Mit diesem Spaziergang in Berlin endet die Serie mit den Texten von Diether Huhn. 250 Spaziergänge hat er publiziert, bis er im September 1999 im Alter von 64 Jahren starb. Sie alle wurden in den vergangenen fünf Jahren an dieser Stelle nochmal veröffentlicht.
Dieser letzte Spaziergang führte ihn über die Friedhöfe am Mehringdamm, wo er dann auch selbst beerdigt wurde.
Ach, die Jugend. Dieses “Ach” heißt: Manchmal sehnt man sich nach ihr zurück, manchmal freut man sich, dass man sie hinter sich hat. 1968 war ich Richter am Landgericht. Zur 500-Jahr-Feier des Kammergerichts schrieb ich in der Deutschen Richterzeitung in gehobenem Tone über “oppositionelle Richter”. Ich hatte für mich die Geschichten von ein paar Leuten entdeckt, von denen die meisten Kollegen nichts wussten. Oft arbeitete ich in der Amerika Gedenkbibliothek am Halleschen Tor. Wenn ich Pause machte, ging ich auf den Dreifaltigkeitsfriedhof am Mehringdamm. Die Friedhöfe am Halleschen Tor und auch die anderen der dort aneinander gefügten Friedhöfe gehören zu den schönsten Friedhöfen in Berlin; vielleicht überhaupt zu Berlins dichtesten Örtlichkeiten. Ich bin bis heute oft hier. Ich kann das Geschichtsgefühl nicht entfühlen, das das Gelände, umtost und verkehrsumbraust, bis heute versendet. Kann man durch geheimen Zauber die Vergangenheit, oder mindestens Teile davon nicht doch zurückholen? 50 Jahre ist der Stadtgerichtsrat Carl Twesten alt geworden; hier an der Mauer — schräg gegenüber von Mendelssohn Bartholdys ist er inmitten seiner Familie begraben. Das Relief in der Mitte zeigt seinen Vater, der Professor der Theologie war; Nachfolger Schleiermachers; Schleiermacher, der preußischste Theologe war Carl Twestens Pate. Heute, an diesem sonnigen Spätsommertag, bin ich um vieles älter als der Tote; ich stehe wieder hier; oder ich stehe noch hier, meine Lebensfreundin stützt mich, weil ich ein bisschen krankheitsschwach auf den Beinen bin.
Als ich aufhörte, Richter zu sein, hatte ich einen höheren richterlichen Rang erreicht, als ihn Carl Twesten, der nun auch jünger ist als ich, je erreicht hatte. Twesten war zu seiner Zeit einer der bekanntesten deutschen Politiker und Publizisten. Zwischen 1850 und 1870 war er vielleicht der bekannteste deutsche Politiker und Publizist. Das Vergessen hat ihn, den Vielbesprochenen, so vollkommen eingeholt wie uns, von denen von Anfang an niemand gesprochen hat. Weiter als bis hierher zu den Friedhöfen am Mehringdamm — bequem erreichbar mit der U6 — braucht eigentlich niemand zu gehen, der in Berlin ein Geschichtsbuch aufschlagen will, das nicht nach den Jahren zählt. Ich lerne hier immer mehr, kann immer mehr Gedichte auswendig hersagen und ergänze mir immer mehr abgeschlossene Leben zu vollständigen Geschichten. Gestern Abend habe ich meiner Lebensfreundin laut und mit mancher gerührten Pause die Rede vorgelesen, die Karl Dorn, ein glänzender Verteidiger aus dem Ende des 19. Jahrhunderts, zu Gunsten von Carl Twesten in einem jener politischen Strafprozesse gehalten hat, mit denen der preußische Staat oppositionelle preußische Richter bedrohte: “Das politische Leben, die Abstimmungen und Meinungen der Abgeordneten des Volkes unterliegen nicht der Beurteilung irgend einer Behörde. Unerschrockenheit ist die erste Pflicht des Volksvertreters, die Meinung, die er für die richtige hält, gleichviel ob sie andere für die richtige halten, diese Meinung muss er verteidigen, solange er sie verteidigen kann. Blicken Sie dagegen um sich in unserem Vaterlande, wohin Sie sehen, überall politische Prozesse! Sie sind die Frucht des leidenschaftlichen Hasses, der angeregt und angestiftet wird durch böse Geschäfte. Schrecken und Trauer werden in die Familien getragen. Der unschuldige Bürger wird fortgerissen von seinem häuslichen Herd, monatelang in Fesseln geschlagen und einer traurigen Untersuchungshaft unterworfen, um dann endlich, endlich seine Freiheit wieder zu erlangen. Niemand fühlt sich mehr sicher in seinem Hause, der Bürger zittert vor dem Bürger und fürchtet Verrat. Es ist die traurige Zeit der politischen Verfolgungen.”
Die Geschichte der politischen Opposition ist stets auch eine Geschichte politischer Prozesse gewesen. Man könnte die Geschichte der Opposition in Deutschland in spiegelbildlicher Verkehrung schreiben, indem man von den Prozessen gegen deutsche Oppositionelle berichtete. Auf den Präskriptionslisten stehen die glänzendsten Namen, solche, die aufgerufen werden dürfen als deutsche, wenn in Not- und Schuldzeiten Deutschlands ein Hinweis auf seine besseren Möglichkeiten ratsam und notwendig ist: So der Name Theodor Mommsens, der Name — wie gesagt — Carl Twestens, des populärsten Mannes im Lande, wie Lassalle sagte, des Vorsitzenden der Fortschrittspartei, später der National-Liberalen Partei, die, bei Opposition in den meisten außenpolitischen Fragen, die eigentliche Regierungspartei Bismarcks war: der “politische Arm” des Liberalismus; der Partei der Deutschen Bank; Werner von Siemens, Rathenau, Virchow, Forckenbeck, Unruh, Lasker, Delbrück gehörten ihr an.
Über die Zossener Brücke, unter Siemens’ Hochbahn hindurch, am Patentamt vorüber, einem mächtigen architektonischen Gruß des endenden 19. Jahrhunderts ans 20. (von Hermann Solfs und Franz Wichards), entlang an Erich Mendelsohns Haus der IG Metall von 1929/30, spazieren wir bis zu der Wohnanlage Ritterstraße Nord (von Ganz und Rolfes), die eine Wende, heißt es, in der Berliner Baupolitik der Nachkriegszeit markiert. Daneben liegt der erste Hochbau der Weimarer Republik, ironischerweise das Gebäude der ehemaligen Reichsschuldenverwaltung, gebaut von German Bestelmeyer, 1919–1924, von “monumentaler Schlichtheit”: dem Vornamen des Architekten entsprechend. Gegenüber breitet sich seit den 1880er Jahren der Waldeck-Park aus mit einem Marmorstandbild von 1889: Waldeck, wie er leibte und lebte: der oppositionellste aller oppositionellen Richter, Obertribunalsrat, 1870 gestorben, jeder zweite Berliner folgte — aber das wird eine journalistische Übertreibung sein — der Leiche von der Link- in die Liesenstraße. Und auch jenes Imperfekt ist falsch, unüblich, im 16. Jahrhundert zurückgeblieben.
Foto: Harvey Kneeslapper / CC BY-SA 4.0
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