Die weißen Schiffe liegen im weißen Eis. Vom S-Bahnhof Treptower Park sehe ich sie ruhen. „Ein gutes Neues!“ ruft der Wirt vom Ambiente am S-Bahn-Bogen, ich usurpiere den Gruß, der anderen zugedacht ist. Ich bin nicht wegen der Schiffe, sondern wegen der Platanen gekommen.
Die Platanen in der Puschkinallee haben Sommersonne gesammelt, um am solchen grauen Wintertagen einen Schein davon zurückzugeben. Ich gehe langsam durch die vierreihige Allee; auf der Spreeseite erhält sie Erinnerungen an Großbürgerlichkeit.
Ein freundlich aufklärendes Plakat des Bezirksamts vor dem S-Bahnhof informiert über die Nachwendegeschichte des EAW Treptow. Die dort nicht erklärte Abkürzung schließt sich dem Wessi nun auf: „Elektroapparatewerk Treptow / Betriebskindergarten“ steht an der Eingangsvilla zur Puschkinallee gegenüber Bines Friseursalon.
Hinter dem Kindergarten erheben sich die „Treptowers“, der örtliche Höhepunkt der Baustelle, die sich im Rücken der Puschkinallee an der Spree entlang zieht bis zu Roland Ernsts „Bürozentrum Walter“ in der Eichenstraße. „Weine nicht um mich, Argentinien.“ Die Musik passt zu den Platanen. Sie kommt aus den Recordern der Bauarbeiter von Tekser-Bau, die hier vier Stadtvillen hochziehen.
Eine US-Amerikanerin italienischer Abstammung singt das Lied eines Engländers über eine Argentinierin für Arbeiter in Treptow in englischen Worten. Von der Internationalität der Alltagsmusik kann der Alltag viel lernen. Lasst uns leben wie wir hören: multikulturell, un-nationalistisch, international. Heißt „Villa“: draußen, vor den Toren, im Grünen? Und „Stadt“ heißt doch: drinnen, Front an Front, geschlossene Fassaden. Heißt dann „Stadtvilla“ Vereinbarung des Unvereinbaren? Die Villa Treibels, des Lackfabrikanten Fontanes, stelle ich mir hier vor (etwas weiter unten in der Wirklichkeit, die aber auch Imagination ist): die Lackfabrik im Rücken, Bewachung der Arbeiter aus dem Salon; Sicherheit kommt dadurch, dann man unmittelbar auf dem Geldsack sitzt; Lust an den Park- und Gartenanlagen erfasste die Kapitalisten erst später, anfangs blickten sie lieber auf Schlote und Förderbänder als auf Rosen und Asphodelen. Daneben das Park-Haus, das schönste Parkhaus von Berlin, weil es ein Parkhaus in Anführungszeichen ist, nicht für Autos, sondern für die leeren Stunden. Wer sich hier parkt, bekommt Kunst, Musik, Jazz. Ach, Jazz. Immer noch lässt mich schon der bloße Gattungsname erzittern. Musik der Jugend, meiner Jugend. Für Menschen, die noch Hitlerjugend-Lieder gehört hatten und schrill bepfiffene, staatliche Marschtrommeln, erschlossen sich Welten bunt-fröhlichen Friedens, als Benny Goodman spielte, Teddy Wilson, Lionell Hampton.
Das Türmchen-Eckhaus, an das sich auch ein Tekser-Bau anschließt, jetzt grau-blau in Planen verkleidet, wie ein Kunstwerk, das auf Enthüllung wartet, verführt mich, rechts in die Eichenstraße einzubiegen. Wie geht das zu, dass man das Ende der Platanen nach Eichen benennt? So sehr ich ein Freund der Platanen bin, so wenig mag ich die Eichen. Das ist nichts Persönliches gegen einzelne Eichen, aber es gibt ein Adjektiv, das Ideologen schnell mit diesen Bäumen verbinden, und staatliche Verwendung des Laubes gab es, die nun auf die an sich unschuldigen Bäume zurückfällt. In der Eichenstraße gibt es aber gar keine Eichen. Die Straße lohnt den Besuch, hinten neben der Bären-Backsteinplastik des Eingangs zum Lkw-Werk: arena, die Stätte der wörtlichsten Jugend-Bewegung, dicht am Büro-Neubau. Links der dunkelblaue Schlot des Heizkraftwerkes Treptow der Bewag, deren Hauptverwaltung sich gegenüber im vierschiffigen Klinkerneubau breit nach Süden hin darstellt, in hanseatischer Backstein-Beschaulichkeit aus den Musterbüchern der Après-Post-Moderne.
Schöne Bekenntnisse aus aller Emotionalität der arena-Stunden an den gegenüber liegenden Wänden: „I love Howie. Gez. Disel“, „Manuel Dombrowski ich liebe Dich bis zu meinem Tode. Wenn nicht noch länger“. Da bin ich schon auf dem Rückweg aus der Eichenstraße. Gegenüber liegt der Schlesische Busch. Der schlappe Leopold Treibel ritt hier vorbei auf seinem morgendlichen Weg in das Treptower Etablissement, wo ihm der Kellner auf mütterlichen Befehl statt des bestellten Sekts Milch servierte.
Am Rande des Stadtparks mit dem fontanischen Namen steht ein Grenzturm im nackten Beton. Steht er wirklich unter Denkmalschutz? Brauchen wir Rechtsandrohungen, um uns an die Grenze zu erinnern, die wir mitten durch unsere Stadt zugelassen haben?
Die Vergangenheit unseres Landes können wir nicht als alten „Trödel und Kitsch“ verkaufen wie die Dinge, für die sich hier zur Rechten der „1. Hallen-Trödel-Markt“ anbietet. Über die Freiarchen-Brücke geht’s über das Inselchen, das Landwehrkanal und Flutgraben „Vor dem Schlesischen Tor“ hier bilden: am Eingang nach Kreuzberg plötzlich eine Küstenatmosphäre; sogar eine Räucherei ist da („Am 18. Januar steht das Räucherteam wieder voll und ganz zu ihrer Verfügung“).
Der Straßenzug, der oben in Treptow unter dem Namen des russischen Dichters, den die Liebe das Leben kostete, so elegant begonnen hat, wandelt sich jetzt ins spätkapitalistisch Industrielle.
Es ist Ironie auf die Platanen oben, dass die Apotheke hier unten sich nach Palmen benennt. Denn nichts gibt es auf dem Weg zum Bahnhof Schlesisches Tor weniger als Palmen, um darunter zu wandeln.
Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)
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