Von Gethsemane zu Himmelfahrt

Von Geth­se­mane zu Himmel­fahrt — das ist ein ganz ande­rer Titel als: Von Prenz­l­Berg nach Wedding. Mein heuti­ger Stadt­spa­zier­gang führt von der Geth­se­mane-Kirche in Prenz­l­berg zum Himmel­fahrt-Kirche in Wedding: Geth­se­mane — in der christ­li­chen Sagen­welt ist das der Ort, an dem der Gottes­sohn, Zimmer­mann von Beruf, verra­ten und von der Poli­zei verhaf­tet wurde, und Himmel­fahrt: das ist nach Folter und Straf­voll­stre­ckung der Ort der Erhö­hung, der Heim­kehr könnte man sagen: aber Heim­kehr an einen Ort, an dem man noch niemals war, zu einem Vater, bei dem keine Mutter ist, ist eigent­lich keine Heimk­lehr.
Wer sich vornimmt, von der G‑Kirche zur H‑Kirche zu wandern, der kommt nicht um die Geschichte herum, die zwischen Geth­se­mane und der Himmel­fahrt erzählt wird in dieser Tradi­tion von Geschich­ten­er­zäh­lun­gen, die lange fast iden­tisch war mit Europa und die jetzt hinter den Namen abbricht und vom Verges­sen einge­sam­melt wird. Ich will über die Grei­fen­ha­ge­ner Brücke zur G‑Kirche. Aber: Stra­ßen­ar­bei­ten, die Brücke ist unpas­sier­bar: das ist gerade der schönste Zugang zu dem Platz, auf dem die mäch­tige Kirche nun schon mehr als ein Jahr­hun­dert quer steht; umzäunt, alle Türen verschlos­sen, verket­tet, zwar mehr­mals wöchent­lich Frie­dens­ge­bet, aber meis­tens scheint die Kirche jetzt zu schla­fen, sie ist müde, sie ruht sich aus von ihrer Vergan­gen­heit, umge­ben von Fassa­den­fron­ten, die zu denein­drucks­volls­ten in Berlin gehö­ren, viele Fens­ter hinter denen ich wohnen wollte, kurze Wege zu mehre­ren Bars, Ristor­an­tes, Knei­pen, vor allem gegen­über der Thomas-Mann-Schule, die den Namen des Lübe­cker Patri­zi­er­soh­nes in einer Gegend hoch­hält, in der der Sprach­künst­ler wohl niemals war und wo immer Leute lebten, die in seinen Roma­nen nicht vorkom­men.

Ich blicke nach Westen, hinter der U‑Bahnbrücke bewe­gen sich zwei hohe hell­gelbe Kräne in der über­legt wirk­sa­men Ruhe, die im gegen­wär­ti­gen Berlin an so vielen Stel­len faszi­niert; auswen­dig zu lernen fürs spätere “Damals als über­all Kräne ihre langen Arme hin und her schwenk­ten”. Hier bauen sie einen “Kino­kom­plex” mit 10 Kino­sä­len, Gastro­no­mie, Läden, Büros, der uner­müd­li­che Film- und Kino-Unter­neh­mer Atze Brau­ner ist der Bauherr, eine Landes­bank aus der Provinz finan­ziert. Colos­seum heißt das Kino, eine Tradi­ti­ons­stätte des Licht­spiel­we­sens, 1924 entstan­den aus einer Wagen­halle, expres­sio­nis­tisch-klas­si­zis­ti­sche Raum­aus­stat­tung, ein eige­nen Licht­spiel­thea­ter­stil, origi­nell aus Eklek­ti­zis­mus, Logen, Orches­ter­gra­ben, 1.350 Plätze, seit 1930 mit moder­ner Fassade, dras­tisch verein­facht, keine Zitate mehr aus der Thea­ter­kul­tur, selbst­be­wuss­tes Kino, Kultur für alle, seit ’57 Defa-Urauf­füh­rungs­kino.
Ich stehe auf der gegen­über liegen­den Stra­ßen­seite mit vier ande­ren Kran-Zuschau­ern, neben dem Papier­ge­schäft, das auf Bild­chen viele knackige junge Männer ausstellt und auch Über­hö­hun­gen liefert, Klaus Mann zum Beispiel, neben dem “Berli­ner Bilder­zau­ber”, montags geschlos­sen; da bin ich schnell selbst Teil dieser typi­schen Berli­ner Mischung aus Vergan­gen­heit, Gegen­wart und Zukunfts­er­war­tung, verfal­lende und reno­vierte Fassa­den dicht an dicht, bunte Läden unten, Menschen, denen man die Mühen des Alltags ansieht, die unver­dros­sen ihre Versu­che machen, sorg­fäl­tig beob­ach­tend, was die ande­ren tun, immer neugie­rig auf die Zukunft, immer leicht melan­cho­lisch bei den Vergang­gen­heits­zi­ta­ten und ein biss­chen unge­nau in der Erin­ne­rung, die die unan­ge­neh­men Seiten der Stadt und des Landes gern vergisst. Drei Bauar­bei­ter kommen vorüber, der mit dem schi­cken Ohrring sagt: “Ick dürfte hier keen Unter­neh­mer sein, sonne wie ick, die würden sich bei mir umkie­ken, kannsde gloo­ben.”

Die Straße führt nun nörd­lich am Falk­platz vorüber. “Nie wieder SPD” ist an Nummer 2 ange­sprayt. Ein Stück­chen weiter haben Susann Albrecht und Jens Kummer ihre Gitar­ren-Meis­ter­werk­statt: “Feine Konzert- und Flamenco-Solis­ten-Instru­mente”. Moder­ni­sie­rung im Rahmen des Milieu­schut­zes wird für Nummer 60 ange­kün­digt. Auf den Erfin­der des Wortes Milieu­schutz bin ich nicht neidisch. Die ökolo­gi­sche Grün­an­lage gegen­über, die u.a. das Regen­was­ser aufbe­rei­tet, das auf die Max-Schme­ling-Halle gefal­len ist, wird als “kiez-nah” bezeich­net, sie dient in der büro­kra­ti­schen Fach­spra­che der Garten­ar­chi­tek­ten dem “beispiel­haf­ten Umgang mit Ober­flä­chen­was­ser”.
“Mauer­park”, ich protes­tiere gegen den Namen und die Einrich­tung und passiere durch den dunk­len Gleim­tun­nel nach Wedding hinüber, als ginge es unter der Geschichte hindurch. Die 50er‑, 60er-Jahre-Geschichte hat den Wedding verän­dert und dem Prenz­l­Berg unähn­li­cher gemacht, als er nach Geburt und Herkunft ist, Zwil­ling dem Zwil­ling, die Gleim­straße ist nun viel ruhi­ger als drüben, erst in der Brun­nen­straße wieder belebt, neben dem Zeit­geist­lich­kei­ten des Imitier­ar­chi­tek­ten Klei­hues Brun­nen­straße Ecke Guas­tav-Meyer-Allee, erst zum Humboldt­hain ihre wahre Größe zeigend, liegt die Himmel­fahrt­kir­che von Pfar­re­rin Diet­linde Stobbe, nicht zu verglei­chen mit Geth­se­mane, mehr eine Kirche für den sozia­len Wohnungs­bau, unter einem Dach mit der Diako­nie­sta­tion, “Mach mit, musi­zier und sing dich fit … Wir loben Gott, wir tref­fen uns oft, wir lernen Inter­es­san­tes dazu, wir sind gemein­sam viel unter­wegs, wir sind ein Team”.
Ich trinke einen Milch­kaf­fee in der Nähe, dann gehe ich den Weg in der umge­kehr­ten Rich­tung. Von Himmel­fahrt nach Geth­se­mane: was ist das für eine Geschichte?

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Jnas M. Schlat­ter (CC BY-SA 3.0)

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