Forsythien am Wedding

“Er bog in die kleine Straße. Die ärmli­chen Läden waren schon geschlos­sen. Nur aus den Knei­pen fielen trübe Licht­strei­fen auf die menschen­leere Straße. Hinter den Fens­tern der hohen, dunk­len Häuser­rei­hen brannte hier und da das ärmli­che Licht von Petro­le­um­lam­pen … In den engen Stuben umspülte die stickige Luft die Gesich­ter der Schla­fen­den. Der Geruch der Menschen drang durch Wände, Spal­ten, Verschläge. Mieter, Unter­mie­ter, Schlaf­bur­schen, Kinder, von denen kaum eins im eige­nen Bett schla­fen konnte. Die kinder­reichste und kinder­elendste Straße des großen, hungern­den Berlins… !”
Das ist die Kösli­ner Straße. Das ist sie nicht. Die Kösli­ner Straße ist das Gegen­teil der Kösli­ner Straße. Ich komme an diesem März-Montag, an dem noch Schnee fiel, vom Leopold­platz. Beim Karstadt bin ich aus der Unter­welt empor gestie­gen, fast direkt in den “Oster­markt auf der Akti­ons­flä­che”. Oster­ha­sen aller Größen, Oster­läm­mer aus Stoff, Blumen aus Kunst­stoff, Forsy­thien aus Plas­tik, Oster­eier aus Holz und aus Scho­ko­lade…

Die italie­ni­sche Eisdiele in dem zwei­ach­si­gen Haus Müllerstraße 156 d unter dem Jugend­stil-Imita­ten ist noch geschlos­sen. Gegen­über biege ich in die Anton­straße — Name ohne histo­ri­schen Bezug, wie später die Maxstraße — Name auch ohne histo­ri­schen Bezug, also die Straße für viele Männer, für jeden Anton, Toni, Andi, Maxi­mi­lian, Max und Maxe, Mark, demo­kra­tisch.
Die Plan­ta­gen­straße beginnt neben dem Häus­chen des Fried­hofs­ver­wal­ters an der Ruhe­platz­straße; es sieht aus wie Goethes Garten­haus, das der Bauhis­to­ri­ker Johann Geist den Proto­typ des deut­schen Einzel­hau­ses nennt und den Ursprung des bürger­li­chen Seelen­ster­bens, in einem Haus zu wohnen, um das man herum gehen kann.
Solche Häuser bekam hier niemand, viele beka­men einen Ruhe­platz für sich allein erst, wenn die amtli­chen Ruhe­plätze, nach denen die Straße hier seit 1828 heißt, für sie zustän­dig wurden.
Der Schorn­stein des Krema­to­ri­ums ragt hervor wie das Ausru­fe­zei­chen hinter einem bedeu­ten­den Satz. Bedenke: Feuer, Asche, Rauch! “Werte erhal­ten, mit Farbe gestal­ten” wirbt ein Maler­meis­ter.
Die Plan­ta­gen­straße heißt nach der Baum­schule, die ein Gast­wirt mit dem roman­ti­schen Namen Corsica hier betreibt, als in Frank­reich die fran­zö­si­sche Revo­lu­tion statt­fand. Die Straße ist ein Schmuck­stück, sie führt von einem schmu­cken Platz zu einem ande­ren; an der Prinz-Eugen-Straße restau­riert Zukunfts­bauen e.V. das Eckhaus; es führt eine Blau­man­tel­ma­donna an der Stirn wie die Barkasse des Prin­zen die Galli­ons­fi­gur.
Hätte es den savoy­ar­di­schen Prinz nicht gege­ben, las ich jüngst, und seine Siege, den bei Malplaquet zum Beispiel, dann wäre Europa heute isla­misch, mosle­misch, Osma­nen hätten bei Wien nicht Halt gemacht; nein, sagt ein ande­rer, das waren die Perser, die die Osma­ni­schen von der orien­ta­li­schen Seite so beschäf­tigt haben, dass das Chris­ten­tum in Mittel­eu­ropa über­lebte. Hat es über­lebt? Und warum hat es über­le­ben sollen? Am Bauwa­gen: “Deut­sche Waffen, deut­sches Geld morgen auf der ganzen Welt.” Plötz­lich wirkt der rote Sonnen­schirm auf einem Balkon wie eine rote Fahne.
Über die Reini­cken­dor­fer Straße in die Wedding­straße. Der Instal­la­teur- “Meis­ter­be­trieb seit 1903” muss also schon hier gewe­sen sein in der Zeit, die ich hier suche. Und nicht finden werde.

1. Mai 1929: “An den 23 Vorder­häu­sern der Kösli­ner Straße 80 rote Fahnen. Die Arbei­ter sahen, dass die Straße, die keine Neben­straße hat und auch über die Höfe hinweg nur geringe Ausweich­mög­lich­kei­ten bietet, eine gefähr­li­che Mause­falle wäre, in die sie von der Poli­zei hinein­ge­trie­ben wurden, um schutz­los vor den Mündun­gen der Poli­zei­pis­to­len zu stehen.
Genos­sen — ich sage, die Poli­zei darf nicht mehr in die Gasse … Drau­ßen liegen Bauma­te­ria­lien — wir müssen damit sofort ein Hinder­nis quer über die Straße legen…”
Dann ging es los. Salve auf Salve krachte … pfei­fend klatsch­ten die Blei­ku­geln der Poli­zei gegen die Häuser, von denen der Putz rasselnd nach unten fiel…
“Schießt doch … schießt, … mordet, tötet. Was wollt ihr eigent­lich töten? Könnt ihr unsere Elends­woh­nun­gen totschlie­ßen … unse­ren Hunger … unsere Krank­heit … unsere Arbeits­lo­sig­keit? Ihr Arbei­ter­mör­der! Es lebe, es lebe, was ihr nie totschie­ßen könnt: Es lebe der Sieg der Welt­re­vo­lu­tion.” Die Gesich­ter der Poli­zis­ten wurden blass…

In der Kösli­ner Straße (und am Hermann­platz in Neukölln), hatten die Ereig­nisse ihren Höhe­punkt, die manche den “Blut­mai 1929” nennen, nann­ten. Viele tote Arbei­ter, 25, 26, mehr. Der Poli­zei­prä­si­dent hieß Zörgie­bel, ein SPD-Mann. Die publi­zis­tisch-poli­ti­schen Angriffe gegen ihn kamen von links und von rechts. Die Roten nann­ten ihn einen Verrä­ter der Arbei­ter­klasse, die Rech­ten warfen ihm vor, nicht ener­gisch genug gegen die Kommu­nis­ten vorge­gan­gen zu sein. Sag mir, welche Gegner du hast, und ich werde dir sagen, wer du bist.
Nein, nein, so einfach ist das nicht. Die Repu­blik, in der Zörgie­bel Poli­zei­prä­si­dent war, ist hin, die Welt­re­vo­lu­tion, für die in der Kösli­ner Straße so viele rote Fahnen wehten, ist auch hin. Aber sie ist auch noch da. Die Zeiten, die dazwi­schen liegen, haben sich ihr Opfer millio­nen­fach unter denen geholt, die in den Kösli­ner Stra­ßen der Welt wohn­ten.
Ich gehe an dem Haus Nummer 6 entlang, von der Kösli­ner Straße zu dem Spazier­weg in ihrem Rücken an der Panke, in den Balkon­gar­ten auf der klei­nen Wiese ein bunter Oster­baum, das Grün bricht aus den Zwei­gen, die Forsy­thien blühen. Wenn jetzt einer käme, der die “histo­ri­schen Fassa­den” Berlins so liebt und sagt: Beson­ders schön sind diese Nach­kriegs-Häuser aber nicht, dann würde ich viel­leicht sagen: Lies doch mal den Roman “Barri­ka­den am Wedding”. Klaus Neukranz hieß der Verfas­ser, kein Dich­ter, ein Jour­na­list. Von den Nazis bis ins KZ verfolgt, im Irren­haus gestor­ben.

Ich gehe durch die Sche­rer­straße, die nach einem Lite­ra­tur­pro­fes­sor heißt, der Neukranz gewiss nicht zur deut­schen Lite­ra­tur gezählt hätte, durch die Maxstraße, über den schö­nen Platz hinter der Naza­reth­kir­che in die Utrech­ter Straße. Der Buch­händ­ler Macken­sen hat dort seinen Laden. Er hat den Roman aus dem Jahre 1931 neu aufge­legt, aus dem ich in diesem Text zitiert habe.
Durch die Turi­ner Straße zurück zur Müllerstraße, noch über den Fried­hof. “Blühe, Deutsch­land, überm Grabe mein,/ jung, stark und schön als Helden­hain” — das haben sie hier ange­schrie­ben noch vor dem Mai 1929 und bevor das zweite große Völker­mor­den kam, das wieder von den Kanzeln und Kathe­dern einge­lei­tet wurde: “Deutsch­land muss leben, wenn wir auch ster­ben müssen”.
Können wir sicher sein, dass solche Sprü­che nicht wieder aufer­ste­hen werden von den Stelen, die das Grün­flä­chen­amt hier pflegt? Viel­leicht ist das kein Fried­hof. Sondern ein Geschichts­mu­seum. Wie die Kösli­ner Straße, der man nichts ansieht von Geschichte. Die Gegen­wart ist die Geschichte, die Story, die Erzäh­lung. Hinter blauen Plas­tik­pla­nen wird gewal­tig gebaut.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

Bundes­ar­chiv, B 145 Bild-P046278 / Wein­ro­ther, Carl / CC-BY-SA

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