Von Wedding nach PrenzlBerg und zurück – I.

Dieser Spaziergang wird über alle Straßenverbindungen zwischen Wedding und PrenzlBerg führen. Er hat viel länger gedauert, als ich auf dem Stadtplan dachte. Viereinhalb Stunden.
Wenn man sagte: Zwischen der Bösebrücke und der Bernauer Straße schlägt das Herz Berlins – falsch wäre das bestimmt nicht. Nicht der Hauptstadt Berlin. Aber die Hauptstadt Berlin ist auch in der Zeit nicht Berlin gewesen, als sie sogar Reichshauptstadt war und das Reich eine Weltmacht. Die Hauptstadt ist dort unten, hier oben ist Wedding.
Der französische Literaturnobelpreisträger Martin du Gard sagte in den 30-er Jahren nach einem Empfang im Auswärtigen Amt: „Hier ist Berlin nicht. Berlin ist auf den Straßen“, seitdem nahm er an keinem Hauptstadtempfang mehr teil, sondern wanderte durch die Straßen, vor allem durch die Straßen im Norden, „wo so viele selbstbewusste junge Frauen sind“.
Als ich mich an dieses Zitat erinnere, sitze ich in der S1. Das Ereignis in der S-Bahn sind aber nicht junge Frauen, sondern ein junges Kätzchen, das in den Armen eines Mannes bitterlich weint und sich nicht beruhigen will, so heftig es sein neuer Vorgesetzter streichelt.

Ich steige Bornholmer Straße aus, hinauf zur Bösebrücke, die vor Jahren zur Weltgeschichte gehörte. Ich zittere immer noch ein bisschen, wenn ich auch nur den Namen höre. Grenze, Grenzübergang, Weltenende, enges Mauerloch. Heranfahren, umdrehen in dem eingemauerten Straßenrondell, das die Straße an ihrem westlichen Ende ließ wie ein Schlüsselloch. Soll man die Erinnerungen pflegen oder vergessen?
Die Ballustraden und die weiten Treppen, die die Brücke östlich und westlich ein- und ausleiten, sind auf der Weddinger Seite nach unten mit Drahtzäunen zugesperrt. Ein Abfallplatz für Blechdosen. Die Blechdosen- und die Spraydosenhersteller… von denen müsste man doch wenigstens eine kommunale Abgabe verlangen.
Ohne Ampel käme ich hier kaum auf die andere Seite. Die Ampel ist ein Wiedervereinigungserzeugnis. Wo das städtische Leben erstarrte, pulsiert es jetzt besonders kräftig. Die Straßenbahn ist über diese Brücke wieder nach Wedding gekommen. Ich kann mich noch gut an die Zeit erinnern, als in Westberlin das Weg-mit-der-Straßenbahn zur verkehrspolitischen Correctness gehörte.
Die Bösebrücke fängt von der Weddinger wie von der Prenzlberger Seite die Straße ein wie eine Öse die Schuhbänder. Auf der Seite von PrenzlBerg führen die Freitreppen tatsächlich hinunter. Ich erreiche dort die Norwegerstraße und kann die junge Kirschenallee bewundern, die „japanische Bürger aus Freude über die Vereinigung unseres Volkes gepflanzt haben“, irgendwann werden die Bäumchen in sanftem Rosa blühen und so hoch wachsen, dass auch die Kolonisten auf der Weddinger Seite sie bewundern können.

„Unter den Zweigen der blühenden Kirschbäume ist keiner ein Fremder“, sagt der japanische Dichter. Die ruhige Norwegerstraße, die ich nun südwärts gehe, ist – einseitig bebaut – mit der natürlichen Begrünung des Bürgersteigs und der Doppelreihe kleiner Bäumchen an der östlichen Mauerbegrenzung zur Bahn typisches Berlin-Gelände: Ruhig und mittendrin, klein und groß.
Was für An- und Ausblicke gab es hier – sagen wir – im November ’89, als die Weltgeschichte mit Tamtam vorüberkam. Jetzt ist es wieder still. Aber es wird lauter werden. Die große Behmbrücke ist fast fertig, das letzte Stück nach PrenzlBerg fehlt noch. Solange geht es nur auf einer Fußgängerbrücke hinüber. Ein ganz einmaliger Großstadtstandort.
Ich verweile lange auf dieser Fußgängerbrücke, die sich nach Wedding steil absenkt: ein gutes Anlaufstück für kindliche Radfahrer, sie kommen herauf und holen Schwung fürs kreischende Hinab. Wedding beginnt mit einer Reihe stolzer Pappeln, die das von hier prächtig wirkende Schulgebäude an der Ellerbeker Straße und den kunstgrasgrünen Sportplatz umgrenzen.

Als ich den Schwung bewundere, mit dem die Straßenbrücke sich von Wedding aus geradezu auf die Höhe der Prenzlberger Augustinuskirche zu erheben scheint, die ihr goldenes Kreuz wie ein Ausrufezeichen in den Himmel streckt, kommt ein Polier auf mich zu und erzählt mir mit freundlicher Bereitwilligkeit, wie es mit der Brücke weitergehen wird, die schweren Elemente, die noch fehlen, kommen nächste Woche aus Bayern, den Sprayern haben sie ein Schnippchen geschlagen, wegen Anti-Spray-Behandlung werden die Spraywerke abgehen wie Wasserfarbe. Es ist eine Senatsbaustelle.
„Der Senat sitzt dahinten in der Bude“, sagt der Arbeiter, der Senatsbaustellenleiter wird mir bestimmt gerne Auskunft geben. „Nee“, sagt der vietnamesische Kollege, „nix Senat, Senat Feierabend“.
Auf dem Sportplatz trainieren drei Weddinger Jungen mit beeindruckender Energie eine bestimmte Torschussszene, Flanke von links und direkter Torschuss, zu dem sich der Stürmer schräg in die Luft legen muss, die meisten Schüsse gehen noch daneben, aber lange dauert’s nicht mehr, dann kann Mehmet es.

Die Schulgebäude für Haupt- und Grundschule rechts erheben ihre nachklassizistischen Fassaden aus einem Kleingartengelände, das um Mönkeberger, Ellerbeker und Sonderburger Straße einen sehenswerten Stadtteil für sich bildet. Die Kolonie heißt Sandkrug 1925. Sie hat also schon eine spannende Geschichte hinter sich. Sie hat in der ersten deutschen Republik begonnen, als es eine Zeitlang schien, die Menschen die hier im Wedding, in PrenzlBerg, im steinernen Berlin in dramatischer Bedürftigkeit wohnten, die Opfer der Weltmachtstellung des Reiches, könnten Einfluss gewonnen haben auf den Staat. Da bekamen sie Gärten mittendrin.
„Sind Sie Lehrer“, fragt mich Herr Schmidt, der seine Hecke schneidet. Die Hecken sind hier überall aufs Genaueste geschnitten. „Hunde sind an der kurzen Leine zu führen,“
„Nee, bin ich nicht, ich geh hier nur so rum.“
„Ich hab nämlich ne Siegerurkunde gefunden. Die hat einer weggeschmissen. Oder sie ham sie ihm geklaut und hier über die Hecken gefeuert. Was mach ich jetzt damit?“
Bis zur Nr. 323, bis zu Hechts, folgt Kolonievilla auf Kolonievilla, man kann „Villa“ sagen, bis die Mönkeberger auf die Klever und Jülichstraße trifft und mit ihnen einen kleinen unbenannten Platz bildet, eine ganz stille Gegend, obwohl sie doch mittendrin liegt, von einer inneren Abgeschiedenheit, möchte ich sagen, inmitten städtischer Zentralität. Das Lokal gegenüber heißt Bunte Bühne.
Ich stehe unter einem großen Straßenahorn, während es heftig zu regnen beginnt und das dichte Grün von Sandkrug 25 immer grüner wird.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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