Die Flucht auf den Kreuzberg

Jede große Zeiten­wende, die nicht nur den einzel­nen, sondern ganze Völker vor die Wahl eines klaren, entschei­den­den Für oder Wider stellt, bringt es wohl mit sich, dass sich in ihrem Gefolge auch eine nicht geringe Anzahl uner­freu­li­cher Elemente breit­macht, Wahr­sa­ger, Hell­se­her und Stern­deu­ter, Leute, die gewohnt sind, im Trüben zu fischen, und die beson­ders bei den ewig Schwan­ken­den, Unent­schlos­se­nen immer wieder ein weites und meist auch recht ergie­bi­ges Betä­ti­gungs­feld finden.
So war es auch, als vor eini­gen hundert Jahren der Witten­ber­ger Mönch Martin Luther die Flamme der Refor­ma­tion entfachte. Die einen, beson­ders die Jungen, folg­ten in hellen Scha­ren der neuen Lehre. Die Alten dage­gen sahen fassungs­los die schon von Ahn und Urahn über­nom­me­nen Lebens­for­men zusam­men­stür­zen. Nur zu gern also liehen sie in ihrer Verzweif­lung jenen Einflüs­te­run­gen ihr Ohr, die ihnen zu bewei­sen such­ten, dass damit das Ende aller Dinge gekom­men sei. Und ein gewis­ser Johann Carion, der als Stern­deu­ter am kurfürst­li­chen Hofe in Berlin eine nicht unbe­deu­tende Rolle spielte, hatte sogar mit Fleiß ausge­rech­net, dass die ganze Welt in einer großen Sint­flut am 15. Juli 1525 unter­ge­hen würde.

Man hätte nun meinen sollen, dass der von der Rich­tig­keit dieser Prophe­zei­ung durch­aus über­zeugte Kurfürst sich zuerst darum sorgen müsste, sein Volk nach Möglich­keit vor einer solchen Kata­stro­phe zu bewah­ren. Aber dieser edle Fürst hatte nur den einen Wunsch, zu aller­erst sich selbst und die Seinen so in Sicher­heit zu brin­gen, dass sie diese Sint­flut heil an Leib und Leben über­stan­den. Aus diesem Grunde ließ er auch den von Johann Carion berech­ne­ten Welt­un­ter­gangs­ter­min streng geheim halten. Was aller­dings zur Folge hatte, dass der so sehr auf sein persön­li­ches Wohl bedachte Herr­scher später von aller Welt weid­lich ausge­lacht wurde.

Der in banger Furcht erwar­tete Tag des Welt­un­ter­gangs zeigte sich zunächst als ein ziem­lich warmer Juli­tag, der sich durch­aus nicht von ande­ren Sommer­ta­gen unter­schied. Meis­ter Carion fürch­tete vermut­lich schon, er könne sich mit der bevor­ste­hen­den Sint­flut doch ein wenig verrech­net haben. Aber zu seiner Genug­tu­ung zog dann plötz­lich am Hori­zont eine schwarze Gewit­ter­wand auf, und damit war es allen im Schloss klar, dass es nun wirk­lich Ernst wurde mit dem voraus­ge­sag­ten Welt­un­ter­gang.

Nun ging es los. Verwun­dert sahen die ahnungs­lo­sen Berli­ner ihren Kurfürs­ten mit seinem ganzen Hofstaat, mit Lakaien und Traban­ten, Köchen und Küchen­jun­gen, mit Pfer­den und Hunden, hoch­be­pack­ten Wagen voller Kisten und Kästen in wilder Flucht durch die Stra­ßen jagen. Es ging den Tempel­ho­fer Höhen entge­gen. Denn deren höchs­ten Punkt, den Kreuz­berg, der damals noch der “runde Wein­berg” hieß, hatte sich die erlauchte Gesell­schaft als Zufluchts­ort erko­ren. Nach­dem sich die Flüch­ti­gen mit ihrer Habe auf dem Gipfel des Berges versam­melt hatten, wurden alle Zugänge von der Stadt her abge­sperrt. Die aller­höchs­ten Herr­schaf­ten waren also ganz unter sich und konn­ten nun in Ruhe dem weite­ren Verlauf der erwar­te­ten Sint­flut entge­gen­se­hen. Was aus dem Volk da unten wurde, lag ihnen dabei nicht sonder­lich am Herzen.

Aber das am Hori­zont herauf­zie­hende Gewit­ter erwies sich als recht harm­los. Und als der Tag zu Ende ging und die Welt noch immer nicht unter­ge­gan­gen war, blieb dem kurfürst­li­chen Hasen­fuß nichts übrig, als mit angst­schlot­tern­den Knien sang- und klang­los wieder in das Schloss an der Spree zurück­zu­keh­ren.

Inzwi­schen hatte sich die Sache natür­lich in Berlin herum­ge­spro­chen. Es waren also nicht gerade sehr freund­li­che Mienen, die der Kurfürst auf dem Rück­weg durch die Stadt zu sehen bekam. Von den meis­ten “Unter­ta­nen” wurde er ob seiner Feig­heit einfach ausge­lacht.
Doch die von ihrer unrühm­li­chen Flucht zurück­ge­kehrte Gesell­schaft war gerade vor dem Schloss ange­langt, als sich das schon abflau­ende Gewit­ter noch einmal mit aller Macht zusam­men­zog. Sollte Meis­ter Carion mit seiner Prophe­zei­ung doch noch Recht behal­ten? In dich­ter Folge entlu­den sich Blitz und Donner mit einer bis dahin nicht beob­ach­te­ten Heftig­keit. Vier Pferde blie­ben vom Blitz erschla­gen tot am Platze liegen. Den Kurfürs­ten selbst aber musste man ins Schloss tragen. Er war vor Schreck ohnmäch­tig gewor­den.

Was aus Johann Carion und seinen falschen Prophe­zei­un­gen gewor­den ist, wissen wir nicht. Der Chro­nist meldet nur, dass Carion auch den Tag der öffent­li­chen Verbren­nung Martin Luthers vorher­sagte, doch auch dieser Irrtum soll ihm nicht sonder­lich gescha­det haben. Aber dass die Berli­ner noch oft und sicher auch sehr herz­lich über die feige Flucht ihres sonst so stol­zen Landes­her­ren gelacht haben, steht wohl außer allem Zwei­fel.
Diese Geschichte ist keine Sage. Auch wenn man die sonst übli­che Gedenk­ta­fel vergeb­lich auf dem Kreuz­berg sucht.

Ernst Grau

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