Das Subjekt der Erinnerung

Woran erkennt man, wenn man vom S-Bahnsteig herunter steigt, durch die Bahnhofstraße geht, dass man in Köpenick ist? Je näher man Köpenick kommt, umso weniger Menschen trifft man. Unten, wenn man an der Friedrichshagener Straße vorüber ist und an dem schwarzwegig kleinen Park entlang geht, der auf den Parkplatz der Schule an der Lindenstraße führt, denkt man: Nun beginnt die Vorstadt.
Das Gebäude, das an dieser Stelle steht, scheint aus dem Übermut eines Riesenkindes entstanden, welches sich daran erfreut hat, den Lehrbaukasten der Baustile ganz unvorschriftsmäßig zu gebrauchen.
Das bin ich schon am Ende der Bahnhofstraße: Ecke Lindenstraße, Schule von Hugo Kinzer, 1909/10 gebaut, „malerischer Späthistorizismus“ steht im Buch, da wäre dann wohl Schinkel mit seinen Antik-Imitaten Frühhistorizismus. 1910,als diese Schule am Ende Köpenicks entstand, war das Deutschland schon tot, das sich so öffentlich darstellte, in all seiner historisierenden Protzerei ein lebender Leichnam.
Das Haus aus den Entwurfsplänen des örtlichen Stadtbaurates gehört zum Hauptmann-von-Köpenick-Köpenick, zu der Vorstadt, über die die Hauptstadt lachte, ohne zu bemerken, dass sie sich über sich selbst lustig machte. Heute heißt die Überschrift: Staatliche Schule für Sozialpädagogik, ein dickes Wort für die Ausbildungsstätte für Kindergärtner, meistens werden es Kindergärtnerinnen sein, die hier die Theoretisierungen beklagen werden von Vorgängen, die sie meist wohl der Praxis zurechnen. Der Parkplatz hinten auf schwarzem Boden ist bloß für die Angestellten. Ein „gewichtiger Standort“ sagt das Buch.
Für den, der vom Bahnhof herunter gewandert ist und nun hier steht, vielleicht kurz hinein geht durch das Portal aus Renaissance-Imitat, über dem die Nischen immer noch auf die Götter warten, die bisher nicht gekommen sind, scheint es eher ein Standort dazwischen, zwischen dem Bahnhofsviertel mit seinen versteckten antifaschistischen, also auch faschistischen Erinnerungen und der Altstadt, für die das alte mehr und mehr Hindernis ist für die Fort- und Hindurchbewegung.

Ich gehe von Hugo Kinzers Bauwerk zurück zu Hugo Kinzers Straße: Kinzerallee; sie begrenzt ein Areal, das ebenfalls in den Büchern steht, den Wohnblock des genossenschaftlichen Beamten-Wohnungs-Vereins von 1908 zwischen Bahnhofstraße, Annenallee, Hämmerlingstraße und Kinzerallee. 1925 erbaut, die Architekten hießen Willy Wagenknecht und Heinrich Peter Kaiser, zu den ganz großen Berliner Wohnungsbauern gehörten sie nicht, aber konnten und können sich sehen lassen.
Eine Anlage aus der „Hauszinssteuerepoche“, die 1924 mit dieser Grundsteuer begonnen hatte, die an verschiedenen beispielhaften Stellen in Berlin, auch in Köpenick und eben auch hier, denen Wohnungen schaffte, die man zuvor mit den Wohnungen wie mit Äxten erschlagen hatte und die man bald darauf im nächsten deutschen Weltkrieg mit Waffen erschlagen würde. In den Architekturbüchern sieht die Anlage sorgfältig, anständig aus, nicht aufregend, aber hinter ihren gedrungenen, fast gedrückten Ecktürmchen anständig.
In Wirklichkeit blättert der ockerfarbene Putz ab und entkleidet die Steine. „Wie alt sind wohl die Fensterläden?“, fragt Jagusch, der Fotograf. Er errechnet ein halbes Jahrhundert. So alt sind sie vielleicht nicht. Lange wird es auch nicht dauern, dann wird der restaurierte Beamtenverein das Geld für die Restauration seiner Häuser gefunden haben. Aber auch dann wird vielleicht kaum einer von den Vorübergehenden diese Baustücke als architektonische Besonderheiten bemerken, wenn er nicht gelesen hat, dass er sie als solche bemerken soll.

Wer nicht hingegangen ist, nur die Bücher gelesen und ihre Bilder betrachtet hat, der wird ganz andere Erinnerungen von der Bahnhofstraße bewahren und vielleicht gar keine.
Wer kommandiert die Erinnerung, wer weist der Geschichte ihre Inhalte zu? Ich gehe im Rücken der Bahnhofstraße zum Bahnhof zurück, durch die Hämmerlingstraße, bis zu der die Beamtenblocks sich herüber erstrecken, der Blick in die Höfe, an den karg geschmückten Fassaden vorbei, vermittelt eine Erinnerung an Kasernen. Auf der anderen Seite Schrebergärten. Ich habe eine politische Vorliebe für diese Gartenanlagen. Oft denke ich: In Ihrer Unübersichtlichkeit wird man sich vielleicht verstecken können, wenn es wieder notwendig wird in Deutschland, Fluchtwege zu finden. Straßen einerseits mit Wohnblocks, andererseits mit Kleingärten, erscheinen mir deshalb sehr großstädtisch und vermitteln mir ein merkwürdiges, wahrscheinlich unbegründetes Sicherheitsgefühl. Fast an der Friedenstraße steht ein italienisierendes, hochstöckiges Prachthaus, Nr. 99, in dem – wie das Schild sagt – Bruno Hämmerling gelebt hat, solange die Nachbarn ihn leben ließen. Der Namensgeber der Straße. Hingerichtet. Antifaschistischer Widerstandskämpfer. Woran bestand der Antifaschismus? Wird das Leben des Heldes erzählt und wird auch erzählt, worin sein Heldenmut bestand? Am Haus Nr. 99 hängt eine der Gedenktafeln, bei denen sich die meisten nichts mehr denken können. Wer ist der Chef der Erinnerungstexte? Was bezweckt er?
Als ich auf die Brücke, über der schwarzen Wuhle, stehenbleibe und mir Notizen mache, kommen unten die Enten geschwommen, die der Hunger mit Erwartungen täuscht, die ich nicht befriedigen kann.
Nachdem ich durch die angenehme weiß-moderne Neubausiedlung hindurch bin, die die Friedenstraße nach den 50er-Jahre-Häusern beschließt, geht es einen halb unzulässigen, regenglatten Weg hinunter zum schwarzen Fluss, unter der S-Bahnbrücke hindurch, dicht am Wasser und hinüber in das Köpenick der Gegenwart, das keine Baugeschichte aufnehmen wird, das aber angenehm warm und freundlich ist; die Mädchen und Frauen dort hinter den Fresstheken sind ebenfalls freundlich und einige vielleicht auch angenehm warm: Forum Köpenick, der umgekehrte, von außen nach innen gewendete Markt. „Das beste Einkaufszentrum in Berlin“, sagt Jagusch.
Woran erkennen wir, dass wir in Köpenick sind? Das müssen wir nicht erkennen, das wissen wir doch.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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