li­en­häu­ser von großen Frei­flä­chen. Diese waren häufig grün, aber auch grau. Denn das moderne Quar­tier sollte zum aufkom­men­den Auto­zeit­al­ter passen: keine alten, engen und verwin­kel­ten Kiez­gas­sen mehr, sondern breite Auto­bou­le­vards waren nun das Maß aller urba­nen Dinge. Während die moder­nen Archi­tek­tur­kom­mis­sare über­zeugt waren, dass ihre Pläne einer Stadt der Zukunft das „stei­nerne Berlin“ über­win­den würden, strö­men die Städ­ter heute in die verteu­fel­ten Kaser­nen. Stadt­pla­ner begin­nen, sehn­süch­tig in die archi­tek­to­ni­sche Kaiser­zeit zurück­zu­bli­cken. Woran liegt das?

Antwor­ten finden sich in der Volks­wirt­schafts­lehre und der Umwelt­wis­sen­schaft. Ökono­men wie der Harvard-Profes­sor Ed Glae­ser beto­nen die soge­nann­ten Agglo­me­ra­ti­ons­ef­fekte einer dicht besie­del­ten Stadt: Die Dichte der „Miets­ka­ser­nen“ ermög­licht es vielen Menschen, in unmit­tel­ba­rer Nähe zuein­an­der zu leben. Viele Menschen auf gerin­gem Raum bedeu­te­ten einen größe­ren loka­len Markt für verschie­denste Güter und Dienst­leis­tun­gen. In den dich­ten Teilen vom Prenz­lauer Berg findet sich alles, was das urbane Herz begehrt: Hips­ter-Cafés, Arbei­ter­knei­pen, Konz­erträume für Punk­bands, Start-up-Büros und eine schier uner­mess­li­che Zahl von Gastro­no­mien aus den ferns­ten Ländern.

Die tradi­tio­nel­len Grün­der­zeit­quar­tiere sind lebens­wert, weil sie Konsu­men­ten und Produ­zen­ten in physi­sche Nähe zuein­an­der bringt. Das Gegen­teil ist der Fall in der aufge­lo­cker­ten und grünen Stadt der archi­tek­to­ni­schen Moderne: Riesige Grün­flä­chen und auto­bahn­ähn­li­che Stra­ßen erhö­hen die Distan­zen zwischen den Menschen. Zur nächs­ten Kneipe dauert es auf einmal nicht fünf, sondern 15 Minu­ten. Dazu kommt die funk­tio­nale Tren­nung von Wohnen und Arbeit. Sind in den Grün­der­zeit­vier­tel die Erdge­schosse von portu­gie­si­schen Bäckern, Schuh­ma­chern und Bücher­lä­den bevöl­kert, blicken einen in den moder­nen Quar­tie­ren tote Wohnungs­fens­ter an, weil die Gewerbe in zentra­len Laden­zei­len zusam­men­ge­fasst werden.

Dies schwächt die ökono­mi­schen Agglo­me­ra­ti­ons­ef­fekte und macht ein Quar­tier weni­ger lebens­wert. Die dicht besie­del­ten Vier­tel der Grün­der­zeit bekom­men jedoch nicht nur Unter­stüt­zung von der Ökono­mik, sondern auch von den Umwelt­wis­sen­schaf­ten, weil sie einen wich­ti­gen Beitrag im Kampf gegen den Klima­wan­del leis­ten. Denn sie machen öffent­li­chen Nahver­kehr attrak­tiv und Auto­fah­ren unat­trak­tiv. Je mehr Menschen auf begrenz­tem Raum leben, desto mehr macht es Sinn mit Bus oder Bahn zu fahren und diese auch auszu­bauen, weil man in weni­gen Halte­stel­len Hunderte von Wohnun­gen und Tausende von Menschen abklap­pern kann.

So machen die verwin­kel­ten Gassen des Prenz­lauer Bergs ökolo­gi­sches Bahn­fah­ren und die weit ausein­an­der liegen­den Gebäude des Hansa­vier­tels das dreckige Auto attrak­ti­ver. Zudem erlaubt die hohe Bevöl­ke­rungs­dichte in den tradi­tio­nel­len Vier­teln eine Reduk­tion der CO2-Emis­sio­nen, die beim Wohnen entste­hen. Viele Menschen in weni­gen Mehr­fa­mi­li­en­häu­sern verbrau­chen pro Kopf sehr viel weni­ger als alter­na­tive Wohn­kon­zepte wie Einfa­mi­li­en­häu­ser oder Doppel­haus­hälf­ten.

So zeigen Studien aus den USA, dass eine Verdop­pe­lung der Bevöl­ke­rungs­dichte die Trans­portemis­sio­nen um 48 Prozent und Wohne­mis­sio­nen um ca. 35 Prozent senken können. Trotz der vielen Hoch­häu­ser in den Vier­teln der Nach­kriegs­mo­derne gelingt es den Grün­der­zeit­vier­teln, eine noch deut­lich höhere Bevöl­ke­rungs­dichte zu erzie­len, weil es weni­ger große Grün- und Stra­ßen- und mehr Wohn­flä­che gibt. Das Argu­ment für die Quar­tiere der Grün­der­zeit darf jedoch nicht mit einer konser­va­ti­ven Pickel­hau­ben-Roman­tik verwech­selt werden. Auch diese Quar­tiere brau­chen zukunfts­ori­en­tierte Entwick­lung.

Moderne Hoch­häu­ser in den am dich­tes­ten besie­del­ten Teilen Berlins wären eine logi­sche Weiter­ent­wick­lung der tradi­tio­nel­len Stadt. Hoch­häu­ser erlau­ben noch höhere Bevöl­ke­rungs­kon­zen­tra­tio­nen als die ohne­hin dicht besie­del­ten tradi­tio­nel­len Kieze und verstär­ken so die posi­ti­ven ökono­mi­schen und ökolo­gi­schen Agglo­me­ra­ti­ons­ef­fekte. Um diese Effekte zu erzie­len, müssen Hoch­häu­ser aber in den tradi­tio­nel­len Grün­der­zeit­vier­teln loka­li­siert sein und nicht weitab am Stadt­rand.

Lösung mit urba­nen Mitteln

Bis heute sorgen sich viele Deut­sche vor Hoch­häu­sern, weil sie sie mit ghet­toi­sier­ten Hoch­haus­sied­lun­gen am Stadt­rand asso­zi­ie­ren. Baute man aus Sorge, die Innen­städte zu verschan­deln, Hoch­häu­ser in der Vergan­gen­heit nicht in die tradi­tio­nel­len Stadt­zen­tren, braucht es heute den Mut, die Grün­der­zeit­vier­tel nach oben weiter­zu­ent­wi­ckeln, um ihre ökolo­gi­schen und ökono­mi­schen Vorteile weiter zu entfal­ten.

Archi­tek­ten und Stadt­pla­ner haben in der Vergan­gen­heit immer wieder versucht, Städte am Reiß­brett neu zu entwer­fen. Tech­no­lo­gi­sche und gesell­schaft­li­che Verän­de­run­gen, so hieß es immer wieder, mach­ten auch eine neue Stadt erfor­der­lich. Und in der Tat hat sich eini­ges seit der Grün­der­zeit verän­dert: Tele­fo­nie, Moto­ri­sie­rung, Demo­kra­tie, Fern­se­hen, Raum­fahrt und das Inter­net.

Die belieb­tes­ten Quar­tiere hinge­gen blei­ben die tradi­tio­nel­len Vier­tel der Grün­der­zeit. Nicht die – zuge­be­ner­ma­ßen oft wunder­schöne – moderne Archi­tek­tur macht Städte lebens­wert, sondern die konzen­trier­ten, durch­misch­ten Kieze von einst, die ökono­mi­sche und ökolo­gi­sche Vorteile bieten. Ein Lob der tradi­tio­nel­len Archi­tek­tur ist jedoch kein Aufruf zum urba­nen Rück­wärts­gang. Statt­des­sen ist es ein Aufruf, regel­mä­ßig den Blick zurück in die urbane Vergan­gen­heit zu werfen, wenn wir uns aufma­chen, soziale und ökolo­gi­sche Heraus­for­de­run­gen mit urba­nen Mitteln zu lösen.

Justus Enninga
Der Autor ist Senior Fellow Rese­arch bei Prome­theus – Das Frei­heits­in­sti­tut in Berlin.
Er promo­viert in London und New York zu Fragen der grünen poli­ti­schen Ökono­mie.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Berli­ner Zeitung.

Foto: Molgreen (CC BY-SA 4.0)

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