Ossietzkys letzte Wege

Es ist der 5. Mai, ein sonni­ger Montag. Ossietzky steht in der Ossietz­ky­straße. Auf einer Wiese. Gegen­über der Wirt vom Hey Chauk Lai fegt den rosa Traum der japa­ni­schen Kirsche vom Bürger­steig.
Hinter Ossietzky blüht es rot, neben ihm eine Kasta­nie, zu seinen Füßen liegt ein Strauß roter Nelken. Gestern war sein 59. Todes­tag. Ossietzky ist aus Erz. Klein, lebens­groß, in die Erde gezo­gen vom Gewicht seines Mantels; er scheint zu frie­ren. Es bläst von vorn, so dass er sich gegen den Wind neigen muss, manche Falten des Mantels spre­chen dage­gen dafür, dass es von hinten weht, von rück­wärts, als ob er vorwärts getrie­ben würde; er blickt zur Erde, es fiel ihm schwer, heißt es, jeman­den in die Augen zu blicken. Steht er im Wasser, in Wellen, im grünen Fluss? Auf beweg­tem Gelände. Eine ältere Frau lehnt oben im Balkon und sieht aufmerk­sam herun­ter, während ich versu­che, Ossietzky spre­chen zu lassen. “Von mir ist weiter nichts zu sagen”.
Zuvor hieß diese Straße Schloss­straße. Und nun führt sie tatsäch­lich an dem Schloss vorbei, welches die Straße mit seinen Wach­häu­sern auf der einen und auf der ande­ren Seite abbricht und teilt. “Wir bitten zur Vermei­dung von Unfäl­len nur die frei­ge­ge­be­nen Wege zu benut­zen”; in der nach dem frei denken­den Jour­na­lis­ten benann­ten Straße ist das ein Spruch mit Unter- und Hinter­sinn.

Der private Wach­mann lehnt neben der Schloss­bar­riere, als träumte er vergan­ge­nen staat­li­chen Wach­zei­ten nach. Ich gehe ein Stück um das Schloss herum, blicke in Lennés Land­schaft. Sie liegt in der Sonne wie ein buntes Tuch über deut­scher Geschichte, ich will es nicht aufhe­ben. Der Ausgang — oder wenn man von der ande­ren Seite käme, der Eingang — ist viel weni­ger gepflegt, eher ein Lager­tor. “Geld- und Wert­trans­port GmbH. Zugang für Unbe­fugte verbo­ten”, aber niemand mehr da, die Gara­gen stehen leer, es kommen keine Staats­gäste und keine Geld­trans­porte.
An diesem ande­ren Ende heißt die Ossietz­ky­straße schon Dietz­gen­straße. Ich denke an meinen Vater. Er hat über die “48er” ein Buch geschrie­ben. Zu ihnen gehörte auch Dietz­gen, der in USA, Chicago, gestor­ben ist. Sein Haupt­werk heißt “Das Wesen der mensch­li­chen Kopf­ar­beit”. Das passt. Passt auch zu Ossietzky, dessen Platz nun kommt. Inmit­ten der Frie­dens­kir­che. Mit ihrem Pfarr­haus hinter ihrem Gitter­zaun hat sie etwas Priva­tes, Insel­haf­tes.
Ich über­lege mir, während ich durch die Wacken­berg­straße gehe, was Ossietzky wohl zum Wacken­berg gesagt hätte. 1935, als auf dem Wacken­berg Kund­ge­bun­gen statt­fan­den für die “Rück­kehr des Saar­lan­des ins Reich”, war Ossietzky, fest­ge­nom­men seit dem 28. Februar 1933, im Konzen­tra­ti­ons­la­ger Ester­we­gen im Emsland; gequält, gefol­tert, er kommen­tierte nichts mehr. 1935, das Saar­lands­jahr, an das diese Straße mit ihrem Nazi-Namen erin­nert, ist das Jahr, in dem Tuchol­sky starb.

Was hätte er gesagt, stelle ich mir vor, während ich am schö­nen Hertha­platz, Buch­hol­zer Straße, in den Fried­hof einbiege, in dessen südlich-östli­che Mauer Ossietz­kys Asche einge­mau­ert wurde am 14. Mai 1938. Tuchol­sky redend an dieser Stelle, nein, das kann man sich nicht vorstel­len. Das Bild, das von Tuchol­sky bleibt, ist das Bild eines schwei­gen­den Herrn: Spre­chen, Schrei­ben, Schwei­gen: eine Treppe.
Es ist 59 Jahre her, dass Ossietzky hier, an diesem klei­nen Mäuer­chen, diese Treppe erstie­gen hatte. Keine Reden am Grabe, die Gestapo in Beob­ach­tungs­stel­lung, Grab­platte verbo­ten, die kam mit ihrer golde­nen Schrift erst später, sie nennt die Daten und: “Frie­den für immer”, die Vergiss­mein­nicht frisch gegos­sen, eine grün­li­che Plas­tik­vase, die säuber­lich beschrie­ben ist: “Grab Carl von Ossietzky”, eine Tulpe und ein paar vertrock­nete Ichweiß­nicht­was.
Nebenan ruhen Schar­nitz­kys, von ihnen kommen dunkel­grüne Gewächse herüber, hinter der nied­ri­gen Mauer ein verwil­der­ter Garten. Ich lese leise die zwei Sätze Tuchol­skys vor, die ich für diese Gele­gen­heit mitge­bracht habe, die junge Frau, die ein Mauer­stück weiter eine alte Grab­stätte pflegt, hört es nicht, ich spre­che leise, sonst geniere ich mich: “Es ist mir unmög­lich, einem so unpa­the­ti­schen und stil­len Kame­ra­den wie meinem Freunde Ossietzky markige Abschieds­worte zuzu­ru­fen, wir sind keine Vereins­vor­sit­zen­den … Leer is die Wohnung. Trauer, die macht dumm / Denn kram se so in seine Sachen rum … Denn lebst du wieda wie nach Noten! / Keener wandert schnel­ler wie die Toten.”

Ich wandere die lange Waldow­straße aufwärts, links ab in die Schil­ler­straße, am Stra­ßen­bahn­de­pot vorbei, ein Baudenk­mal; Nordend, wo die GSW eine Stadt baut, für die sie verspricht: gut und sicher wohnen. Sicher wohnen — keine Angst haben, dass man raus­ge­schmis­sen wird.
Ossietzky kannte diese Angst sein bürger­li­ches Leben lang, meist lebte er in möblier­ten Zimmern. Auch das Zimmer bei Dr. Dosquet können wir ein möblier­tes Zimmer nennen. In der Mittel­straße 6–8. Da stehe ich jetzt, inmit­ten des Stra­ßen­drei­ecks Kasta­ni­en­al­lee, Blan­ken­fel­der Straße, Schön­hau­ser Straße. Eine Privat­kli­nik betrieb Wilhelm Dosquet hier, Frei­luft­be­hand­lung war seine Spezia­li­tät.
Am 23. Novem­ber 1936 wird Ossietzky, der krank an offe­ner Tuber­ku­lose im Poli­zei­kran­ken­haus liegt, das galt schon als Gnade, der Frie­dens­no­bel­preis für 1935 verlie­hen. Göring verspricht ihm eine Lebens­rente, wenn er ablehnt. Ossietzky bleibt unbe­stech­lich, auch um das eigene Leben ließ er sich nicht erwei­chen, die Nazis waren wütend. Ossietzky durfte nicht ausrei­sen, um den Preis entge­gen zu nehmen; der norwe­gi­sche König kam nicht zu der Preis­ver­lei­hung, der Rechts­an­walt, den Ossietzky schickte für das Nobel­geld, unter­schlug, kaufte sich davon die Eden-Licht­spiele in Char­lot­ten­burg.

Seit dem 14. Dezem­ber 1936 gibt Dr. Disquet Ossietzky ein Dach überm Kopf und Pflege: “Ich glaubte zunächst, einen guten Arzt gefun­den zu haben … und statt dessen habe ich einen sorgen­den Freund gefun­den, dessen gütige Mensch­lich­keit sich zwischen mich und die Krise stellt”. Manch­mal ging Ossietzky hinüber in die Birken­al­lee, wo Disquets in Nr. 6 wohn­ten.
Ich gehe diesen Weg jetzt auch, Ossietzky letz­ten Weg, an dem nied­ri­gen Haus vorbei, das zur Kasta­ni­en­al­lee das Halb­rund abschließt, mit dem die Birken­al­lee beginnt. Die letz­ten Bilder zeigen Ossietzky, wie er hier, Birken­al­lee 6, am Kaffee­tisch sitzt mit Wilhelm Disquets Schwie­ger­toch­ter, die den Kuchen auflegt und raucht. Ossietzky wird von star­ker Lampe beleuch­tet.
Wilhelm Disquet, der Arzt, Jude, starb vor Ossietzky, im Februar 1938, recht­zei­tig sagt man, wenn man die deut­sche Geschichte kennt. 1943 fielen Bomben auf das Haus. Es steht erneu­ert da. Die Bäume im Park sind die alten.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Bundes­ar­chiv, Bild 183‑1987-0415–300 / CC-BY-SA 3.0

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